Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 517-520.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Ein Skandal

Geschrieben Anfang Juli 1862.


["Die Presse" Nr. 189 vom 11. Juli 1862]

|517| London beschäftigt sich in diesem Augenblick mit einem jener charakteristischen Skandale, die nur in einem Lande möglich, wo alt-aristokratische Tradition mitten in die modernste bürgerliche Gesellschaft hineinwuchert. Das Corpus delicti ist ein Blaubuch des parlamentarischen Komitees, niedergesetzt zum Bericht über die Eindeichung der Themse und eine längs ihrem Ufer, innerhalb der Stadt, zu konstruierende Straße, die die Westminster-Brücke mit der Black-Friars-Brücke verbinden soll. Das sehr kostspielige Projekt schlägt verschiedene Fliegen mit einer Klappe - Verschönerung Londons, Reinigung der Themse, Schöpfung besserer Gesundheitsbedingungen, prächtige Promenade, endlich neuer Kommunikationsweg, der den Strand, Fleet Street und die anderen der Themse parallelen Straßen von ihrer täglich gefährlicher werdenden Überflutung mit Wagen etc. erlöse, eine Überflutung, die uns beinahe an die Satire Juvenals erinnert, worin der Römer sein Testament macht, bevor er ausgeht, weil er alle Wahrscheinlichkeit für sich hat, überfahren oder überworfen zu werden. An diesem Teil des Themse-Ufers nun, der solcher Metamorphose entgegengeht, auf dem nördlichen Ufer, östlich von der Westminster-Brücke und am Ende von Whitehall befinden sich die Stadtresidenzen einiger großen Aristokraten mit ihren Palästen und bis an die Themse reichenden Gärten. Diese Herren bewillkommnen natürlich das Projekt im ganzen und großen, weil es auf Staatskosten die unmittelbare Umgebung ihrer "mansions" |"Herrensitze"| verschönern und deren Wert erhöhen würde. Sie haben nur ein Bedenken.

Der projektierte Bau soll an den Stellen unterbrochen werden, wo er direkt die öffentliche Straße ihren eigenen Besitzungen entlang und sie so in Berührung mit der "misera contribuens plebs" |"armen sterzahlenden Bevölkerung"| bringen würde. Die |518| olympische Abgeschiedenheit der "fruges consumere nati" soll weder durch den Anblick, noch das Geräusch, noch den Odem der geschäftlichen Vulgärwelt getrübt werden. An der Spitze dieser edlen Sybariten befindet sich der Herzog von Buccleuch, der, als der reichste und mächtigste, am weitesten in seinen "bescheidenen" Forderungen ging. Und siehe da, das parlamentarische Komitee berichtet im Sinn des - Herzogs von Buccleuch! Die Neubauten sollen unterbrochen werden - wo sie den Herzog von Buccleuch genieren würden. In jenem Komitee des Unterhauses befindet sich Lord Robert Montagu, ein Verwandter des Herzogs, und Sir John Shelley, Mitglied für einen Teil von London, für Westminster. Er kann sich jetzt bereits nach Eisenbepanzerung umsehen, als Schutz gegen die für die nächste Wahl ihm bereits angekündigten Armstrong-Bomben von faulen Äpfeln und Schwefelwasserstoff entwickelnden Eiern.

Über den Komiteebericht selbst sagen die "Times":

"Dies Blaubuch ist ein Irrgarten. Es besteht aus 8 Zeilen Bericht. Der Rest ist gefüllt mit einem Chaos meist wertloser, parteiischer Zeugen- und Expertenaussagen. Es ist ohne Index, ohne Analyse, ohne Beweisführung. Wir wandern durch eine unendliche Waschweiberflut von Geschwätz, ohne auf Tatsachen zu stoßen, die wir prüfen, oder auf Schätzungen, denen wir vertrauen könnten. Wenn wir glauben, schließlich bei einer wirklichen Expertenaussage anzukommen, interveniert das Komitee plötzlich und weigert sich, irgendeine Aussage zu hören, die den Wünschen des Herzogs von Buccleuch genant wäre. Das Buch ist eine weitschichtige und schwerfällige suppressio veri |Unterschlagung der Wahrheit|. Es ist offenbar mit dem Zwecke kompiliert, jede sachgemäße Debatte im Parlament unmöglich zu machen. Zu diesem Behufe sind sogar die Planzeichnungen unterdrückt und sollen erst post festum - wahrscheinlich nach der Debatte - veröffentlicht werden."

