Inhaltsverzeichnis Dokumente der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1870

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 16, 6. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 431-433.

1. Korrektur.
Erstellt am .

Karl Marx

Die Aussperrung der Bauarbeiter in Genf

Nach dem Flugblatt in deutscher Sprache.

|431| Der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation an die Arbeiter und Arbeiterinnen in Europa und den Vereinigten Staaten

Mitarbeiter!

Die Genfer Baumeister sind nach reiflicher Überlegung bei der Konklusion angelangt, daß "die unbeschränkte Freiheit der Arbeit" am besten geeignet ist, das Glück der arbeitenden Bevölkerung zu befördern. Ihren Arbeitern diese Segnung zu sichern, beschlossen sie am 11. Juni einen englischen Streich auszuführen, nämlich sämtliche Arbeiter, die bis dahin bei ihnen in Arbeit gestanden, auszusperren.

Da das Gewerksvereinswesen erst in neuerer Zeit in der Schweiz Wurzel faßte, so pflegten die Genfer Baumeister dasselbe mit der größten Entrüstung als eine englische Importation zu denunzieren. Vor zwei Jahren verhöhnten sie ihre Arbeiter wegen ihrem Mangel an Patriotismus, weil sie versuchten, ein so ausländisches Gewächs wie die Beschränkung der Arbeitszeit und die Fixierung des Arbeitslohnes auf den Schweizer Boden zu verpflanzen. Sie hegten nicht den geringsten Zweifel, daß schlaue Unheilstifter ihre Hand im Spiel haben mußten, da ihre eingeborenen Arbeiter aus eigenem Antrieb nichts natürlicher und angenehmer finden würden, als sich von 12-14 Stunden des Tags abzurackern, für was immer der Meister in seinem Herzen für gut finden möchte, als Bezahlung zu gewähren. Sie behaupteten öffentlich, daß die verblendeten Arbeiter nur nach Vorschriften von London und Paris handelten, etwa wie die Schweizer Diplomaten gewohnt sind, den Geheißen von St. Petersburg, Berlin und Paris Folge zu leisten. Indessen ließen sich die Arbeiter weder durch Schmeicheleien, Verhöhnungen oder Drohungen bereden, daß die Beschränkung der Arbeitszeit auf zehn Stunden den Tag und die Fixierung des Arbeitslohns |432| pro Stunde die Würde eines Schweizer Bürgers verletze, noch konnten sie durch Provokation in Freveltaten verwickelt werden, die den Baumeistern einen plausiblen Vorwand geliefert hätten, öffentliche Repressivmaßregeln gegen die Vereine durchzusetzen.

Endlich, im Mai 1868 brachte Herr Camperio, der damalige Minister der Justiz und der Polizei, eine Übereinkunft zustande, nach welcher die täglichen Arbeitsstunden auf 9 im Winter und 11 im Sommer beschränkt werden sollten, mit einer Abstufung des Arbeitslohns von 45-50 Centimes die Stunde. Jene Übereinkunft wurde im Beisein des Ministers von den Baumeistern und Arbeitern unterzeichnet. Im Frühling 1869 weigerten sich mehrere Baumeister, mehr für die 11 Stunden Arbeit des Sommers zu bezahlen, als sie für 9 Stunden Winterarbeit bezahlt hatten. Es kam abermals zu einem Vergleich: 45 Centimes die Stunde ward für alle Zweige {1} festgesetzt. Obgleich die Cipser und Anstreicher offenbar in diesen Verträgen einbegriffen waren, mußten sie unter Vor-1868er-Bedingungen fortarbeiten, weil sie nicht hinreichend organisiert waren, die neuen zu erzwingen.

Am 15. Mai d.J. beanspruchten sie, den anderen Geschäften vertragsgemäß gleichgestellt zu werden, und da ihnen das schlechthin abgeschlagen wurde, legten sie die folgende Woche die Arbeit nieder. Am 4. Juni beschlossen die Baumeister, "wenn die Cipser und Anstreicher nicht bis zum 9. Juni ohne Vorbehalt an ihre Arbeit zurückkehren, so werden am 11. Juni sämtliche Bauarbeiter ausgesperrt". Diese Drohung wurde pünktlich ausgeführt. Nicht zufrieden mit der Aussperrung der Arbeiter, verlangten die Baumeister durch öffentliche Plakate von der Bundesregierung die gewaltsame Auflösung der Internationalen Union {2} und die Vertreibung der Fremden aus der Schweiz. Ihr wohlwollender und wahrhaft liberaler Versuch, "die unbeschränkte Freiheit der Arbeit" wiederherzustellen, scheiterte an einer Massenversammlung und einem Protest der eingeborenen Nicht-Bauarbeiter.

Die nicht bei der Bauarbeit beteiligten Genfer Gewerkschaften haben einen Ausschuß ernannt, der die Angelegenheiten der Ausgesperrten verwaltet. Verschiedene, die mit den Baumeistern Kontrakte für Neubauten abgeschlossen hatten, hielten ihre Verbindlichkeit durch die Unterbrechung für beendigt und schlugen den Arbeitern vor, auf ihr Risiko fortzuarbeiten. Diese Vorschläge wurden ohne Bedenken angenommen. Die ledigen Leute reisen ab, so schnell sie können. Dennoch bleiben gegen 2.000 Familien |433| ihrer gewöhnlichen Existenzmittel beraubt. Der Generalrat fordert daher die Arbeiter und Arbeiterinnen der zivilisierten Welt auf, den Genfer Bauarbeitern sowohl durch moralische als materielle Mittel in ihrem Kampf gegen den kapitalistischen Despotismus Beistand zu leisten.

Im Auftrag des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation:

B. Lucraft, Vorsitzender
John Weston, Kassierer
J. George Eccarius, Generalsekretär
Hermann Jung, Sekretär für die Schweiz

256, High Holborn,
London, W. C., den 5. Juli 1870


Textvarianten

{1} Im englischen Text: Bauarbeiter <=

{2} Im französischen Text: Assoziation <=