Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 464-467.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Englisch

Geschrieben um den 3. Februar 1862.


["Die Presse" Nr. 39 vom 9. Februar 1862]

|464| "Originalität" oder "Individualität" zeichnen in der Vorstellung des Kontinentalen den insularen John Bull aus. Im großen und ganzen verwechselt diese Vorstellung den Engländer der Vergangenheit mit dem Engländer der Gegenwart. Scharfe Klassenentwicklung, außerordentliche Teilung der Arbeit und sogenannte "öffentliche Meinung", von den Brahmanen der Presse gehandhabt, haben umgekehrt eine Monotonie der Charaktere erzeugt, die einem Shakespeare z.B. seine Landsleute unkenntlich machen würde. Die Unterschiede gehören nicht mehr den Individuen an, sondern ihrer "Profession" und Klasse. Außerhalb der Profession, im Alltagsverkehr, gleicht ein "respektabler" Engländer dem andern so sehr, daß selbst Leibniz kaum einen Unterschied, eine differentia specifica |besondere Unterschiede| zwischen ihnen entdecken könnte. Die vielgepriesene Individualität, aus allen politischen und sozialen Sphären verbannt, findet einen letzten Zufluchtsort in den Schrullen und Marotten des Privatlebens, um sich hier dann und wann sans gêne |ungeniert| und mit bewußtlosem Humor noch geltend zu machen. Es ist daher hauptsächlich in den Gerichtshöfen - diesen großen, öffentlichen Arenen, wo die Privatmarotten aufeinanderplatzen -, daß der Engländer immer noch als ein Wesen sui generis |von eigener Art| erscheint.

Nach dieser Vorbemerkung zu einer ergötzlichen Gerichtsszene, die sich vor einigen Tagen im Court of Exchequer zutrug. Personae dramatis |handelnde Personen| sind auf der einen Seite Sir Edwin Landseer, der größte englische Maler der Jetztzeit, auf der andern Seite die Herren Haldane, Londoner Kleiderkünstler ersten Ranges; Sir Edwin der Verklagte, die Herren Haldane |465| Kläger. Das corpus delicti bestand aus einem Überzieher und einem Frack, zum Preise von 12 Pfd.St., die der Maler zu zahlen weigerte. Sergeant Ballantine plädierte für Landseer, Herr Griffits für Haldane.

Haldane bezeugt: Sir Edwin Landseer habe beide Röcke bestellt. Sie seien ihm zugeschickt worden, um sie anzuprobieren, und er habe über die Höhe der Kragen geklagt. Sie wurden geändert. Nun klagte er, er könne sie nicht tragen, ohne sich heiß und unkomfortabel in ihnen zu fühlen. Außerdem kratzten sie ihm das Haar. Dem Wunsch des Verklagten entsprechend, fanden verschiedene Änderungen statt. Schließlich verweigerten die Kläger jede weitere Änderung, es sei denn, daß besonders dafür gezahlt werde. Landseer schickte darauf beide Röcke durch seinen Diener zurück. Der Kläger schickte ihm darauf folgenden Brief:

"Wir erlauben uns hiemit respektvoll, Ihnen die zwei Röcke zu schicken, nachdem selbige wieder Ihrer letzten Anweisung gemäß verändert worden. Die zahlreichen und erfolglosen Änderungen, wovon Sie sprechen, sind Ihr eigener Fehler. Bei der ersten Anmessung standen die Röcke ausgezeichnet gut; aber wenn Sie Ihren Leib in die unvernünftigsten Positionen verzerren, wäre mehr als menschliche Wissenschaft erheischt, um es Ihnen recht zu machen. (Gelächter). Wir haben mit dem größten Widerstreben die von Ihnen verlangten Änderungen gemacht, da wir sie für überflüssig und kunstwidrig hielten. Jetzt aber finden wir es unmöglich, Ihnen weiter nachzugeben. Von Ihrer Forderung, die Röcke zurückzunehmen, kann gar nicht die Rede sein. Wir schließen Ihnen daher beiliegende Rechnung ein und bitten um baldige Berichtigung."

