Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1861

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 430-433.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Die Meinung der Journale und die Meinung des Volkes


["Die Presse" Nr. 359 vom 31. Dezember 1861]

|430| London, 25. Dezember 1861

Kontinentale Politiker, welche in der Londoner Presse einen Thermometer für die Stimmung des englischen Volkes zu besitzen wähnen, ziehen in diesem Augenblick notwendig Trugschlüsse. Bei der ersten Nachricht von dem "Trent"-Fall schäumte der englische Nationalstolz auf, und der Ruf nach Krieg mit den Vereinigten Staaten ertönte fast aus allen Gesellschaftsschichten. Die Londoner Presse affektierte dagegen Mäßigung, und selbst die "Times" zweifelten, ob überhaupt ein casus belli vorliege. Woher dies Phänomen? Palmerston war unsicher, ob die Kronjuristen sich in der Lage befanden, irgendwelchen legalen Kriegsvorwand auszutüfteln. Anderthalb Wochen vor der Ankunft des "La Plata" in Southampton hatten sich nämlich Agenten der südlichen Konföderation von Liverpool aus an das englische Kabinett gewendet, die Absicht amerikanischer Kreuzer, von englischen Häfen auszulaufen und die Herren Mason, Slidell etc. auf offener See abzufangen, denunziert, und die Intervention der englischen Regierung beansprucht. Dem Gutachten ihrer Kronjuristen gemäß, schlug letztere das Gesuch ab. Daher ursprünglich der friedliche und gemäßigte Ton der Londoner Presse im Kontrast zur kriegerischen Ungeduld des Volkes. Sobald jedoch die Kronjuristen - Attorney General und Attorney Sollicitor, beide selbst Mitglieder des Kabinetts - einen technischen Vorwand zum Krakeel mit den Vereinigten Staaten ausgeklaubt, schlug das Verhältnis zwischen Volk und Presse ins Gegenteil um. Das Kriegsfieber in der Presse stieg in demselben Maße, wie das Kriegsfieber im Volke sank. In diesem |431| Augenblick ist ein Krieg mit Amerika in allen Schichten des englischen Volkes, mit Ausnahme der Baumwollfreunde und Krautjunker, ebenso unpopulär, wie das Kriegsgeheul in der Presse überwältigend ist.

Aber nun betrachte man sich die Londoner Presse! An der Spitze stehen die "Times", deren leitender Redakteur, Bob Lowe, ehemals Demagoge in Australien war, das er zum Abfall von England aufwiegelte. Er ist ein untergeordnetes Mitglied des Kabinetts, eine Art von Unterrichtsminister und bloße Kreatur Palmerstons. "Punch" ist der Hofnarr der "Times", der ihre sesquipedalia verba |hochtrabenden Worte| in kurzgeschnittene Späße und geistlose Karikaturen verwandelt. Ein leitender Redakteur des "Punch" wurde von Palmerston mit 1.000 Pfund Sterling jährlich im Board of Health (Gesundheitskommission) untergebracht.

Die "Morning Post" ist zum Teil Palmerstons Privateigentum. Ein anderer Teil dieses sonderbaren Instituts ist an die französische Gesandtschaft verkauft. Der Rest gehört der "haute volée" und liefert die genauesten Berichte für Hofschranzen und Damenschneider. Die "Morning Post" ist daher unter dem englischen Volke als der Jenkins (stehende Figur für den Lakaien) der Presse berüchtigt.

Der "Morning Advertiser" ist das Gemeineigentum der "licensed victuallers", d.h. der Wirtshäuser, die außer Bier auch Schnaps verkaufen dürfen. Er ist ferner Organ der englischen Pietisten und detto der sporting characters, d.h. der Leute, die aus Pferderennen, Wetten, Boxen u.dgl. ein Geschäft machen. Der Redakteur dieses Blattes, Herr Grant, früher als Stenograph von den Zeitungen verwendet, ein literarisch ganz ungebildeter Mensch, hat die Ehre gehabt, zu Palmerstons Privat-Soireen zugezogen zu werden. Seit der Zeit schwärmt er für den "truly English minister" (den wahrhaft englischen Minister), den er beim Ausbruch des russischen Krieges als "russischen Agenten" denunziert hatte. Es kommt hinzu, daß die frommen Patrone dieses Schnapsjournals unter dem Kommandostab des Grafen Shaftesbury stehen und daß Shaftesbury Palmerstons Schwiegersohn ist. Shaftesbury ist der Papst der low church men, die auf den profanen Spiritus des braven "Advertiser" den Sanctus Spiritus pfropfen.

