Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 544-547.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Die Arbeiternot in England

Geschrieben um den 20. September 1862.


["Die Presse" Nr. 266 vom 27. September 1862]

|544| Seit zwei Monaten geht in der hiesigen Presse eine Polemik vor sich, deren Akten dem künftigen Geschichtsschreiber der englischen Gesellschaft ungleich mehr Interesse bieten dürften als sämtliche Kataloge der großen Ausstellung, illustrierte und nichtillustrierte.

Man erinnert sich, daß kurz vor Schluß des Parlaments in aller Eile, auf Antreiben der großen Industriellen, eine Bill durch beide Häuser gejagt wurde, welche die Armensteuer in den Munizipalitäten von Lancashire und Yorkshire erhöht. Diese Maßregel, an und für sich von sehr beschränkter Wirkung, trifft hauptsächlich die kleinen Mittelstände der Fabriksdistrikte, während sie die landlords (große Grundeigentümer) und cottonlords (Baumwoll-Lords) kaum anstreift. Während der Diskussion jener Bill ließ Palmerston harte Worte auf die cottonlords fallen, deren Arbeiter auf den Straßen verhungerten, während sie selbst durch spekulative Käufe und Verkäufe von Baumwolle Reichtum auf Reichtum türmten. Ihre "masterly inaction" (meisterhafte Untätigkeit) während der Krise erklärte er ebenso aus "spekulativen" Gründen. Schon bei Eröffnung der Session hatte Lord Derby erklärt, die Baumwollnot sei den Fabrikanten wie ein Deus ex machina erschienen, indem eine ungeheure Überschwemmung der Märkte die furchtbarste Krise herbeiführen mußte, hätte nicht plötzlich der Amerikanische Bürgerkrieg die Zufuhr des Rohstoffes abgeschnitten. Cobden, als Wortführer der Industriellen, antwortete mit einer dreitägigen Diatribe gegen Palmerstons auswärtige Politik.

Nach Vertagung des Parlaments spann sich der Kampf in der Presse fort. Aufrufe an das englische Publikum um Hilfe für die leidende Arbeiterbevölkerung und die stets wachsenden Dimensionen des Elends in den Fabriksdistrikten boten täglich neuen Anlaß zur Fortsetzung des Kampfes. |545| Der "Moming Star" und andere Organe der Industriellen erinnerten daran, daß Graf Derby und ein ganzer Schwarm Aristokraten ihre jährlichen Grundrenten zu 300.000 und mehr Pfund Sterling von Landbesitzungen in den Fabriksdistrikten der Industrie, an der sie sich nie beteiligt, allein verdankten, welche früher wertlosem Boden seinen jetzigen Preis angezaubert haben. Der "Morning Star" ging so weit, die wohltätigen Beiträge zu fixieren, wozu Derby und andere große Landlords verpflichtet seien. Er taxierte Derbys Beitrag z.B. auf 30.000 Pfd.St. Lord Derby berief in der Tat, kurz nach Vertagung des Parlaments, ein Meeting nach Manchester zur Zeichnung wohltätiger Beiträge. Er besteuerte sich selbst auf 1.000 Pfd.St., und die anderen großen Grundbesitzer zeichneten entsprechende Summen. Das Resultat war kein glänzendes, aber die Grundaristokratie hatte wenigstens etwas getan. Sie schlug sich auf die Brust mit einem: "Salvavi animam meam!" |"Ich habe meine Seele gerettet!"|

Die Großwürdenträger der Baumwollindustrie verharrten unterdes in ihrer "stoischen" Haltung. Sie sind nirgends zu finden, weder bei den Lokalkomitees, die sich für Milderung der Not bildeten, noch bei dem Londoner Komitee. "They are neither here nor there, but they are on the Liverpool market", sagt ein Londoner Blatt. (Sie sind weder hier noch dort, sondern auf dem Liverpooler Markt.) Die Tory-Journale und die "Times" donnern nun täglich gegen die Baumwolldespoten, die Millionen "aus dem Fleisch und Blut der Arbeiter" gesaugt, und sich jetzt weigern, auch nur Pfennige beizusteuern, um "die Quelle ihres Reichtums" zu erhalten. Die "Times" haben eigene Reporter in die Fabriksdistrikte geschickt, deren sehr detaillierte Schilderungen keineswegs geeignet sind, die "cottonlords" zu popularisieren. Dagegen klagen die industriellen Organe - "Morning Star", "Economist", "Manchester Guardian" usw. - die "Times" an, sie stachelten den Klassenkampf an, um die Schuld der Regierung, ihre Wirtschaft in Indien usw. zu vertuschen. Ja, die "Times" werden "kommunistischer Tendenzen" bezichtigt. Die "Times", offenbar hocherfreut über diese Gelegenheit zur Wiedereroberung ihrer Popularität, antworten mit beißendem Hohn: Während die "cottonlords" nach einer Seite sehr ökonomistisch verfahren, sofern sie nämlich die jetzige Baumwollnot spekulativ exploitierten, seien sie andererseits abgehärtete Kommunisten, und zwar "Kommunisten der widerlichsten Sorten". Diese reichen Herren verlangten, daß England die Taschen öffne, um ihnen, ohne irgendwelche Kosten für sie selbst, den kostbarsten Teil ihres Kapitals zu konservieren. Ihr Kapital bestehe |546| nämlich nicht nur aus Fabriken, Maschinerie und Guthaben beim Bankier, sondern noch vielmehr aus den wohldisziplinierten Arbeiterarmeen in Lancashire und Yorkshire. Und während die Herren ihre Fabriken schlössen, um das Rohmaterial zu 500 Prozent Profit zu verkaufen, verlangten sie, das englische Volk solle ihre entlassenen Armeen auf den Beinen halten!

