Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 472-477.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Mexikanischer Wirrwarr

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 6530 vom 10. März 1862]

|472| London, 15. Februar 1862

Das soeben veröffentlichte Blaubuch über die Intervention in Mexiko enthält eine sehr tadelnde Enthüllung der modernen englischen Diplomatie mit ihrer ganzen scheinheiligen Heuchelei, ihrer wilden Wut gegen über dem Schwachen, ihrer Kriecherei vor dem Starken und ihrer völligen Mißachtung des Völkerrechts. Ich muß mir für einen anderen Artikel vorbehalten, durch eine genaue Analyse der zwischen Downing Street und den britischen Vertretern in Mexiko gewechselten Depeschen den unwiderlegbaren Beweis dafür zu erbringen, daß die gegenwärtige Verwirrung englischen Ursprungs ist, daß England beim Zustandekommen der Intervention die Initiative ergriff und daß es dies unter zu schwachen und widersprüchlichen Vorwänden tat, um die wirklichen, aber uneingestandenen Motive seines Vorgehens zu verhüllen. Diese Niedertracht, mit der die abscheulichen Mittel angewandt wurden, um die mexikanische Intervention zu beginnen, wird nur durch die greisenhafte Geistesschwäche übertroffen, in der die britische Regierung vorgibt, überrascht zu sein, und sich vor der Ausführung des von ihr selbst geplanten schändlichen Unternehmens drückt. Die zuletzt erwähnte Seite der Frage werde ich zunächst behandeln.

