Inhaltsverzeichnis Rezensionen des Ersten Bandes "Das Kapital" 1867

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 16, 6. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 210-213.

1. Korrektur.
Erstellt am .

Friedrich Engels

[Rezension
des Ersten Bandes "Das Kapital"
für die "Rheinische Zeitung"]

Geschrieben am 12. Oktober 1867.
Nach der Handschrift.


Karl Marx. Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie.
I. Band. Der Produktionsprozeß des Kapitals.
Hamburg, O. Meißner, 1867

|210| Das allgemeine Stimmrecht hat unsern bisherigen parlamentarischen Parteien eine neue, die sozialdemokratische, hinzugefügt. Bei den letzten Wahlen zum Norddeutschen Reichstag hat sie in den meisten großen Städten, in allen Fabrikbezirken ihre eignen Kandidaten aufgestellt und sechs oder acht Abgeordnete durchgesetzt. Verglichen mit den vorletzten Wahlen hat sie bedeutend größere Stärke entwickelt, und man darf daher annehmen, daß sie, vorderhand wenigstens noch, im Wachsen ist. Es wäre Torheit, wollte man die Existenz, die Tätigkeit und die Doktrinen einer solchen Partei noch länger mit vornehmem Stillschweigen behandeln in einem Lande, wo das allgemeine Stimmrecht die letzte Entscheidung in die Hände der zahlreichsten und ärmsten Klassen gelegt hat.

So sehr nun auch die sozialdemokratischen wenigen Parlamentler unter sich zerfallen und zerfahren sein mögen, so ist doch mit Sicherheit anzunehmen, daß alle Fraktionen dieser Partei das vorliegende Buch als ihre theoretische Bibel, als die Rüstkammer begrüßen werden, woraus sie ihre wesentlichsten Argumente schöpfen. Schon aus diesem Grunde verdient es besondre Aufmerksamkeit. Aber auch seinem eignen Inhalte nach ist es geeignet, Aufsehen zu erregen. Wenn Lassalles Hauptargumentation - und Lassalle war in der politischen Ökonomie nur ein Schüler von Marx - sich darauf beschränkte, das sogenannte Ricardosche Gesetz über den Arbeitslohn immer und immer zu wiederholen - so haben wir hier ein Werk vor uns, welches mit unleugbar seltner Gelehrsamkeit das ganze Verhältnis von Kapital und Arbeit in seinem Zusammenhange mit der ganzen ökonomischen Wissenschaft behandelt, welches sich zum letzten Endzweck setzt, "das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen", und dabei, nach offenbar aufrichtigen und mit unverkennbarer Sachkennt- |211| nis geführten Untersuchungen, zu dem Resultat kommt, daß die ganze "kapitalistische Produktionsweise" aufgehoben werden muß. Wir möchten aber ferner noch besonders darauf aufmerksam machen, daß, abgesehen von den Schlußfolgerungen des Werks, der Verfasser im Verlauf desselben eine ganze Reihe von Hauptpunkten der Ökonomie in einem ganz neuen Lichte darstellt und hier, in rein wissenschaftlichen Fragen, zu Resultaten kommt, welche von der bisherigen gangbaren Ökonomie sehr abweichen und welche die Schulökonomen ernstlich werden kritisieren und wissenschaftlich widerlegen müssen, wenn sie nicht ihre bisherige Doktrin scheitern sehen wollen. Im Interesse der Wissenschaft ist zu wünschen, daß sich die Polemik grade über diese Punkte in den Fachschriften recht bald entspinne.

