Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 551-553.
1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.
Geschrieben am 7. Oktober 1862.
["Die Presse" Nr. 281 vom 12. Oktober 1862]
|551| Der kurze Feldzug in Maryland hat das Schicksal des Amerikanischen Bürgerkrieges entschieden, wie immer für kürzere oder längere Zeit das Kriegsglück zwischen den streitenden Parteien noch schwanken möge. Es wurde früher in diesen Blättern entwickelt, daß der Kampf um den Besitz der Grenzsklavenstaaten der Kampf um die Herrschaft über die Union ist, und die Konföderation ist in diesem Kampfe, den sie unter günstigsten, nie wiederkehrenden Umständen aufnahm, unterlegen.
Maryland galt mit Recht als der Kopf, Kentucky als der Arm der Sklavenhalterpartei in den Grenzstaaten. Marylands Hauptstadt, Baltimore, wurde bis jetzt nur durch Standrecht "loyal" erhalten. Es war ein Dogma, nicht nur des Südens, sondern des Nordens, daß die Erscheinung der Konföderierten in Maryland das Signal einer Volkserhebung en masse geben werden gegen "die Satelliten Lincolns". Es galt hier nicht nur einen militärischen Erfolg, sondern eine moralische Demonstration, die die südlichen Elemente in allen Grenzstaaten elektrisieren und gewaltsam in ihren Wirbel fortziehen sollte.
Mit Maryland fiel Washington, war Philadelphia bedroht und New York nicht mehr sicher. Der gleichzeitige Einfall in Kentucky, durch Bevölkerung, Lage und ökonomische Hilfsmittel der wichtigste der Grenzstaaten, war, isoliert betrachtet, eine bloße Diversion. Gestützt auf entscheidende Erfolge in Maryland, erdrückte er die Unionspartei in Tennessee, überflügelte Missouri, sicherte Arkansas und Texas, bedrohte New Orleans, und, vor allem, verlegte den Krieg nach Ohio, dem Zentralstaate des Nordens, dessen Besitz ganz so den Norden unterwirft, wie der Besitz Georgias den Süden. Eine konföderierte Armee in Ohio schnitt den Westen der nördlichen Staaten vom Osten ab und bekämpfte den Gegner von |552| seinem eigenen Zentrum aus. Nach dem Fiasko der rebellischen Hauptarmee in Maryland schrumpft der Kentucky-Einfall, der, mit wenig Energie vorangestoßen, nirgendwo auf volkstümliche Sympathie stieß, zu einem unbedeutenden Guerillazug herab. Selbst die Einnahme Louisvilles würde jetzt nur "die Riesen des Westens", die Scharen von Iowa, Illinois, Indiana und Ohio zu einer ähnlichen "Lawine" vereinigen, wie sie während des ersten glorreichen Kentucky-Feldzuges dem Süden auf das Haupt platzte.
So hat der Maryland-Feldzug bewiesen, daß den Wellen der Sezession die Schnellkraft mangelt, über den Potomac hinaus und an den Ohio hinanzuschlagen. Der Süden ist auf die Defensive beschränkt; aber nur in der Offensive lag die Möglichkeit seines Erfolges. Der Grenzstaaten beraubt, eingekeilt zwischen dem Mississippi im Westen und dem Atlantischen Ozean im Osten, hat er sich nichts erobert, außer einer - Grabstätte.
Man muß keinen Augenblick vergessen, daß die Südlichen die Grenzstaaten besaßen, politisch beherrschten, als sie die Fahne der Rebellion aufpflanzten. Was sie verlangten, waren die Territorien. Sie haben mit den Territorien die Grenzstaaten verloren.
Und dennoch wurde der Einfall in Maryland unter den möglichst günstigen Konjunkturen gewagt. Eine schmähliche Reihe unerhörter Niederlagen auf seiten des Nordens; die föderalistische Armee demoralisiert; "Stonewall" Jackson der Held des Tages; Lincoln und seine Regierung Kindergespötte; die Demokratische Partei im Norden von neuem erstarkt und eine Prasidentschaft "Jefferson Davis" bereits eskomptierend; Frankreich und England auf dem Sprung, die innerlich anerkannte Legitimität der Sklavenhalter laut zu proklamieren! "E pur si muove." |"Und sie bewegt sich doch."| Die Vernunft siegt dennoch in der Weltgeschichte.
