Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 445-446.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Zur Geschichte der unterdrückten Sewardschen Depesche


["Die Presse" Nr. 17 vom 18. Januar 1862]

|445| London, 14. Januar 1862

Der verstorbene "Trent"-Fall ist wieder auferstanden, diesmal aber als ein casus belli nicht zwischen England und den Vereinigten Staaten, sondern zwischen dem englischen Volke und der englischen Regierung. Der neue casus belli wird im Parlament entschieden werden, das nächsten Monat zusammentritt. Sie haben ohne Zweifel bereits Akt genommen von der Polemik der "Daily News" und des "Star" gegen "Morning Post" wegen der Unterschlagung und Ableugnung der Sewardschen Friedensdepesche vom 30. November, welche am 19. Dezember Lord John Russell durch den amerikanischen Gesandten Herrn Adams vorgelesen wurde. Erlauben Sie mir nun noch auf diese Angelegenheit zurückzukommen. Auf die Versicherung der "Morning Post" hin, daß die Sewardsche Depesche sich nicht im entferntesten auf die "Trent"-Angelegenheit beziehe, fielen die Börseneffekten, und Millionen Eigentum wechselten die Hände, wurden verloren auf der einen Seite, gewonnen auf der andern. In den geschäftlichen und industriellen Kreisen erregt daher die ganz ungerechtfertigte und durch Veröffentlichung der Sewardschen Depesche vom 30. November aufgedeckte halbamtliche Lüge der "Morning Post" die ungeheuerste Entrüstung.

Nachmittags am 8. Januar traf die Friedensnachricht in London ein. Am selben Abende interpellierte der "Evening Star" (Abendausgabe des "Morning Star") die Regierung über die Unterdrückung von Sewards Depesche vom 30. November. Am andern Morgen, den 9. Januar, antwortete die "Morning Post" wie folgt:

|446| "Man fragt, warum nichts früher von Sewards Depesche verlautete, die Herr Adams im Laufe des Dezembers erhielt? Die Erklärung dieser Sache ist sehr einfach. Die von Herrn Adams erhaltene Depesche ward unserer Regierung nicht mitgeteilt (not communicated)."

Am Abend desselben Tages gab der "Star" der "Post" ein vollständiges Dementi und erklärte ihre "Berichtigung" für eine elende Ausflucht. Die Depesche sei Lord Palmerston und Lord Russell von Herrn Adams in der Tat nicht "mitgeteilt", sondern "vorgelesen" worden.

Am nächsten Morgen, Samstag, den 11. Januar, traten die "Daily News" in die Schranken und bewiesen aus dem Artikel der "Morning Post" vom 21. Dezember, daß letztere und die Regierung zu jener Zeit völlig mit der Depesche Sewards bekannt waren und sie absichtlich verfälschten. Die Regierung bereitete sich jetzt zum Rückzug. Am Abend des 11. Januar erklärte der halboffizielle "Globe", Herr Adams habe allerdings am 19. Dezember der Regierung Sewards Depesche mitgeteilt, die jedoch keine "Anerbietung auf seiten des Washingtoner Kabinetts enthalten", so wenig als "eine unmittelbare Entschuldigung für die Verletzung der englischen Flagge". Dies verschämte Eingeständnis eines absichtlichen Betrugs des englischen Volkes während drei Wochen blies die Flamme nur höher, statt sie zu löschen. Ein Zornschrei lief durch alle Organe der industriellen Distrikte Großbritanniens, der gestern endlich auch in den Tory-Zeitungen sein Echo fand. Die ganze Frage, man bemerke wohl, wurde nicht von Politikern, sondern vom Handelspublikum auf die Tagesordnung gesetzt. Der heutige "Morning Star" bemerkt darüber:

"Lord John Russell ist ohne Zweifel Mitschuldiger bei Unterdrückung der Wahrheit; auch hat er die Lüge der 'Morning Post' unwiderlegt zirkulieren lassen, aber er ist unfähig, den der Wahrheit ins Gesicht schlagenden, unberechenbar schädlichen Artikel der 'Morning Post' vom 21. Dezember diktiert zu haben. Derlei kann nur ein Mann; der Minister, der den Afghanenkrieg fabrizierte, war allein fähig, Sewards Friedensbotschaft zu unterdrücken. Die törichte Milde des Unterhauses verzieh ihm das eine Vergehen; werden sich Parlament und Volk nicht vereinen, um ihn für das andere zu strafen?"