Die französischen Niederlagen | Inhalt | Über den Krieg XVII

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 88-91.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XVI


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1737 vom 7. September 1870]

|88| Die Kapitulation von Sedan besiegelt das Schicksal der letzten französischen Feldarmee. Sie besiegelt gleichzeitig auch das Schicksal von Metz und von Bazaines Armee. Da nun Entsetzung nicht mehr in Frage kommt, wird sie sich ebenfalls ergeben müssen, vielleicht in dieser, sicherlich nicht später als in der nächsten Woche.

So bleibt das riesige verschanzte Lager von Paris als letzte Hoffnung Frankreichs. Die Befestigungen von Paris bilden den gewaltigsten Komplex militärtechnischer Anlagen, der jemals errichtet wurde; sie sind jedoch noch niemals auf die Probe gestellt worden. Infolgedessen sind die Meinungen über ihren Wert nicht nur geteilt, sondern widersprechen einander auch vollständig. Durch Prüfung der wirklichen Tatsachen werden wir eine sichere Grundlage gewinnen, von der aus wir unsere Schlüsse ziehen wollen.

Montalembert, ein französischer Kavallerieoffizier, aber auch ein Militäringenieur von ungewöhnlichem und vielleicht unerreichtem Genie, schlug in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als erster den Plan vor und arbeitete ihn aus, Festungen mit detachierten Forts in einer solchen Entfernung zu umgeben, daß diese vor Beschießung geschützt wären. Zuvor waren die Außenwerke - Zitadellen, Lünetten usw. - mehr oder weniger mit der Festungsmauer oder dem Festungswall verbunden und kaum jemals weiter von ihm entfernt als der Fuß des Glacis. Er schlug Forts vor, die groß und stark genug wären, auf sich gestellt eine Belagerung auszuhalten, und die, sechshundert bis zwölfhundert Yard und noch weiter von den Festungswällen der Stadt entfernt lägen. In Frankreich wurde die neue Theorie jahrelang mit Verachtung behandelt, während sie in Deutschland gelehrige Schüler fand, als nach 1815 die Rheinlinie befestigt werden sollte. Köln, Koblenz, Mainz und später Ulm, Rastatt und Germersheim wurden |89| mit detachierten Forts umgeben. Die Vorschläge Montalemberts wurden von Aster und anderen abgewandelt; und so entstand ein neues Befestigungssystem, das unter dem Namen Deutsche Schule bekannt ist. Nach und nach begannen die Franzosen den Nutzen detachierter Forts einzusehen. Als Paris befestigt wurde, war es auf einmal klar, daß es wertlos wäre, jene ungeheure Linie von Festungswällen rund um die Stadt zu bauen, ohne sie durch detachierte Forts zu schützen, weil andernfalls eine Bresche an einer einzigen Stelle den Fall der ganzen Festung nach sich ziehen würde.

Die moderne Kriegführung hat mehr als einmal den Wert befestigter Lager gezeigt, die aus einem Kreis detachierter Forts mit der Hauptfestung als Kern bestehen. Mantua war durch seine Lage ein befestigtes Lager, ebenso mehr oder weniger Danzig im Jahre 1807; beide waren die einzigen Festungen, die Napoleon I. je aufgehalten haben. Im Jahre 1813 war Danzig wieder durch seine detachierten Forts - zumeist Feldschanzen - in der Lage, längeren Widerstand zu leisten. Radetzkys ganzer Feldzug von 1849 in der Lombardei basierte auf dem befestigten Lager von Verona, dem Kern des berühmten Festungsvierecks. So hing auch der ganze Krimkrieg von dem Schicksal des befestigten Lagers von Sewastopol ab, das sich nur deshalb so lange hielt, weil die Verbündeten es nicht von allen Seiten einschließen und den Belagerten die Zufuhren und Verstärkungen nicht abschneiden konnten.

Die Belagerung von Sewastopol kommt für unseren Fall am meisten in Betracht, weil die Ausdehnung des befestigten Platzes größer war als in irgendeinem früheren Fall. Aber Paris ist noch viel größer als Sewastopol. Der Umkreis der Forts mißt ungefähr vierundzwanzig Meilen. Wird auch die Stärke des Platzes im selben Verhältnis größer sein?

Die Werke selbst sind Muster ihrer Art. Sie sind von höchstmöglicher Einfachheit, ein glatter Gürtel von Bastionen, ohne eine einzige Demilune vor den Zwischenwällen. Die Forts sind meistens bastionierte Vier- oder Fünfecke ohne Demilunes oder andere Außenwerke; hier und dort, um eine außerhalb liegende, hochgelegene Stelle zu decken, ein Horn oder Kronwerk. Sie sind nicht so sehr für eine passive als vielmehr für eine aktive Verteidigung gebaut. Man erwartet, daß die Garnison von Paris ins offene Feld kommt, um mit den Forts als Flankenstützpunkten durch ständige Ausfälle größeren Umfangs eine reguläre Belagerung von zwei oder drei Forts unmöglich zu machen. Während also die Forts die Garnison der Stadt vor einer allzu großen Annäherung des Feindes schützen, wird die Garnison die Forts vor Belagerungsbatterien schützen und unausgesetzt die Verschanzungen der Belagerer zerstören müssen. Wir wollen hinzufügen, daß |90| die Entfernung der Forts von den Festungswällen die Möglichkeit einer wirksamen Beschießung der Stadt ausschließt, ehe nicht wenigstens zwei oder drei Forts genommen sind. Wir wollen weiter hinzufügen, daß die Lage am Zusammenfluß von Seine und Marne, die beide einen stark gewundenen Lauf haben, mit einer mächtigen Hügelkette an der besonders gefährdeten nordöstlichen Front, große natürliche Vorteile bietet, von denen bei der Anlage der Verteidigungswerke der beste Gebrauch gemacht worden ist.