Wichtiger noch als der Maryland-Feldzug ist Lincolns Proklamation. Lincolns Figur ist "sui generis" |"von eigener Art"| in den Annalen der Geschichte. Keine Initiative, keine idealistische Schwungkraft, kein Kothurn, keine historische Draperie. Er tut das Bedeutendste immer in der möglichst unbedeutendsten Form. Andere, denen es sich um Quadratfüße Land handelt, proklamieren den "Kampf für eine Idee". Lincoln selbst, wo er für die Idee handelt, proklamiert ihre "Quadratfüße". Zögernd, widerstrebend, unwillig singt er die Bravour-Arie seiner Rolle, als ob er um Verzeihung bäte, daß die Umstände ihn nötigen, "Löwe zu sein". Die furchtbarsten, geschichtlich ewig merkwürdigen Dekrete, die er dem Feind entgegenschleudert, sehen alle aus und bestreben sich auszusehen wie alltägliche Ladungen, die |553| ein Anwalt dem Anwalt der Gegenpartei zustellt, Rechtsschikanen, engherzig verklausulierte actiones juris |Klagerechte|. Denselben Charakter trägt seine jüngste Proklamation, das bedeutendste Aktenstück der amerikanischen Geschichte seit Begründung der Union, die Zerreißung der alten amerikanischen Verfassung, sein Manifest für die Abschaffung der Sklaverei.
Nichts leichter als das ästhetisch Widerliche, logisch Unzulängliche, formell Burleske und politisch Widerspruchsvolle an Lincolns Haupt- und Staatsaktionen nachzuweisen, wie es die englischen Pindars der Sklaverei tun, die "Times", die "Saturday Review" und tutti quanti |die übrigen|. Und dennoch wird Lincoln in der Geschichte der Vereinigten Staaten und der Menschheit unmittelbar Platz nehmen nach Washington! Ist es denn heutzutage, wo das Unbedeutende diesseits des Atlantischen Ozeans sich melodramatisch aufspreizt, so ganz ohne Bedeutung, daß in der neuen Welt das Bedeutende im Alltagsrocke einherschreitet?
Lincoln ist nicht die Ausgeburt einer Volksrevolution. Das gewöhnliche Spiel des allgemeinen Stimmrechts, unbewußt der großen Geschicke, über die es zu entscheiden, warf ihn an die Spitze, einen Plebejer, der sich vom Steinklopfer bis zum Senator in Illinois hinaufgearbeitet, ohne intellektuellen Glanz, ohne besondere Größe des Charakters, ohne ausnahmsweise Bedeutung - eine Durchschnittsnatur von gutem Willen. Niemals hat die neue Welt einen größeren Sieg errungen als in dem Beweis, daß mit ihrer politischen und sozialen Organisation Durchschnittsnaturen von gutem Willen hinreichen, um das zu tun, wozu es in der alten Welt der Heroen bedürfen würde!
Hegel hat schon bemerkt, daß in der Tat die Komödie über der Tragödie steht, der Humor der Vernunft über ihrem Pathos. Wenn Lincoln nicht den Pathos der geschichtlichen Aktion besitzt, besitzt er als volkstümliche Durchschnittsfigur ihren Humor. In welchem Augenblicke erläßt er die Proklamation, daß vom 1. Januar 1863 die Sklaverei in der Konföderation abgeschafft ist? In demselben Augenblicke, worin die Konföderation als selbständiger Staat eine "Friedensunterhandlung" auf dem Kongreß von Richmond beschließt. In demselben Augenblicke, wo die Sklavenhalter der Grenzstaaten "the peculiar institution" ("die eigentümliche Institution") durch den Einfall der Südlichen in Kentucky ebenso verbürgt glaubten als ihre Herrschaft über ihren Landsmann, den Präsidenten Abraham Lincoln zu Washington.