Am 13. Dezember 1861 legte Herr Isturiz, spanischer Botschafter in London, John Russell eine Note vor, welche die Instruktionen enthielt, die der Generalkapitän von Kuba den an der Spitze der mexikanischen Expedition stehenden spanischen Kommandeuren übersandt hatte. John Russell ließ die Note unbeachtet und hüllte sich in Schweigen. Am 23. Dezember richtet Herr Isturiz eine weitere Note an ihn, in der er die Gründe erklärt, die die spanische Expedition veranlaßt hatten, Kuba |473| vor der Ankunft der englischen und französischen Truppen zu verlassen. John Russell läßt die Note wiederum unberücksichtigt und bleibt schweigsam. Herr Isturiz, bestrebt, sich zu vergewissern, ob diese ungewöhnlich lange anhaltende schweigsame Zurückhaltung bei dem sonst so wortreichen Sproß des Hauses Bedford möglicherweise Unheil bedeuten könne, dringt auf eine persönliche Unterredung, die ihm gewährt wird und am 7. Januar stattfindet. John Russell war nun bereits länger als einen Monat von der einseitigen Eröffnung der Operationen Spaniens gegen Mexiko unterrichtet. Ein Monat war fast vergangen, seit ihm das Geschehen durch Herrn Isturiz offiziell bekanntgegeben worden war. Trotz alledem äußert John Russell in seiner persönlichen Unterredung mit dem spanischen Botschafter nicht ein Wort, das auch nur das leiseste Mißfallen oder Erstaunen angedeutet hätte über "die übereilten Schritte, die General Serrano unternommen hat", und es hinterlassen seine Äußerungen bei Herrn Isturiz nicht den geringsten Eindruck, daß alles Unrecht sei und daß das spanische Vorgehen von der britischen Regierung mißbilligt wurde. Herrn Isturiz' kastilischer Stolz läßt natürlich den Gedanken nicht zu, daß Spaniens mächtige Verbündete mit ihm nur spielten und aus ihm ein bloßes Werkzeug machten. Doch die Zeit des Zusammentretens des Parlaments nahte heran, und John Russell mußte nun eine Serie Depeschen abfassen, die nicht für internationale Belange, sondern speziell für den parlamentarischen Gebrauch bestimmt waren. So schreibt er am 16. Januar eine Depesche, in der er in ziemlich zornigen Tönen sich nach der einseitigen Initiative erkundigt, die Spanien unternommen hat. Zweifel und Skrupel, die länger als einen Monat in seinem Inneren geschlummert und nicht einmal Symptome ihres Vorhandenseins während der persönlichen Unterredung mit Herrn Isturiz am 7. Januar gezeigt hatten, stören plötzlich den heiteren Traum dieses vertrauensvollen, aufrichtigen und arglosen Staatsmannes. Herr Isturiz fühlt sich wie vom Donner gerührt und erinnert in seiner vom 18. Januar datierten Antwort etwas ironisch Seine Exellenz an die von ihm versäumten Gelegenheiten, seinem verspäteten Groll Luft zu machen. In der Tat zahlt er Seiner Exzellenz in eigener Münze heim, wenn er in seiner Rechtfertigung der von Spanien ergriffenen Initiative dieselbe Miene von naïveté annimmt, die Lord John Russell in seiner Forderung nach einer Erklärung zur Schau trug. "Der Generalkapitän von Kuba", sagt Herr Isturiz, "kam zu früh, weil er fürchtete, zu spät in Veracruz einzutreffen." "Außerdem", und hier bedenkt er Lord John mit einem Seitenhieb, "war die Expedition seit langem in jeder Hinsicht bereit", obgleich der Generalkapitän bis Mitte Dezember "die Details |474| des Vertrages und den für das Zusammentreffen der Geschwader festgesetzten Punkt nicht kannte". Der Vertrag war nicht vor dem 20. November geschlossen worden. Wenn daher der Generalkapitän seine Expedition schon lange "vor Mitte Dezember in jeder Hinsicht bereit hatte", so hatten die ihm ursprünglich aus Europa zugegangenen Befehle für den Beginn der Expedition nicht den Vertrag abgewartet. Mit anderen Worten, die ursprüngliche Vereinbarung zwischen den drei Mächten und die zu ihrer Ausführung unternommenen Schritte warteten nicht auf den Vertrag und unterschieden sich in ihren "Details" von den Bestimmungen des Vertrags, der von Anfang an nicht als eine Anweisung zum Handeln gemeint war, sondern nur als schickliche Formel, die notwendig war, um die öffentliche Meinung mit dem schändlichen Plan auszusöhnen. Am 23. Januar erwidert John Russell Herrn Isturiz in einer ziemlich schroffen Note, in der er ihm zu verstehen gibt, daß "die britische Regierung nicht völlig mit der gegebenen Erklärung zufriedengestellt sei", aber zugleich würde sie Spanien nicht die Dummdreistigkeit zutrauen, so vermessen zu sein, gegen England und Frankreich zu handeln. Lord John Russell, der einen ganzen Monat lang so schläfrig, so inaktiv gewesen ist, wird völlig lebendig und hellwach, als die Parlamentssession schnell heranrückt. Es ist keine Zeit zu verlieren. Am 17. Januar hat er eine persönliche Unterredung mit Comte Flahault, dem französischen Botschafter in London. Flahault bringt ihm die böse Nachricht, daß es sein Herr für notwendig halte, "eine zusätzliche Streitmacht nach Mexiko zu schicken", daß Spanien durch seine übereilte Initiative die Sache verdorben habe; daß

"die Verbündeten jetzt auf das Innere Mexikos vorrücken müßten, und daß nicht nur die vereinbarten Streitkräfte sich als unzureichend für die Operation erweisen würden, sondern daß die Operation selbst einen solchen Charakter annehmen würde, daß Louis Bonaparte den französischen Truppen nicht gestatten könne, in eine Lage zu geraten, die schlechter als die der Spanier ist, oder Gefahr zu laufen, bloßgestellt zu werden."