Wenn diese Bedingungen erfüllt und die zwei Millionen Menschen im Innern regulär ernährt werden können, dann ist Paris zweifelsohne eine äußerst starke Festung. Vorräte für die Einwohner zu schaffen, ist keine besonders schwierige Sache, sofern sie rechtzeitig in die Hand genommen und systematisch durchgeführt wird. Ob das in diesem Fall geschehen ist, ist sehr zweifelhaft. Was von der vorigen Regierung getan worden ist, sieht nach überstürzten und sogar gedankenlosen Maßnahmen aus. Die Ansammlung von Lebendvieh ohne Futter war völlig absurd: Es ist anzunehmen, daß die Deutschen - falls sie mit ihrer üblichen Entschlossenheit handeln - Paris für eine lange Belagerung nur schlecht versorgt vorfinden werden.

Aber wie steht es um die Hauptbedingung, um die aktive Verteidigung, nämlich um die Garnison, die zum Angriff auf den Feind vorgehen soll, anstatt hinter den Wällen zu hocken? Damit Paris die ganze Stärke seiner Befestigungen zeigen kann, damit es verhindert, daß der Feind aus seiner Schwäche, dem Fehlen schützender Außenwerke in den Hauptgräben, Nutzen zieht, muß bei seiner Verteidigung eine reguläre Armee mitwirken. Das war auch der Grundgedanke der Männer, die die Befestigungen entwarfen: Eine geschlagene französische Armee, deren Unfähigkeit, sich im Feld zu behaupten, einmal festgestellt war, sollte nach Paris zurückweichen und an der Verteidigung der Hauptstadt teilnehmen; entweder direkt als Garnison, die stark genug wäre, durch beständige Angriffe eine reguläre Belagerung oder auch nur eine vollständige Einschließung zu verhindern, oder indirekt dadurch, daß sie eine Verteidigungsstellung hinter der Loire einnähme, sich dort auf ihre volle Stärke ergänzte und sodann, sobald sich Gelegenheit dazu böte, die schwachen Stellen der Belagerer angriffe, die diese bei ihrer ungeheuren Einschließungslinie unvermeidlich würden bieten müssen.

Nun hat die ganze Führung des jetzigen Krieges durch die französischen Feldherren dazu beigetragen, Paris dieser einen Grundbedingung seiner Verteidigung zu berauben. Von der gesamten französischen Armee sind nur |91| die Truppen da, die in Paris zurückgeblieben waren, und das Korps des Generals Vinoy (das XII., ursprünglich das Korps Trochus), im ganzen vielleicht 50.000 Mann, fast durchweg, wenn nicht sämtlich, vierte Bataillone und Mobilgarden. Zu diesen mögen vielleicht noch weitere 20.000 oder 30.000 Mann vierte Bataillone und eine unbestimmte Zahl Mobilgardisten aus den Provinzen kommen, Neuausgehobene, die für das Feld gänzlich ungeeignet sind. Man hat bei Sedan gesehen, wie gering der Nutzen solcher Truppen in einer Schlacht ist. Sie werden ohne Zweifel zuverlässiger sein, wenn sie die Möglichkeit haben, sich auf Forts zurückzuziehen; und ein paar Wochen Ausbildung, Disziplin und Kampf werden sie sicherlich verbessern. Doch die aktive Verteidigung eines so großen Platzes wie Paris erfordert Bewegungen großer Massen im offenen Felde, regelrechte Schlachten in einer gewissen Entfernung von den schützenden Forts, Angriffe, um die Einschließungslinie zu durchbrechen oder ihre vollständige Schließung zu verhindern. Und für das alles, für Angriffe auf einen überlegenen Feind, wobei Schneid und Überrumpelung notwendig sind - was wiederum gut disziplinierte Truppen voraussetzt -, wird die gegenwärtige Garnison von Paris kaum verwendbar sein.

Wir vermuten, daß die vereinigte Dritte und Vierte Armee der Deutschen, gut 180.000 Mann stark, im Laufe der nächsten Woche vor Paris erscheinen, die Stadt mit fliegenden Kavallerieabteilungen umgeben, alle Eisenbahnverbindungen und damit jede Möglichkeit ausgedehnter Zufuhren zerstören und die regelrechte Einschließung vorbereiten wird, die mit der Ankunft der Ersten und Zweiten Armee nach dem Fall von Metz vollendet werden wird. Dabei bleiben reichlich Truppen übrig, die über die Loire geschickt werden können, das Land zu säubern und jeden Versuch zur Bildung einer neuen französischen Armee zu verhindern. Sollte sich Paris nicht ergeben, dann wird die reguläre Belagerung beginnen müssen, und beim Fehlen einer aktiven Verteidigung dürfte sie verhältnismäßig rasch fortschreiten. Dies wäre der normale Verlauf der Dinge, wenn nur militärische Erwägungen maßgebend wären. Aber jetzt ist eine solche Lage entstanden, daß militärische Erwägungen von politischen Ereignissen umgestoßen werden können, die vorauszusagen nicht hierher gehört.