Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 508-510.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Englische Humanität und Amerika


["Die Presse" Nr. 168 vom 20. Juni 1862]

|508| London, 14. Juni 1862

Humanität ist jetzt in England, wie Freiheit in Frankreich, ein Exportartikel für die traders in politics |Geschäftemacher in Politik| geworden. Wir erinnern uns der Zeit, wo der Zar Nikolaus polnische Damen von Soldaten aushauen ließ, und wo Lord Palmerston die sittliche Entrüstung einiger Parlamentler über dies Ereignis "unpolitisch" fand. Wir erinnern uns, daß vor ungefähr einem Dezennium eine Revolte auf den Ionischen Inseln stattfand, die den dortigen englischen Gouverneur veranlaßte, eine nicht unbedeutende Zahl griechischer Weiber geißeln zu lassen. Probatum est |Es ist bewährt|, sagten Palmerston und seine damaligen Whig-Kollegen, die sich an der Regierung befanden. Noch vor wenigen Jahren wurde aus offiziellen Dokumenten dem Parlament bewiesen, daß die Steuereintreiber in Indien Zwangsmittel gegen die Weiber der ryots |indischen Bauern| anwendeten, deren Infamie verbietet, sie weiter zu detaillieren. Palmerston und Kollegen wagten zwar nicht, diese Scheußlichkeiten zu rechtfertigen, aber wie würden sie aufgeschrien haben, hätte eine fremde Regierung gewagt, öffentlich ihre Entrüstung über diese englischen Infamien zu proklamieren, und nicht undeutlich anzudeuten, sie werde einschreiten, falls Palmerston und Kollegen nicht sofort die indischen Steuerbeamten desavouierten. Aber Cato Censor selbst konnte nicht ängstlicher die Sitten der römischen Bürger überwachen, als die englischen Aristokraten und ihre Minister die "Humanität" der kriegführenden Yankees!

Die Ladies von New Orleans, gelbe Schönheiten, geschmacklos drapiert mit Juwelen, etwa vergleichbar den Weibern der alten Mexikaner, nur daß |509| sie ihre Sklaven nicht in natura aufessen, sind diesmal - früher waren es die Häfen von Charleston - die Anlässe britisch-aristokratischer Humanitätsentfaltung. Die englischen Weiber (es sind jedoch keine Ladies, auch besitzen sie keine Sklaven), die in Lancashire hungern, haben bisher keine parlamentarische Lippe bewegt; der Notschrei der irischen Weiber, die bei der fortschreitenden Zusammenwerfung der kleinen Pachten auf dem grünen Erin |Irland| halbnackt auf die Straße geworfen und ebenso von Haus und Hof gejagt werden, als ob die Tataren eingefallen, hat bisher ein einziges Echo von Lords, Commons und Her Majesty's Government hervorgerufen - Homilien über die absoluten Rechte des Grundeigentums. Aber die Ladies von New Orleans! Das ist freilich ein anderer Kasus. Diese Ladies waren viel zu aufgeklärt, um an dem Kriegsgetümmel teilzunehmen, gleich den Göttinnen des Olymps, oder sich in die Flammen zu stürzen, gleich den Weibern von Sagunt. Sie haben eine neue und gefahrlose Mode des Heroismus erfunden, eine Mode, wie sie nur von Sklavenhalterinnen erfunden werden konnte, und zwar nur von Sklavenhalterinnen in einem Lande, wo der freie Teil der Bevölkerung seines Berufs Krämer ist, Handelsmann in Baumwolle oder Zucker oder Tabak, nicht Sklaven hält, wie die Cives der antiken Welt. Nachdem ihre Männer fortgelaufen von New Orleans oder sich in ihre Hintergemächer verkrochen hatten, stürzten diese Ladies auf die Straßen, um den siegreichen Unionstruppen ins Gesicht zu speien, oder die Zungen gegen sie herauszustrecken, oder überhaupt wie Mephistopheles "eine unanständige Gebärde" zu machen, begleitet mit insultierenden Worten. Diese Megären glaubten "ungestraft" ungezogen sein zu dürfen.

