Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 461-463.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Zur Baumwollkrise

Geschrieben Anfang Februar 1862.


["Die Presse" Nr. 38 vom 8. Februar 1862]

|461| Vor einigen Tagen fand das jährliche Meeting der Handelskammer von Manchester statt. Sie repräsentiert Lancashire, den größten Industriedistrikt des Vereinigten Königreichs und den Hauptsitz der britischen Baumwollmanufaktur. Der Präsident des Meetings, Herr E. Potter, und die Hauptredner auf demselben, die Herren Bazley und Turner, vertreten Manchester und einen Teil Lancashires im Unterhaus. Aus den Verhandlungen des Meetings erfahren wir also offiziell, welche Haltung das große Zentrum englischer Baumwollindustrie der amerikanischen Krise gegenüber in dem "Senat der Nation" behaupten wird.

Auf dem vorjährigen Meeting der Handelskammer hatte Herr Ashworth, einer der größten Baumwollbarone Englands, in pindarischer Überschwenglichkeit die unerhörte Ausdehnung der Baumwollindustrie während des letzten Dezenniums gefeiert. Er hob namentlich hervor, daß selbst die Handelskrisen von 1847 und 1857 keinen Ausfall in der Ausfuhr englischer Baumwollgespinste und Gewebe erzeugt. Er erklärte dies Phänomen aus der wundertätigen Kraft des 1846 eingeführten Freihandelsystems. Schon damals klang es absonderlich, daß dasselbe System, obgleich unfähig, England die Krisen von 1847 und 1857 zu ersparen, fähig sein sollte, einen besondern englischen Industriezweig, die Baumwollindustrie, dem Einfluß jener Krise zu entziehen. Aber was hören wir heute? Sämtliche Redner, Herr Ashworth eingeschlossen, gestehen, daß seit 1858 eine unerhörte Überführung der asiatischen Märkte stattgefunden und daß infolge massenhafter und stetig fortgesetzter Überproduktion die jetzige Stockung eintreten mußte, selbst ohne Amerikanischen Bürgerkrieg, Morrill-Tarif und Blockade. Ob ohne diese erschwerenden Umstände der Ausfall in der Ausfuhr des letzten Jahres die Höhe von 6 Millionen Pfund Sterling erreicht |462| hätte, bleibt natürlich dahingestellt, erscheint aber nicht unwahrscheinlich, wenn wir hören, daß die Hauptmärkte Asiens und Australiens für 12 Monate mit englischem Baumwollfabrikat versorgt sind.

Die bisherige Krise in der englischen Baumwollindustrie ist also, nach dem Eingeständnis der in dieser Angelegenheit maßgebenden Handelskammer von Manchester, das Resultat nicht der amerikanischen Blockade, sondern der englischen Überproduktion. Was aber wären die Folgen einer Fortdauer des Amerikanischen Bürgerkrieges? Auf diese Frage erhalten wir wieder einstimmige Antwort: Maßloses Leiden der arbeitenden Klasse und Ruin der kleineren Fabrikanten.

"In London", bemerkte Herr Cheetham, "sagt man, wir hätten noch Baumwolle genug, um fortarbeiten zu lassen. Aber die Baumwolle allein steht nicht in Frage. Es handelt sich vor allem um ihren Preis. Mit den gegenwärtigen Preisen würde das Kapital der Fabrikanten aufgezehrt."

Die Handelskammer erklärt sich jedoch entschieden gegen jede Intervention in den Vereinigten Staaten, obgleich die meisten ihrer Mitglieder hinreichend von den "Times" beherrscht sind, um die Auflosung der Union für unvermeidlich zu halten.

"Das letzte Ding", sagt Herr Potter, "das wir empfehlen können, wäre die Intervention. Der letzte Platz, von dem ein solcher Vorschlag ausgehen würde, ist Manchester. Nichts wird uns bestimmen, etwas moralisch Schlechtes zu empfehlen."

Herr Bazley:

"Der amerikanische Zwist muß dem strengsten Prinzip der Nichtintervention anheimfallen. Das Volk jenes großen Landes muß ungestört seine eigenen Angelegenheiten ordnen."

Herr Cheetham:

"Die herrschende Meinung in diesem Distrikt widerstrebt aufs entschiedenste jeder Intervention in dem amerikanischen Zwist. Es ist notwendig, dies klar auszusprechen, weil im Zweifelsfalle von anderer Seite ein außerordentlicher Druck auf die Regierung ausgeübt werden würde."

Was empfiehlt also die Handelskammer? Die englische Regierung soll alle Hindernisse beseitigen, die von seiten der Verwaltung noch immer die Baumwollkultur in Indien hemmen, Sie soll namentlich den Einfuhrzoll von 10 Prozent aufheben, womit englische Baumwollgespinste und Gewebe in Indien belastet sind. Kaum war das Regime der Ostindischen Kompanie beseitigt, kaum Ostindien dem britischen Reiche einverleibt, als Palmerston durch Herrn Wilson jenen Einfuhrzoll auf englische Fabrikate |463| in Indien einführte, und zwar zur selben Zeit, wo er für den englisch-französischen Handelsvertrag Savoyen und Nizza verkaufte. Während der französische Markt der englischen Industrie in einem gewissen Umfang eröffnet ward, wurde ihr der ostindische Markt in größerem Umfange verschlossen.

Herr Bazley bemerkte mit Bezug hierauf, daß große Massen englischer Maschinerie seit der Einführung jenes Zolls nach Bombay und Kalkutta ausgeführt und daselbst Fabriken im englischen Stil errichtet worden seien. Diese bereiteten sich vor, ihnen die beste indische Baumwolle wegzuschnappen. Rechne man zu den 10 Prozent Einfuhrzoll 15 Prozent für Fracht hinzu, so genießen die durch die Initiative der englischen Regierung künstlich hervorgerufenen Rivalen eines Schutzzolls von 25 Prozent.

Überhaupt sprach sich auf dem Meeting der Großwürdentrager der englischen Industrie bittere Verstimmung aus über die protektionistische Tendenz, die mehr und mehr in den Kolonien, namentlich auch in Australien, um sich greife. Die Herren vergessen, daß die Kolonien während anderthalb Jahrhunderten vergebens gegen das "Kolonialsystem" des Mutterlandes protestierten. Damals verlangten die Kolonien freien Handel. England bestand auf Prohibition. Jetzt predigt England freien Handel, und die Kolonien finden Protektion gegen England ihren Interessen angemessener.