Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1861

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 423-426.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Ein Verleumdungsprozeß


["Die Presse" Nr. 353 vom 24. Dezember 1861]

|423| London, 19. Dezember 1861

Die alten Ägypter hatten bekanntlich die Teilung der Arbeit, soweit sie sich auf das Ganze der Gesellschaft erstreckt und nicht auf das einzelne Atelier, zu einem hohen Grad entwickelt. Fast jeder besondere Teil des Körpers besaß bei ihnen seinen besonderen Arzt, dessen Therapie auf dies besondere Gebiet gesetzlich beschränkt war. Der Diebstahl bildete den Beruf eines besonderen Gewerbs, dessen Vorsteher eine amtlich anerkannte Person. Aber wie dürftig erscheint die altägyptische Teilung der Arbeit gegen die modern-englische? Es ist nicht minder die Sonderbarkeit einzelner Erwerbszweige in London als die Stufenleiter ihrer Ausführung, die uns mit Staunen schlägt.

Einer dieser kuriosen Industriezweige ist die Spionage. Sie spaltet sich von vornherein in zwei große Branchen, bürgerliche Spionage und politische Spionage. Die letztere lassen wir hier ganz außer acht. Die bürgerliche Spionage zerfällt wieder in zwei große Unterabteilungen - offizielle und private Spionage.

Die offizielle wird betrieben einerseits von detectives (Entdeckern), die entweder vom Staat oder den städtischen Behörden besoldet sind, andererseits von common informers (gewöhnlichen Informanten), die auf ihre eigene Faust spionieren und nach jobwork (Stückarbeit) von der Polizei bezahlt werden.

Das Geschäft der Privatspionage zerfällt in mannigfaltige Unterarten, die jedoch alle in zwei große Rubriken zusammenfaßbar. Die eine Rubrik umschließt nichtkommerzielle Privatverhältnisse, die andere kommerzielle. Für die erste Rubrik, worin Spionage über eheliche Untreue eine große Rolle spielt, hat das Institut des Herrn Field europäische Berühmtheit |424| erlangt. Das Geschäft der kommerziellen Spionage wird man aus dem folgenden Vorfall näher kennenlernen.

Letzten Dienstag hatte der Court of Exchequer eine Verleumdungsklage zu entscheiden, worin ein hiesiges Wochenblatt, "Lloyds Weekly News", der Angeklagte, Stubbs und Comp. die Kläger. Stubbs und Comp. veröffentlichen nämlich eine Wochenzeitung unter dem Titel: "Stubbs' Gazette", das Organ von "Stubbs' Gesellschaft zum Schutz des Handels". Die Zeitung wird den Subskribenten, die jährlich 3 Guineen zahlen, privatim zugeschickt, nicht aber, gleich anderen Zeitungen, per Nummer in den Boutiquen der stationers |Papier- und Schreibwarenhändler|, auf der Straße, bei den Eisenbahnen usw. verkauft. Es ist in der Tat eine Proskriptionsliste schlechter Gläubiger, welchem Stande sie immer angehören. Stubbs' "Schutzgesellschaft" spioniert die Zahlungsfähigkeit von Privatindividuen aus, "Stubbs' Gazette" registriert sie schwarz auf weiß. Die Zahl der Subskribenten beläuft sich auf 20.000.

"Lloyds Wochenblatt" hatte nun einen Artikel veröffentlicht, worin es unter anderem hieß: "Es ist die Pflicht jedes Ehrenmannes, diesem schmachvollen System der Spionage den Garaus zu machen". Stubbs verlangte gerichtliche Rache für diese Verleumdung.

Nachdem der Advokat des Klägers, Sergeant Shee, den Strom seiner irländischen Beredsamkeit ausgegossen, hatte Kläger Stubbs die cross examination (in der Tat das Kreuzfeuer, dem die Zeugen während des Verhörs ausgesetzt sind) des Sergeant Ballantine, Advokaten von "Lloyds Wochenblatt", zu bestehen. Folgender humoristischer Dialog fand statt.

Ballantine: Verlangen Sie Information von Ihren Subskribenten?

Stubbs: Ich fordere die Subskribenten auf, mir die Namen der Personen mitzuteilen, die sie für Schwindler halten. Wir untersuchen diese Fälle dann. Ich untersuche sie nicht selbst. Ich habe Agenten zu London und anderen großen Städten. Ich habe 9 oder 10 Agenten in London, die ein jährliches Salär erhalten.

Ballantine: Was erhalten diese Gentlemen, um Information aufzujagen?