Der "Morning Chronicle"! Quantum mutatus ab illo! |Wie anders gegen früher!| Während beinahe eines halben Jahrhunderts das große Organ der Whig-Partei und nicht unglücklicher Rivale der "Times", erbleichte sein Stern seit dem whigschen Krieg. Er durchlief Metamorphosen aller Art, verwandelte sich in ein penny paper, suchte von "Sensationen" zu leben, so z.B. durch Partei- |432| nahme für den Giftmischer Palmer. Er verkaufte sich später an die französische Gesandtschaft, der es aber bald leid wurde, ihr Geld wegzuwerfen. Er warf sich dann auf den Anti-Bonapartismus, jedoch nicht mit besseren Erfolg. Endlich fand er den lange vermißten Käufer in den Herren Yancey und Mann - den Agenten der südlichen Konföderation zu London.

Der "Daily Telegraph" ist das Privateigentum eines gewissen Levy. Sein Blatt ist von der englischen Presse selbst als Palmerstons mob paper (Palmerstons Pöbelorgan) gebrandmarkt worden. Neben dieser Funktion treibt es chronique scandaleuse . Es charakterisiert diesen "Telegraph", daß er bei Ankunft der "Trent"-Nachricht auf Ordre von oben den Krieg für unmöglich erklärte. In der ihm diktierten Würde und Mäßigung erschien er sich selbst so befremdlich, daß er seit der Zeit ein halbes Dutzend Artikel über die bei jener Gelegenheit von ihm an den Tag gelegte Mäßigung und Würde veröffentlicht hat. Sobald die Ordre zur Schwenkung eintraf, suchte der "Telegraph" sich nun aber auch für den ihm angetanen Zwang schadlos zu halten und alle seine Kameraden durch lautes Kriegsgeheul zu überbrüllen.

Der "Globe" ist das ministerielle Abendblatt, das offizielle Subsidien von allen Whig-Ministerien bezieht.

Die Tory-Blätter, "Morning Herald" und "Evening Standard", beide derselben Boutique angehörig, sind durch ein doppeltes Motiv bestimmt, einerseits den angestammten Haß gegen "die revoltierten englischen Kolonien", andererseits eine chronische Ebbe in ihrer Börse. Sie wissen, daß ein Krieg mit Amerika das jetzige Koalitionskabinett sprengen und einem Tory-Kabinett den Weg bahnen muß. Mit dem Tory-Kabinett werden offizielle Subsidien für "Herald" und "Standard" wiederkehren. Hungrige Wölfe können daher nicht lauter nach Beute heulen als diese Tory-Blätter nach einem amerikanischen Krieg und dem Goldregen in seinem Gefolge!

Bleiben von der Londoner Tagespresse nur noch nennenswert die "Daily News" und der "Morning Star", die beide den Kriegsposaunisten entgegenarbeiten. Die "Daily News" sind in ihrer Bewegung gehemmt durch ein Verhältnis zu Lord John Russell, der "Morning Star" (Organ von Bright und Cobden) in seinem Einfluß beeinträchtigt durch seinen Charakter als "Friedensblatt um jeden Preis".

Die meisten Londoner Wochenblätter sind bloße Echos der Tagespresse, also überwiegend kriegerisch. Der "Observer" steht in ministeriellem Sold. Die "Saturday Review" hascht nach Esprit, und glaubt ihn |433| gefunden zu haben, indem sie zynische Erhabenheit über "humanitäre" Vorurteile affektiert. Um "Esprit" zu zeigen, grinsten die verdorbenen Advokaten, Pfaffen und Schulmeister, die jenes Blatt schreiben, seit Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkrieges den Sklavenhaltern Beifall zu. Sie bliesen später natürlich mit den "Times" in die Kriegsposaune. Sie entwerfen bereits Feldzugsplane gegen die Vereinigten Staaten, deren grobe Unwissenheit haarsträubend ist.

Als mehr oder minder respektable Ausnahmen sind zu erwähnen der "Spectator", der "Examiner", und namentlich "Mac Millan's Magazine".

Man sieht: Im großen und ganzen repräsentiert die Londoner Presse - mit Ausnahme der Baumwollorgane bilden die Provinzialblätter einen rühmlichen Kontrast - nichts als Palmerston und wieder Palmerston. Palmerston will Krieg, das englische Volk will ihn nicht. Die nächsten Ereignisse werden zeigen, wer in diesem Duell siegt, Palmerston oder das Volk. Jedenfalls spielt er ein gefährlicheres Spiel als Louis Bonaparte Anfang 1859.