Marx beginnt mit der Darstellung des Verhältnisses von Ware und Geld, woraus das Wesentlichste schon vor längerer Zeit in einer besondern Schrift veröffentlicht ward. Er geht dann zum Kapital über, und hier kommen wir alsbald zum springenden Punkt des ganzen Werks. Was ist Kapital? Geld, welches sich in Ware verwandelt, um sich aus der Ware in mehr Geld zurückzuverwandeln, als die ursprüngliche Summe betrug. Indem ich für 100 Taler Baumwolle kaufe und diese für 110 Taler verkaufe, bewähre ich meine 100 Taler als Kapital, sich selbst verwertenden Wert. Nun entsteht die Frage, woher kommen die 10 Taler, die ich bei diesem Prozeß verdiene, wie geht es zu, daß aus 100 Talern durch zweimaligen einfachen Austausch 110 Taler werden? Die Ökonomie setzt nämlich voraus, daß bei allen Austauschen gleicher Wert gegen gleichen Wert ausgetauscht wird. Marx geht nun alle möglichen Fälle durch (Preisschwankungen der Waren usw.), um zu beweisen, daß unter den von der Ökonomie gegebenen Voraussetzungen die Bildung von 10 Talern Mehrwert aus 100 ursprünglichen Talern unmöglich ist. Dennoch findet dieser Prozeß täglich statt, und die Ökonomen sind uns die Erklärung dafür schuldig geblieben. Diese Erklärung gibt Marx wie folgt: Das Rätsel ist nur zu lösen, wenn wir eine Ware ganz eigner Art auf dem Markte finden, eine Ware, deren Gebrauchswert darin besteht, Tauschwert zu erzeugen. Diese Ware existiert - sie ist die Arbeitskraft. Der Kapitalist kauft die Arbeitskraft auf dem Markt und läßt sie für sich arbeiten, um ihr Produkt wieder zu verkaufen. Wir haben also vor allen Dingen die Arbeitskraft zu untersuchen.

Was ist der Wert der Arbeitskraft? Nach dem bekannten Gesetz: der Wert derjenigen Lebensmittel, welche notwendig sind, den Arbeiter in der in einem gegebenen Lande und einer gegebnen Epoche historisch festgestellten Weise zu erhalten und fortzupflanzen. Wir nehmen an, der Arbeiter bekommt seine Arbeitskraft zu ihrem vollen Wert bezahlt. Wir nehmen |212| ferner an, dieser Wert repräsentiere sich in einer Arbeit von sechs Stunden täglich oder einem halben Arbeitstage. Der Kapitalist aber behauptet, die Arbeitskraft für einen ganzen Arbeitstag gekauft zu haben, und läßt den Arbeiter 12 oder mehr Stunden arbeiten. Er hat also bei zwölfstündiger Arbeit das Produkt von sechs Arbeitsstunden erworben, ohne es bezahlt zu haben. Daraus folgert Marx: Aller Mehrwert - wie er sich auch verteile, als Gewinn des Kapitalisten, Grundrente, Steuer etc. - ist unbezahlte Arbeit.

Aus dem Interesse des Fabrikanten, möglichst viel unbezahlte Arbeit an jedem Tage herauszuschlagen und aus dem entgegengesetzten Interesse des Arbeiters entsteht der Kampf um die Länge des Arbeitstags. In einer sehr lesenswerten Illustration, die ungefähr hundert Seiten füllt, schildert Marx den Hergang dieses Kampfs in der englischen großen Industrie, welcher trotz des Protestes der freihändlerischen Fabrikanten im letzten Frühjahr damit geendigt hat, daß nicht nur alle Fabrikindustrie, sondern auch aller Kleinbetrieb und selbst alle häusliche Industrie unter die Schranken des Fabrikgesetzes gestellt worden ist, wonach die tägliche Arbeitszeit von Frauen und Kindern unter 18 Jahren - und damit indirekt auch die der Männer - in den bedeutendsten Industriezweigen auf höchstens 101/2 Stunden festgesetzt ist. Er erklärt auch zugleich, warum die englische Industrie hierdurch nicht gelitten, sondern im Gegenteil gewonnen hat: indem die Arbeit jedes einzelnen an Intensität mehr gewann, als sie an Zeitdauer verkürzt wurde.