Während dieses sonderbaren Zwistes zwischen Grundaristokratie und Fabriksaristokratie - wer von ihnen am meisten die Arbeiterklasse ausgesaugt, und wer von ihnen am wenigsten zur Abwehr der Arbeiternot zu tun verpflichtet sei - ereignen sich Dinge mit den Patienten selbst, von denen die kontinentalen Bewunderer der "great exhibition" keine Ahnung haben. Das Ereignis, das ich in den folgenden Zeilen darstelle, ist amtlich konstatiert.

In einer kleinen cottage zu Gauxholme, in der Nachbarschaft von Padmonden (West Riding von Yorkshire) lebte ein Vater mit zwei Töchtern; der Vater alt und gebrechlich, die Mädchen ihr Brot erntend als Arbeiterinnen in der Baumwollfabrik der Herren Halliwell. Sie bewohnten ein elendes Zimmer im Untergeschoß, wenige Fuß ab von einem schmutzigen Bach, und über ihrem Fenster bildete eine Treppe den Zugang für die Einwohner des obern Stockwerks, wodurch das Licht von der öden Behausung abgeschnitten ward. Während der besten Zeiten verdienten sie nur genug, um "Leib und Seele zusammenzuhalten"; aber in den letzten 15 Wochen versiegte ihnen die einzige Nahrungsquelle. Die Fabrik wurde geschlossen; die Familie hatte nicht länger die Mittel, eine Mahlzeit zu erwerben. Schritt für Schritt zog sie das Elend in seinen Abgrund. Jede Stunde brachte sie dem Grabe näher. Die kümmerlichen Ersparungen waren bald erschöpft. Die Reihe kam an das dürftige Mobiliar, an Kleider, Wäsche und was immerhin verkaufbar oder versetzbar war - um es in Brot zu verwandeln. Es ist gewiß, daß während der 14 Wochen, worin sie keinen farthing verdienten, sie nicht einmal die Hilfe der Pfarrei beansprucht haben.

Zur Erhöhung der Qual war der Alte seit einem Monat krank und unfähig, das Bett zu verlassen. Die Tragödie zwischen Ugolino und seinen Söhnen wiederholte sich ohne ihren Kannibalismus in der Hütte von Padmonden. In der letzten Verzweiflung, vor etwa acht Tagen (12.), machte sich endlich das stärkere der beiden Mädchen auf, ging zu dem Armenhauspfleger und erzählte ihm die kummervolle Märe. Dieser Herr, unglaublich wie es scheinen mag, antwortete, er könne nichts für die Familie tun bis nächsten Mittwoch. Fünf Tage länger sollten die drei armen |547| Dulder hinsterben, bis der mächtige Büttel sich endlich herablassen werde, Hilfe zu leisten. Die Familie harrte ab - sie konnte nicht anders. Als der anberaumte Mittwoch endlich kam, an dem offizielles Wohlwollen der vom Hunger geschlagenen Familie eine Brotkrume zuwerfen sollte, wurde die Dorfschaft aufgeschreckt durch das Gerücht, daß eine der Schwestern am Hungertod gestorben sei. Das schreckliche Gerücht war nur zu wahr. Ausgestreckt auf einer elenden Pritsche, mitten unter den Symbolen des scheußlichsten Elends, lag die Leiche des verhungerten Mädchens, während ihr Vater abgezehrt und hilflos auf seinem Bett schluchzte und die überlebende Schwester gerade noch genug Kraft besaß, die Geschichte ihrer Leiden zu erzählen. Aus Erfahrung wissen wir, wozu dieser entsetzliche Fall, durchaus kein Ausnahmsfall heutzutage, führen wird. Es wird eine Totenschau abgehalten werden. Der coroner (Totenbeschauer) wird sich weitläufig ergehen über den wohlwollenden Geist des englischen Armengesetzes, die Vorzüglichkeit der Maschinerie für seine Ausführung wieder als prima facie Beweis |Scheinbeweis| anführen, daß das Gesetz unmöglich für den traurigen Zufall verantwortlich sein kann. Der Armenhauspfleger wird sich weißwaschen, und wenn nicht warm bekomplimentiert vom Gerichtshof, wird er jedenfalls zur Beruhigung erfahren, daß nicht der kleinste Makel an ihm haftet. Die Jury endlich wird die feierliche Komödie krönen durch das Urteil: "Died by the visitation of God." (Gestorben infolge der Heimsuchung von Gott.)