Flahaults Argumentation war jedoch alles andere als überzeugend. Wenn Spanien den Vertrag übertreten hatte, hätte eine einzige Note aus den Quartieren von St. James und den Tuilerien genügt, um es vor seinen lächerlichen Ansprüchen zu warnen und auf die ihm durch die Konvention auferlegte bescheidene Rolle zu verweisen. Aber nein, weil Spanien die Konvention gebrochen hat - ein rein formaler Bruch und ohne jede Folge, da seine voreilige Ankunft in Veracruz nichts an dem eingestandenen Ziel und Zweck der Expedition ändert -, weil Spanien es gewagt hatte, vor Veracruz in Abwesenheit der englischen und französischen Truppen |475| Anker zu werfen, blieb Frankreich kein anderer Ausweg, als in Spaniens Fußtapfen zu treten, ebenfalls die Konvention zu brechen und nicht nur seine Expeditionstruppen zu erhöhen, sondern den ganzen Charakter der Operation zu verändern. Es war natürlich für die verbündeten Mächte kein Vorwand erforderlich, um die Katze aus dem Sack zu lassen und gleich zu Beginn der Expedition die Vorwände und Zwecke in den Wind zu schlagen, um derentwillen man sie angeblich unternommen hatte. Deshalb heißt John Russell, obgleich er den von Frankreich unternommenen "Schritt bedauert", ihn gut, indem er Comte Flahault mitteilt, daß "er im Namen der Regierung Ihrer Majestät gegen die Gültigkeit des französischen Arguments nichts einzuwenden habe". In einer Depesche vom 20. Januar übersandte er Lord Cowley, dem englischen Botschafter in Paris, die Schilderung dieser seiner Unterredung mit Comte Flahault. Tags zuvor, am 19. Januar, hatte er eine Depesche an Sir F. Crampton, den englischen Botschafter in Madrid, verfaßt; diese ist ein seltsames Gemisch von scheinheiliger Heuchelei, an das britische Parlament gerichtet, und versteckten Andeutungen für den Hof von Madrid über den wirklichen Wert der liberalen Sprache, die er sich so offen erlaubte. "Das Vorgehen Marschall Serranos", sagt er, "wird vermutlich einiges Unbehagen hervorrufen", nicht nur wegen der verfrühten Abreise der spanischen Expedition von Havanna, sondern auch "wegen des Tons der von der spanischen Regierung erlassenen Proklamation". Aber gleichzeitig schlüge der bon homme |gute Mensch| dem Hof in Madrid eine glaubhafte Entschuldigung für den augenscheinlichen Bruch der Konvention vor. Er ist völlig überzeugt, daß der Hof von Madrid keine böse Absicht habe; aber Befehlshaber seien doch fern von Europa bisweilen "unbesonnen" und müßten "sehr sorgsam überwacht werden". So bietet der gute Russell freiwillig seine Dienste an, um die Verantwortung vorn Hofe von Madrid abzuwälzen auf die Schultern unvorsichtiger spanischer Befehlshaber "in der Ferne" und sogar außer Reichweite der Predigten des guten Russell. Nicht minder seltsam ist der zweite Teil seiner Depesche. Die verbündeten Streitkräfte sollen die Mexikaner nicht an ihrem Recht hindern, "sich ihre eigene Regierung zu wählen", wodurch er zu verstehen gibt, daß "keine Regierung" in Mexiko existiere, und daß im Gegenteil nicht nur neue Regierungsmitglieder, sondern sogar "eine neue Form der Regierung" unter Leitung der alliierten Eindringlinge gewählt werden müßten. Die "Konstituierung einer neuen Regierung" würde die britische Regierung "erfreuen"; aber natürlich dürften die |476| Militärstreitkräfte der Eindringlinge nicht das allgemeine Wahlrecht brechen, das sie den Mexikanern für die Einsetzung einer neuen Regierung zu empfehlen beabsichtigen. Es bleibt natürlich den Befehlshabern der bewaffneten Invasion überlassen zu beurteilen, welche Form der neuen Regierung mit "den Gefühlen Mexikos unvereinbar" ist und welche nicht. Auf alle Fälle wäscht der gute Russell seine Hände in Unschuld. Er schickt fremde Soldaten nach Mexiko, um dort das Volk zu zwingen, eine neue Regierung zu "wählen"; aber er hofft, die Soldaten werden ihre Sache sanft ausführen und sehr sorgfältig die politischen Gefühle des Landes prüfen, in das sie eingedrungen sind. Ist es notwendig, sich auch nur einen Augenblick mit dieser durchsichtigen Farce aufzuhalten? Lesen Sie unabhängig von den Depeschen des guten Russell die "Times" und die "Morning Post" vom Oktober, sechs Wochen vor dem Abschluß der Scheinkonvention vom 30. November, und Sie werden in den englischen Regierungsblättern genau dieselben mißliebigen Ereignisse vorausgesagt finden, die Russell erst Ende Januar zu entdecken vorgibt und der "Unbesonnenheit" einiger spanischer Abgesandter fern von Europa zuschreibt.