Das war ihr Heroismus. General Butler erließ eine Proklamation, worin er ihnen anzeigt, daß sie wie Gassendirnen behandelt werden sollten, wenn sie fortführen, die Gassendirnen zu spielen. Butler ist zwar seines Zeugs Advokat, scheint aber das englische Statute law nicht gehörig studiert zu haben. Er hätte ihnen sonst, analog den unter Castlereagh über Irland verhängten Gesetzen, überhaupt verboten, die Straße zu betreten. Butlers Warnung an die "Ladies von New Orleans hat den Grafen Carnarvon, den Sir J. Walsh (der eine so lächerliche und gehässige Rolle in Irland spielte) und Herrn Gregory, der die Anerkennung der Konföderation schon vor einem Jahre verlangte, so sittlich entrüstet, daß der Graf im Oberhaus, der Ritter und der Mann "without a handle to his name" |"ohne Titel vor seinem Namen"| |510| im Unterhaus das Ministerium interpellierten, um zu erfahren, welche Schritte es im Namen der beleidigten "Humanität" zu tun gedenke. Russell und Palmerston züchtigten beide den Butler, erwarteten beide, daß die Regierung von Washington ihn desavouieren werde, und der so sehr zartfühlende Palmerston, der den coup d'état vom Dezember 1851 (bei welcher Gelegenheit "Ladies" sogar totgeschossen und andere von den Zuaven geschändet wurden) hinter dem Rücken der Königin und ohne Vorwissen seiner Kollegen aus bloß "humaner" Bewunderung anerkannte - derselbe zartfühlende Viscount erklärte Butlers Warnung für eine "Infamie". In der Tat, Ladies, und Ladies, die sogar Sklaven eignen - solche Ladies sollten nicht einmal ungestraft ihren Geifer und ihre Bosheit an gewöhnlichen Unionstruppen, Bauern, Handwerkern und anderm Grobzeug auslassen dürfen! Es ist "infam".

Niemand täuscht sich hier im Publikum über diese Humanitätsfarce. Es gilt, die Stimmung für die Intervention, zunächst von französischer Seite, teils hervorzurufen, teils zu befestigen. Die Humanitätsritter im Oberhause und Unterhause warfen auch wie auf Kommando nach den ersten melodramatischen Überschwellungen die gerührte Maske fort. Ihre Deklamation diente nur als Prolog zur Frage, ob der Kaiser der Franzosen wegen einer Mediation sich mit der englischen Regierung benommen, und ob letztere, wie sie hofften, solches Angebot günstig aufgenommen. Russell und Palmerston erklärten beide, nichts von dem Angebot zu wissen. Russell erklärte den jetzigen Augenblick jeder Mediation höchst ungünstig. Palmerston, vorsichtiger und rückhaltender, begnügte sich, zu sagen, daß die englische Regierung in diesem Augenblick keine Mediation bezwecke.

Der Plan ist, daß Frankreich während der Vertagung des englischen Parlaments seine Mittlerrolle spielt, und im Herbst, wenn Mexiko gesichert, seine Intervention eröffnet. Der Stillstand auf dem amerikanischen Kriegsschauplatz hat die Interventionsspekulanten in St. James und den Tuilerien wieder aus ihrem Marasmus aufgeweckt. Jener Stillstand selbst ist einem strategischen Fehler in der nordischen Kriegsführung geschuldet. Wäre die Kentucky-Armee nach ihren Siegen in Tennessee auf die Eisenbahnzentren in Georgia rasch vorgerückt, statt sich auf den Abweg südlich den Mississippi herunterlocken zu lassen, so wären Reuter und Comp. um den Handel in "Interventions"- und "Mediations"-Gerüchten geprellt worden. Wie dem auch sei, Europa kann nichts eifriger wünschen, als daß der coup d'état versuche, "Ordnung in den Vereinigten Staaten herzustellen" und auch dort "die Zivilisation zu retten".