Der Mehrwert kann aber auch noch auf eine andre Weise erhöht werden als durch die Verlängerung der Arbeitszeit über die zur Erzeugung der notwendigen Lebensmittel oder ihres Werts erforderliche Zeit hinaus. In einem gegebnen Arbeitstage, sagen wir von 12 Stunden, stecken nach vorheriger Annahme 6 Stunden notwendiger und 6 Stunden zur Produktion von Mehrwert verwandter Arbeit. Gelingt es nun, durch irgendein Mittel die notwendige Arbeitszeit auf 5 Stunden herabzudrücken, so bleiben 7 Stunden, während deren Mehrwert produziert wird. Dies kann erreicht werden durch Verkürzung der für die Produktion der notwendigen Lebensmittel erforderlichen Arbeitszeit, mit andern Worten, durch Verwohlfeilerung der Lebensmittel, und dies wieder nur durch Verbesserungen in der Produktion. Marx gibt bei diesem Punkte wieder eine ausführliche Illustration, indem er die drei Haupthebel untersucht resp. schildert, wodurch diese Verbesserungen zustande gebracht werden: 1. die Kooperation, oder die Vervielfachung der Kräfte, welche aus dem gleichzeitigen und planmäßigen Zusammenwirken vieler entsteht, 2. die Teilung der Arbeit, wie sie in der Periode der eigentlichen Manufaktur (also bis etwa 1770) zur |213| Ausbildung kam, endlich 3. die Maschinerie, mit deren Hilfe seit jener Zeit die große Industrie sich entwickelte. Auch diese Schilderungen sind von großem Interesse und zeigen eine erstaunliche Sachkenntnis bis ins technologische Detail hinein ... |Hier schließt die Seite der Handschrift ab; die folgende Seite, auf der offenbar Mehrwert und Arbeitslohn analysiert wurden, fehlt.|

Wir können nicht auf die weiteren Einzelheiten der Untersuchungen über Mehrwert und Arbeitslohn eingehen, wir bemerken nur zur Vermeidung von Mißverständnissen, daß, wie Marx durch eine Menge von Zitaten beweist, auch der Schulökonomie die Tatsache nicht fremd ist, daß der Arbeitslohn geringer ist als das ganze Produkt der Arbeit. Es ist zu hoffen, daß dies Buch den Herren von der Schule Gelegenheit bieten wird, uns über diesen allerdings befremdlichen Punkt nähere Aufklärung zu geben. Sehr zu rühmen ist, daß alle tatsächlichen Belege, die Marx anführt, aus den besten Quellen, meist offiziellen Parlamentsberichten, genommen sind. Bei dieser Gelegenheit unterstützen wir den in der Vorrede indirekt gemachten Antrag des Verfassers: auch in Deutschland durch Regierungskommissäre - die aber keine voreingenommenen Bürokraten sein dürfen - die Arbeiterverhältnisse in den verschiednen Industrien gründlich untersuchen zu lassen und die Berichte dem Reichstag und dem Publikum vorzulegen.

Der erste Band schließt mit der Abhandlung der Akkumulation des Kapitals. Über diesen Punkt ist schon öfter geschrieben worden, obwohl wir gestehen müssen, daß auch hier manches Neue gegeben und das Alte von neuen Seiten beleuchtet wird. Das eigentümlichste ist der versuchte Nachweis, daß neben der Konzentration und Akkumulation des Kapitals und Schritt haltend mit ihr die Akkumulation einer überzähligen Arbeiterbevölkerung vor sich geht und daß beide zuletzt eine soziale Umwälzung einerseits notwendig, andrerseits möglich machen.

Was der Leser auch von den sozialistischen Ansichten des Verfassers halten mag, so glauben wir ihm doch im Vorstehenden gezeigt zu haben, daß er es hier mit einer Schrift zu tun hat, welche hoch über der landläufigen sozialdemokratischen Tagesliteratur steht. Wir fügen hinzu, daß, die etwas stark dialektischen Sachen auf den ersten 40 Seiten ausgenommen, das Buch trotz aller wissenschaftlichen Strenge dennoch sehr leicht faßlich und durch die sarkastische, nach keiner Seite hin schonende Schreibart des Verfassers selbst interessant abgefaßt ist.