Sergeant Ballantine: Ihr wollt nicht etwa behaupten, daß die Röcke jetzt anpassen? Haldane: Ich behaupte dies. Ballantine: Standen sie nicht besser, bevor sie verändert wurden? Haldane: Ja. - B.: Röcke sind nicht Eure Spezialität. Ihr seid groß in der Hosenbranche, nicht so? - H.: Nun wohl! Wir sind berühmter für Hosen. - B.: Aber nicht für Röcke? Hat Herr Alfred Montgomery, der Sir Edwin Landseer bei Euch einführte, ihn nicht vor Euren Röcken gewarnt? - H.: Ja, er tat das. - B.: Habt Ihr oder Euer Bruder Sir Edwin nicht gesagt, Ihr würdet vorziehen, ihm die Röcke umsonst zu machen, als sie gar nicht zu machen? - H.: Wir haben nichts derart gesagt. - B.: Was versteht Ihr unter "Abschwächung" der Kragen? - H.: Sir Edwin klagte, der Rockkragen kratze seinen Hals. Daher schwächten wir den Kragen ab, d.h. wir reduzierten ihn auf kleineren Maßstab. - B.; Und wieviel berechnet Ihr für diese Reduktion? - H.: Zwei oder drei Pfunde.

Sergeant Ballantine: Sir Edwin Landseer hielt es nötig zu klagen wegen des insultierenden Briefes Haldanes, Herr Montgomery riet Sir Edwin, den |466| untern Teil seines Körpers der Firma Haldane anzuvertrauen, aber beileibe nicht den obern. Obgleich ein großer Künstler, ist Sir Edwin ein reines Kind in diesen Dingen und riskierte daher das Wagstück, und die Jury sieht, was die Folgen waren. Der Kläger, den die Geschworenen soeben auf der Zeugenbank gesehen, ist auch ein großer Artist. Wird aber ein großer Artist je sein Werk ummodeln? Im Gefühl der Vortrefflichkeit desselben muß er damit stehen oder fallen; aber Haldane stand nicht ein für die Vortrefflichkeit seines Werkes. Er verstand sich zu Änderungen, soweit sie seinen eigenen Prinzipien entsprachen. Und dann zwei bis drei Pfund verlangen für seine Pfuscherei! Ich habe die Ehre, hier ein Tribunal zu adressieren, das Röcke trägt; ich frage es, ob es auf dieser Welt eine größere Qual gibt als steife Kragen unter dem Hals? Ich höre, daß, als Sir Edwin einen dieser Röcke anmaß, sein Hals sich in einer Schraube und England sich in der Gefahr befand, einen seiner größten Künstler zu verlieren. Sir Edwin versteht sich dazu, die fraglichen Röcke hier vor Gericht anzuziehen, und die Herren Geschwornen können dann aus eigener Anschauung entscheiden. Ich rufe jetzt Sir Edwin als Zeugen auf, und er wird Ihnen die Geschichte der beiden Röcke erzählen.

Sir Edwin Landseer: ... Als ich die Röcke anzog - stand der Kragen so. (Hier wendete Sir Edwin sich um und präsentierte unter schallendem Gelächter den Geschwornen seinen Rücken, wobei er in ihrem Gemüt den Eindruck zurückließ, daß ihn plötzlich der Schlagfluß gerührt.) ... Ich erbot mich, die Entscheidung dem schiedsrichterlichen Urteil des ersten besten Schneiders zu überlassen; aber mit alledem muß jeder selbst am besten wissen, wie ihm sein Rock sitzt oder wo ihn der Schuh drückt.

Herr Griffits: Was sagte Herr Montgomery, als er Sie bei der Firma Haldane einführte? - Er sagte zu mir: "Sir Edwin, Sie sind durchschnittlich mit Ihren Hosen nicht so glücklich als mit Ihren Röcken."

Griffits: Wollen Sie die Röcke hier anmessen? - Warum nicht? (Zieht sich den einen Rock an.) Nun seht! (Gelächter.)

Baron Martin (der Richter): Da befindet sich unter den Geschwornen ein Schneider. Will der Herr die Güte haben, sich das corpus delicti genau anzusehen?

Besagter Schneider entfernt sich von der Geschwornenbank und geht auf Sir Edwin zu, läßt ihn Frack und Überzieher anziehen, mustert sie kunstverständig und schüttelt den Kopf.

Griffits: Sir Edwin, halten Sie den Frack für zu eng? - Ja! (Gelächter.) - Für zu schmal? frage ich. - Nun, ich müßte ihn ausziehen, sollte ich in ihm zu Mittag essen.

|467| Ballantine: Dann, Sir Edwin, sollen Sie nicht länger in ihm stecken. Emanzipieren Sie sich von ihm. - Ich bin Ihnen sehr verbunden. (Zieht die Röcke aus.)

Nach dem pathetischen Plädoyer beider Advokaten und einem drolligen Resumé des Richters, der namentlich darauf hinwies, daß der englische Komfort den Kunstidealen der Firma Haldane nicht geopfert werden dürfe, entschied die Jury-Vote |Stimme der Geschworenen| für Sir Edwin Landseer.