Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1870

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 16, 6. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 501/502.

1. Korrektur.
Erstellt am .

Friedrich Engels

[Bemerkungen für das Vorwort zu einer Sammlung irischer Lieder]

Geschrieben um den 5. Juli 1870.
Nach der Handschrift.


|501| Von den irischen Volksmelodien sind einige uralt, andre in den letzten 300-400 Jahren entstanden, manche erst im vorigen Jahrhundert; besonders hat damals einer der letzten irischen Barden, Carolan, viele erfunden. Diese Barden oder Harfner - Dichter, Komponisten und Sänger in einer Person - waren früher zahlreich, jeder irische Häuptling hatte den seinigen auf seiner Burg. Viele zogen auch als fahrende Sänger im Lande umher, verfolgt von den Engländern, die in ihnen mit Recht Hauptträger der nationalen, antienglischen Tradition sahen. Die alten Lieder von den Siegen Finn Mac Cumhals (den Macpherson unter dem Namen Fingal in seinem ganz auf diesen irischen Liedern beruhenden "Ossian" den Irländern abstahl und in einen Schotten verwandelte), von der Herrlichkeit des alten Königspalasts Tara, von den Heldentaten König Brian Borumhas, die späteren Lieder von den Kämpfen irischer Häuptlinge gegen die Sassanach (Engländer) wurden von diesen Barden im lebendigen Gedächtnis der Nation erhalten; und die Taten gleichzeitiger irischer Häuptlinge, im Kampf um ihre Unabhängigkeit, wurden von ihnen ebenso im Liede gefeiert. Als aber im siebenzehnten Jahrhundert durch Elisabeth, Jakob den Ersten, Oliver Cromwell und Wilhelm den Holländer das irische Volk vollständig niedergetreten, seines Landbesitzes zugunsten englischer Eindringlinge beraubt, geächtet und in eine Nation der Parias verwandelt war, wurden die fahrenden Sänger ebenso gehetzt wie die katholischen Priester und starben gegen Anfang dieses Jahrhunderts allmählich aus. Ihre Namen sind verschollen, von ihren Poesien sind nur Fragmente übriggeblieben, das schönste Vermächtnis, das sie ihrem geknechteten, aber unbesiegten Volk hinterlassen haben, sind ihre Melodien.

Die Gedichte in irischer Sprache sind alle in vierzeiligen Strophen abgefaßt; es liegt daher den meisten, besonders den älteren Melodien immer, wenn auch oft etwas versteckt, dieser vierzeilige Rhythmus zugrunde, an |502| den sich häufig ein Refrain oder ein Nachspiel auf der Harfe anschließt. Manche dieser alten Melodien sind noch jetzt, wo die irische Sprache im größten Teil von Irland nur noch von alten Leuten oder gar nicht mehr verstanden wird, nur unter ihrem irischen Namen oder Anfangsworten bekannt. Der größere, jüngere Teil hat aber schon englische Namen oder Textesworte.

Die Schwermut, die in den meisten dieser Melodien herrscht, ist auch heute noch der Ausdruck der nationalen Stimmung. Wie könnte es anders sein bei einem Volk, dessen Herrscher immer neue, immer zeitgemäße Methoden der Unterdrückung erfinden? Die neueste, seit vierzig Jahren eingeführte, seit zwanzig Jahren auf die Spitze getriebne Methode besteht in massenhafter Vertreibung der Irländer von Haus und Hof, und das ist in Irland gleichbedeutend mit Vertreibung aus dem Lande. Seit 1841 hat die Bevölkerung des Landes um drittehalb Millionen abgenommen und sind über drei Millionen Irländer ausgewandert. Alles zum Vorteil und auf Betreiben der großen Grundbesitzer englischer Abkunft. Wenn das noch dreißig Jahre so fortgeht, so gibt es Irländer nur noch in Amerika.