Stubbs: Von 150 bis 200 Pfd.St.

Ballantine: Und einen neuen Anzug? Gut, wenn einer dieser gutbezahlten Gentlemen einen Schwindler erwischt, was geschieht dann? - Wir veröffentlichen seinen Namen.

Ballantine: Wenn er ein ausgemachter Schwindler ist? - Ja. - Wenn er |425| aber nur ein halber Schwindler ist? - Wir tragen ihn dann in unser Register ein. - Bis er in voller Blüte steht, und dann veröffentlicht Ihr ihn? - Ja. - Ihr veröffentlicht Autographen von Schwindlern? - Ja. - Und zum Vorteil des Handels setzt Ihr Euch noch größeren Kosten aus. Ihr veröffentlicht Photographien von Schwindlern? - Ja. - Ihr haltet kein geheimes Polizeibüro? Ihr steht nicht in Verbindung mit Herrn Field? - Ich freue mich sagen zu können, nein! - Worin besteht dann der Unterschied? - Ich verweigere hierauf zu antworten. - Was versteht Ihr unter Euren "legalen Agenten?" - Das bezieht sich auf Eintreibung von Schulden. Ich verstehe darunter Sollizitors (Mittelding zwischen Anwalt und Huissier), die dem Geschäft der Subskribenten nach den im Prospektus erwähnten Bedingungen obliegen. - So, Ihr seid also auch ein Schuldeneintreiber? - Ich treibe Schulden durch 700 Sollizitors ein. - Guter Gott, Ihr haltet 700 Sollizitors, und die Welt existiert immer noch fort! Haltet Ihr die Sollizitors, oder halten die Sollizitors Euch? - Sie halten sich selbst. - Hattet Ihr andere Gerichtshändel? - Ja, ein halbes Dutzend. - Habt Ihr sie je ausgefochten? - Ja. - Lautete das Urteil je zu Euren Gunsten? - Einmal. - Was meint Ihr mit der Rubrik Eurer Zeitung "Verlangt Adressen", worauf eine ganze Liste von Namen folgt? - Durchgebrannte Schuldner, deren Aufenthalt weder wir noch unsere Subskribenten aufspüren konnten. - Wie ist Euer Geschäft eingerichtet? - Unser Zentralbüro ist in London mit Zweigbüros in Birmingham, Glasgow, Edinburgh und Dublin. Mein Vater hat mir das Geschäft hinterlassen. Er trieb es ursprünglich in Manchester.

Advokat Ballantine fiel nun in seinem Plädoyer unbarmherzig über Stubbs her, dessen "lächelnde und selbstgefällige Haltung während seiner Aussage jedenfalls den Beweis lieferte, daß er so wenig als ein Mistkäfer ein Bewußtsein über den Schmutz des Elements habe, worin er sich bewege". Der englische Handel müsse tief gesunken sein, wenn er eines solchen Schutzherrn bedürfe. Dies nichtswürdige Spionensystem liefere dem Stubbs eine furchtbare Waffe für Gelderpressungen usw.

Der Lord Chief Baron |Präsident des Schatzkammergerichts|, der als Richter saß, warf sein Resumé in die Waagschale der Verteidigung. Er schloß mit den Worten: "Die Geschworenen schulden der Freiheit der Presse viel; aber Geschworene sind nicht unabhängig, weil die Presse frei ist, sondern die Presse ist frei, weil die Geschwornen unabhängig sind. Sie müßten erwägen, ob der angeschuldigte Artikel über die Schranken ehrlicher Kritik hinausgehe? Stubbs sei |426| eine öffentliche Person und verfalle damit der Kritik. Glaubten sie, 'Lloyds Wochenblatt' habe die Grenze ehrlicher Kritik überschritten, dann sei es an ihnen, dem Kläger sachgemäße Entschädigung zuzuerkennen."

Die Geschwornen zogen sich zurück in ihr Beratungszimmer. Nach viertelstündiger Debatte erschienen sie wieder im Gerichtshof mit dem Beschluß: Kläger Stubbs im Recht; Schadenersatz für seine verletzte Ehre ein farthing. Der Farthing ist die niedrigste englische Münze, dem französischen Centime und dem deutschen Pfennig entsprechend. Stubbs verließ Guildhall unter schallendem Gelächter des zahlreichen Auditoriums und eskortiert von einer Anzahl Bewunderer, vor deren zudringlichen Ovationen nur rasche Flucht seine bescheidene Größe retten konnte.