Infolge dieses Skandals hat der Londoner zwei Fragen aufgeworfen. Erstens, wer ist dieser Herzog von Buccleuch, dieser Gewaltige, dessen Privatmarotten den Interessen von drei Millionen Menschen entgegentreten? Wer ist dieser Gigant, der einzeln ganz London zum Duell herausfordert? Man erinnert sich des Namens dieses Mannes aus keiner parlamentarischen Schlacht. Er sitzt im Oberhaus, nimmt aber so wenig Anteil an dessen Arbeiten wie ein Eunuch an den Freuden des Serails. Die Antworten, die er vor dem Komitee gab, deuten auf einen ganz anormalen Mangel von Phosphorstoff in der Gehirnmaterie. Also wer ist "that man Buccleuch"? wie der Londoner Cockney in seiner unzeremoniellen Manier sagt. Antwort: Ein Abkomme der Bastarde, die der "merry monarch" (der |519| Lustige Monarch) Karl II. mit Lucy Parsons, der schamlosesten und berüchtigtsten seiner Mätressen, der Welt schenkte. Das ist "that man Buccleuch!" Die zweite Frage, die der Londoner aufwarf, war: Wie kam dieser Herzog von Buccleuch in den Besitz seiner "mansion" an der Themse? Der Londoner erinnert sich nämlich, daß der Grund und Boden dieser "mansion" Krongut ist und noch vor acht Jahren von dem Königlichen Ministerium der Lands and Woods |Land- und Forstwirtschaft| verwaltet wurde.

Die Antwort auf diese zweite Frage ließ nicht auf sich warten. Die Presse nimmt hier in dergleichen Angelegenheiten kein Blatt vor den Mund. Zur Charakteristik nicht nur der Sache selbst, sondern der Manier, worin die englische Presse so delikate Materien behandelt, zitiere ich hier wörtlich aus "Reynolds's Newspaper" vom vorigen Samstag:

"Das Privilegium des Herzogs von Buccleuch, die Stadtverbesserungen Londons zu verhindern, ist keine sieben oder acht Jahre alt. Im Jahre 1854 wurde der Herzog Pächter von Montague House bei Whitehall, durch ein Manöver, das einen armen Mann wahrscheinlich auf die Verbrecherbank in Old Bailey gebracht hätte. Aber der Herz Herzog besitzt ein jährliches Einkommen von 300.000 Pfd.St. und hat außerdem das Verdienst, der Abkomme von Lucy Parsons zu sein, der schamlosen Buhlerin des Lustigen Monarchen. Montague House war Kroneigentum, und es war im Jahre 1854 genau bekannt, daß der Platz, wo es stand, für öffentliche Bauten erheischt sein werde. Deswegen verweigerte Herr Disraeli, damals Schatzkanzler, den für den Herzog aufgesetzten Pachtvertrag zu zeichnen. Nichtsdestoweniger, d'une maniere ou d'une autre |auf die eine oder andere Art|, wurde der Pachtvertrag gezeichnet. Herr Disraeli entrüstete sich darüber und denunzierte seinen Nachfolger Gladstone im Unterhause, er opfere das Interesse des Publikums dem Privatinteresse eines Herzogs. Herr Gladstone, in seiner gewohnten ironisch-öligen Manier, antwortete, es sei unrecht gewesen, jenen Vertrag zu unterzeichnen. Indes scheine es, daß doch Gründe für einen solchen Schritt vorhanden sein mußten. Eine parlamentarische Untersuchung folgte, und - welch ein Schrecken! - man machte die Entdeckung, daß der Unterzeichner des Vertrages kein anderer war als - Herr Disraeli selbst.

Aber hier kommt das oben angedeutete, nach der Verbrecherbande in Old Bailey riechende Manöver des edlen Nachkommen von Lucy Parsons! Herr Disraeli erklärte, er wisse absolut nichts von seiner Zeichnung des Vertrages. Er gab jedoch die Echtheit der Unterschrift zu. Niemand bezweifelt die Wahrhaftigkeit des Herrn Disraeli. Wo also die Lösung des Rätsels? Der edle Nachkomme von Lucy Parsons benützte ein Werkzeug oder einen Freund, um unter einer Unmasse routinemäßig zu unterschreibender Schriftstücke den Pachtvertrag wegen Montague House einzuschmuggeln. So zeichnete es Herr Disraeli ohne die geringste Ahnung von dem Inhalt des Schriftstückes! Und so erhielt der Nachkomme von Lucy Parsons die Macht, seine Marotten |520| der Wohlfahrt von 3 Millionen Londonern entgegenzusetzen. Das parlamentarische Komitee hat sich zum servilen Werkzeug seiner Arroganz gemacht. Hätten die Wohnungen von 1.000 Arbeitern, statt der erschlichenen mansion des einen Buccleuch, im Wege gestanden, sie wären sofort schonungslos rasiert und ihre Besitzer ohne einen Pfennig Entschädigung auf die Straße geworfen worden."