Inhaltsverzeichnis Rezensionen des Ersten Bandes "Das Kapital" 1868

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 16, 6. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 207-209.

1. Korrektur.
Erstellt am .

Friedrich Engels

[Rezension
des Ersten Bandes "Das Kapital"
für die "Neue Badische Landeszeitung"]

Geschrieben in der ersten Januarhälfte 1868.


["Neue Badische Landeszeitung" Nr. 20 vom 2I. Januar 1868]

Karl Marx. Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie.
Erster Band. Hamburg, Meißner, 1867

|232| Wir müssen es andern überlassen, sich mit dem theoretischen und streng wissenschaftlichen Teil dieses Werkes zu befassen und die neue Anschauung, die der Verfasser von der Entstehung des Kapitals gibt, zu kritisieren. Wir können aber nicht umhin, darauf aufmerksam zu machen, daß derselbe uns hier gleichzeitig eine große Masse des schätzbarsten geschichtlichen und statistischen Materials bietet, welches fast ohne Ausnahme aus den offiziellen, dem englischen Parlament vorgelegten Kommissionsberichten geschöpft ist. Nicht mit Unrecht betont er die Wichtigkeit solcher Untersuchskommissionen zur Erforschung der innern sozialen Zustände eines Landes. Sie sind - wenn anders die richtigen Leute gefunden werden - das beste Mittel für ein Volk, sich selbst kennenzulernen; und Herr Marx mag wohl nicht unrecht haben, wenn er sagt, daß ähnliche Untersuchungen, in Deutschland angestellt, zu Resultaten führen würden, über die wir selbst erschrecken müßten. Wußte doch vor denselben kein Engländer, wie es unter der ärmeren Klasse seines Landes aussah!

Es versteht sich übrigens, daß ohne solche Untersuchungen alle Sozialgesetzgebung, wie man jetzt in Bayern sagt, mit halber Sachkenntnis und oft ganz im Dunkeln abgemacht werden wird. Die sog. "Erhebungen" und "Ermittlungen" deutscher Behörden haben nicht entfernt denselben Wert. Wir kennen die bürokratische Schablone zu gut: man schickt Formulare herum und ist froh, wenn sie irgendwie ausgefüllt zurückkommen, die Information, auf welche hin die Ausfüllung geschieht, wird nur zu oft gerade |233| bei denen gesucht, deren Interesse es ist, daß die Wahrheit vertuscht werde. Man halte dagegen die Untersuchungen englischer Kommissionen, z.B. über die Arbeitsverhältnisse in einzelnen Geschäftszweigen. Da werden nicht nur die Fabrikanten und Meister, sondern auch die Arbeiter bis zu den kleinen Mädchen herab, nicht nur diese, sondern auch Ärzte, Friedensrichter, Geistliche, Schullehrer und jeder überhaupt vernommen, der in irgendeiner Weise über den Gegenstand Auskunft geben kann. Da wird jede Frage und jede Antwort stenographiert und wörtlich abgedruckt und dem ganzen Material der darauf begründete Kommissionsbericht mit seinen Schlußfolgerungen und Anträgen beigegeben. Der Bericht und sein Material weist also gleichzeitig im einzelnen nach, ob und wie die Kommissäre ihre Pflicht erfüllt haben, und erschwert jede Parteilichkeit einzelner bedeutend. Das Nähere sowie eine unzählige Menge von Beispielen kann man im obigen Buche selbst nachlesen. Wir wollen hier nur den einen Punkt hervorheben, daß in England mit der Ausdehnung der Handels- und Gewerbefreiheit gleichen Schritt hält die Ausdehnung der gesetzlichen Beschränkung der Arbeitszeit für Kinder und Frauen und damit die Stellung fast aller Industrien unter die Aufsicht der Regierung. Herr Marx gibt uns eine ausführliche geschichtliche Darstellung dieser Entwicklung, wie zuerst die Spinnereien und Webereien seit 1833 in dieser Weise auf 12 Stunden tägliche Arbeitszeit beschränkt wurden; wie nach einem langen Kampf zwischen Fabrikanten und Arbeitern endlich die Arbeitszeit auf 101/2 Stunden - 61/2 Stunden für Kinder - festgesetzt und nun von 1850 an ein Industriezweig nach dem andern diesem Fabrikgesetz unterworfen wurde. Zuerst die Kattundruckereien (1845 schon), dann 1860 die Färbereien und Bleichereien, 1861 die Spitzen- und Strumpfwarenfabriken, 1863 die Töpfereien, Tapetenfabriken usw. und endlich 1867 fast alle übrigen irgend bedeutenden Industriezweige. Von der Bedeutung dieses letzten Aktes von 1867 mag man sich eine Vorstellung machen, wenn man erfährt, daß derselbe die Arbeit von nicht minder als anderthalb Millionen Weibern und Kindern unter den Schutz und die Kontrolle des Gesetzes stellt. Wir haben diesen Punkt besonders hervorgehoben, weil es in dieser Beziehung bei uns in Deutschland im ganzer leider schlecht genug bestellt ist, und wir müssen es dem Verfasser Dank wissen, daß er ihn so ausführlich behandelt und zum ersten Mal dem deutschen Publikum zugänglich gemacht hat. Dieser Ansicht wird jeder Menschenfreund sein, was er auch von den theoretischen Sätzen des Herrn Marx halten mag.

Auf anderweitiges schätzbares Material aus der Geschichte der Industrie und des Ackerbaues einzugehen, erlaubt uns der Raum nicht, wir sind |234| aber der Ansicht, daß jeder, der sich für Nationalökonomie, Industrie, Arbeiterverhältnisse, Kulturgeschichte und Sozialgesetzgebung interessiert, welchen Standpunkt er auch einnehmen mag, dies Buch nicht ungelesen lassen darf.