Der zweite Teil der Farce, die Russell spielen mußte, war, daß er den Erzherzog Maximilian von Österreich, den England und Frankreich im Auge hatten, als mexikanischen König aufs Tapet brachte.

Am 24. Januar, etwa zehn Tage vor Eröffnung des Parlaments, schreibt Lord Cowley an Lord Russell, daß sich nicht nur der Pariser Klatsch ausgiebig mit dem Erzherzog beschäftige, sondern daß sogar die Offiziere, die mit den Verstärkungstruppen nach Mexiko gingen, behaupteten, die Expedition verfolge den Zweck, Erzherzog Maximilian zum König von Mexiko zu machen. Cowley hält es für notwendig, Thouvenel über dieses heikle Thema zu interpellieren. Thouvenel antwortet ihm, daß es nicht die französische Regierung sei, sondern mexikanische Abgesandte, "die deswegen nach Wien gekommen seien", welche diese Unterhandlungen mit der österreichischen Regierung angebahnt hätten.

Sie erwarten nun schließlich, daß der arglose John Russell, der erst fünf Tage zuvor in einer Depesche nach Madrid auf den Bedingungen der Konvention herumgeritten hatte, der sogar noch später in der Thronrede am 6. Februar die "Wiedergutmachung" des Unrechts angekündigt hatte, das, wie die europäischen Untertanen behaupteten, ausschließliches Motiv und Ziel der Intervention sei. Sie erwarten nun endlich, daß er in Zorn gerät und Gift und Galle speit bei der bloßen Vorstellung, daß seinem gutmütigen Vertrauen ein so unerhört übler Streich gespielt wurde. Nichts dergleichen! Der gute Russell nimmt Cowleys Geschwätz am 26. Januar |477| entgegen, und am folgenden Tage beeilt er sich, eine Depesche zu verfassen, in der er der Kandidatur des Erzherzogs Maximilian für den mexikanischen Thron freiwillig seine Protektion anbietet.

Er informiert Sir C. Wyke, seinen Vertreter in Mexiko, daß die französischen und spanischen Truppen "sofort" zur Hauptstadt Mexiko marschieren werden, daß Erzherzog Maximilian "angeblich das Idol des mexikanischen Volkes sei" und daß es, wenn dies der Fall wäre, "in der Konvention nichts gebe, das seine Thronbesteigung in Mexiko verhindern könnte".

Zwei Dinge sind in diesen diplomatischen Enthüllungen bemerkenswert: erstens, wie Spanien zum Narren gehalten wird, und zweitens, wie Russell überhaupt nicht auf den Gedanken kommt, daß er keinen Krieg gegen Mexiko ohne vorherige Kriegserklärung führen kann, und daß er für diesen Krieg keine Koalition mit ausländischen Mächten bilden kann, wenn nicht auf Grund eines für alle Parteien verbindlichen Vertrages. Das sind nun die Leute, die uns zwei Monate lang mit ihrer scheinheiligen Heuchelei über die Heiligkeit der strengen Regeln des Völkerrechts und ihrer Ehrfurcht davor ermüdet haben!