Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 521-523.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Eine unterdrückte Debatte über Mexiko und die Allianz mit Frankreich


["Die Presse" Nr. 198 vom 20. Juli 1862]

|521| London, 16. Juli 1862

Eine der sonderbarsten englisch-parlamentarischen Erfindungen ist der count out (die Auszählung). Was ist der count out? Sind weniger als 40 Mitglieder im Unterhaus gegenwärtig, so bilden sie kein Quorum, d.h. keine beschlußfähige Versammlung. Wird von einem unabhängigen Parlamentler ein Antrag eingebracht, der beiden oligarchischen Fraktionen, den Ins und Outs (an der Regierung und in der Opposition Befindlichen), gleich lästig ist, so kommen sie überein, daß am Tag der Debatte Parlamentler von beiden Seiten nach und nach alle werden, alias sich wegdrücken. Hat die Räumung der Bänke das notwendige Maximum erreicht, so gibt der government whip (die Regierungspeitsche), d.h. der mit der Parteidisziplin von dem jedesmaligen Ministerium betraute Parlamentler einem vorher zu diesem Behuf auserkiesten Bruder einen Wink. Bruder Parlamentler erhebt sich und fordert den chairman (Präsidenten) ganz unbefangen auf, das Haus zählen zu lassen. Die Auszählung findet statt, und siehe da, es findet sich, daß weniger als 40 Mitglieder versammelt sind. Damit ist der Prozeß zu Ende. Der mißliebige Antrag ist beseitigt, ohne daß Regierungspartei und Oppositionspartei sich in der mißlichen und kompromittierenden Lage befänden, ihn niederstimmen zu müssen.

In der gestrigen Sitzung ward der "count out" in interessanter Weise aufgeführt. Lord R. Montagu hatte für diesen Tag einen Antrag angekündigt, der auf Mitteilung neuer diplomatischer Aktenstücke über die Intervention in Mexiko lautet. Er begann seine Rede mit folgenden Worten:

"Am vergangenen Samstag wurde das neueste Blaubuch über Mexiko dem Hause vorgelegt, das also in der Verfassung sein muß, die mexikanische Angelegenheit jetzt |522| zu debattieren. Ich weiß, daß die Regierungspartei und die Oppositionspartei übereingekommen sind, meinen Antrag durch einen count out zu beseitigen. Ich erwarte vom Pflichtgefühl des Hauses, daß es in einer so wichtigen Angelegenheit kein solches Manöver duldet."

Aber Lord R. Montagu hatte ohne den Wirt gerechnet. Nachdem er selbst gesprochen, Layard ihm im Namen der Regierung geantwortet, Fitzgerald einiges Offizielle im Namen der Tories geplaudert hatte, erhob sich Kinglake (liberales Mitglied). Der Eingang seiner Rede schloß mit folgenden Worten:

"Die ganze Reihe von Verhandlungen, enthüllt durch die vorgelegten Dokumente, bietet ein schlagendes Beispiel von der Art und Weise, in welcher die französische Regierung ihre Verbindungen mit diesem Lande als ein Mittel benützt, um den kaiserlichen Thron aufrechtzuerhalten.

Für die französische Regierung ist es von entscheidender Wichtigkeit, die Aufmerksamkeit des französischen Volkes dadurch von den inneren Angelegenheiten abzulenken, daß sie zeigt, wie sie in großen Unternehmungen im Auslande begriffen ist, und noch wichtiger ist es für die französische Regierung, zu zeigen, daß sie solche Dinge im Einverständnis mit einer der großen respektablen Mächte tut."

Kaum hatte Kinglake diese Worte gesprochen, als ein "ehrenwertes" Mitglied des Hauses den Antrag stellte, das Haus zu "zählen". Und siehe da! Das Haus war zusammengeschmolzen auf nur 33 Mitglieder. Lord Montagus Antrag war getötet durch denselben count out, gegen den er bei Eröffnung der Debatte protestiert hatte.

Außer Kinglakes unterbrochener Rede hatte nur die Lord Montagus ein sachliches Interesse. Lord R. Montagus Rede enthält folgende wichtige Auseinandersetzung des Tatbestandes:

"Sir Charles Wyke hatte einen Vertrag mit Mexiko geschlossen. Aus Servilität gegen Louis Bonaparte wurde dieser Vertrag nicht ratifiziert von Lord John Russell. Sir Ch. Wyke schloß den besagten Vertrag, nachdem Frankreich durch seine Verbindung mit Almonte, dem Chef der reaktionären Partei, einen Weg betreten, der die gemeinschaftliche Konvention zwischen England, Frankreich und Spanien aufhob. Lord John Russell selbst erklärt in einer offiziellen Depesche, daß jener Vertrag alle gerechten Forderungen Englands befriedigt. In seiner Korrespondenz mit Thouvenel jedoch versprach er, dem Wunsch Bonapartes gemäß, den Vertrag einstweilen nicht zu ratifizieren. Er erlaubte Thouvenel, diesen Entschluß dem Corps législatif mitzuteilen. Ja, Lord Russell erniedrigte sich so weit, dem Thouvenel zu versprechen, daß er alle Kommunikation mit Sir Ch. Wyke abbrechen wolle bis zum 1. Juli 1862 - eine Frist, die dem Thouvenel Zeit gebe, zu antworten. Thouvenel antwortete, Bonaparte bestreite nicht Englands Recht, isoliert zu handeln, mißbillige aber den von Sir |523| Ch. Wyke abgeschlossenen englisch-amerikanischen Vertrag. Daraufhin befahl Russell, dem Wyke die Ratifikation des Vertrags vorzuenthalten."

England, sagte Lord Montagu weiter, gibt seinen Einfluß her, um die betrügerischen Forderungen, die Morny "und vielleicht höher stehende Personen in Frankreich" auf die mexikanische Staatskasse durch die Vermittlung des Schweizer Börsenschwindlers Jecker sich verschafft haben, einzutreiben.

"Der ganze mexikanische Handel", fuhr er fort, "ward begonnen ohne Vorwissen des Parlaments. Der erste außerparlamentarische Krieg ward 1857 geführt. Palmerston entschuldigte dies damit, daß der Krieg in Asien geführt worden. Dasselbe Prinzip wird jetzt auf Amerika angewendet. Es wird schließlich auf Europa angewendet werden. Das parlamentarische Regime wird so zur bloßen Farce, indem die Volksvertretung mit der Kontrolle über Kriege die Kontrolle über den Geldbeutel verliert."

Lord Montagu schloß mit den Worten:

"Ich klage das Ministerium an, daß es uns mit dem Mörder der Freiheit in Frankreich alliiert hat, daß es jetzt diesen gewissenlosen Abenteurer befähigt, den Despotismus in einem fremden Land zu errichten. Es knüpft unser Schicksal an das eines Menschen, der den Abscheu der Menschen und die Rache des Himmels herausfordert."