Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1861

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 392-394.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Der englisch-amerikanische Streit


["Die Presse" Nr. 332 vom 3. Dezember 1861]

|392| London, 29. November 1861

Die Advokaten der Krone hatten gestern ihre Ansicht über das Seeabenteuer im Bahama Canal abzugeben. Ihre Prozeßakten bestanden aus den schriftlichen Berichten der an Bord des "Trent" zurückgebliebenen englischen Offiziere und aus der mündlichen Aussage des Kommodore Williams, der sich als Admiralitätsagent an Bord des "Trent" befand, aber mit dem Dampfboot "La Plata" am 27. November in Southampton landete, von wo ihn sofort der Telegraph nach London rief. Die Kronadvokaten erkannten das Recht des "San Jacinto" an, den "Trent" zu besuchen und zu durchsuchen. Da die Neutralitätsproklamation der Königin Victoria beim Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkrieges Depeschen ausdrücklich unter Kontreband-Artikeln aufzählt, konnte auch über diesen Punkt kein Zweifel obwalten. Blieb also die Frage, ob die Herren Mason, Slidell und Comp. selbst Kontrebande und daher konfiszierbar. Die Kronadvokaten scheinen dieser Ansicht zu sein, denn sie ließen die ganze materielle Rechtsfrage fallen. Ihr Gutachten, nach dem Bericht der "Times", beschuldigt den Kommandanten des "San Jacinto" nur eines Prozedurfehlers. Statt die Herren Mason, Slidell und Comp. hatte er den "Trent" selbst als Prise ins Tau zu nehmen, zum nächsten amerikanischen Hafen zu bringen und dort dem Urteil eines nordamerikanischen Prisengerichts zu unterwerfen. Dies ist unstreitig die dem englischen und daher nordamerikanischen Seerecht entsprechende Prozedur.

Es ist ebenso unstreitig, daß die Engländer diese Regel während des Antijakobinerkriegs häufig verletzten und in der summarischen Manier des "San Jacinto" verfuhren. Wie dem auch sei, der ganze Konflikt ist durch diesen Ausspruch der Kronadvokaten auf ein technisches Versehen reduziert |393| und daher jeder unmittelbaren Tragweite beraubt. Zwei Umstände erleichtern der Unionsregierung die Annahme dieser Auffassungsweise, also die Leistung einer formellen Satisfaktion. Einmal konnte Kapitän Wilkes, der Kommandant des "San Jacinto", keine direkte Instruktion von Washington erhalten haben. Auf der Rückreise von Afrika nach New York begriffen, landete er am 2. November in Havanna, das er am 4. November wieder verließ, während sein Zusammenstoß mit dem "Trent" auf offener See am 8. November stattfand. Der bloß zweitägige Aufenthalt des Kapitän Wilkes in Havanna gestattete keinen Notenwechsel zwischen ihm und seiner Regierung. Der Unionskonsul war die einzige amerikanische Behörde, mit der er verhandeln konnte. Zweitens aber hatte er offenbar den Kopf verloren, wie sein Verzicht auf die Auslieferung der Depeschen beweist.

Die Wichtigkeit des Ereignisses liegt in seiner moralischen Wirkung auf das englische Volk und dem politischen Kapital, das die englischen Baumwollfreunde der Sezession leicht daraus schlagen können. Zur Charakteristik der letztern dient das von ihnen veranstaltete, früher von mir erwähnte Liverpooler Indignations-Meeting. Das Meeting fand am 27. November um 3 Uhr nachmittags statt, in den Baumwollauktionsräumen der Liverpooler Börse, eine Stunde, nachdem das alarmierende Telegramm von Southampton eingetroffen.

Nach vergeblichen Versuchen, Herrn Cunard, Besitzer der zwischen Liverpool und New York laufenden Cunard-Dampfer, und anderen Großwürdenträgern des Handels den Vorsitz aufzunötigen, bestieg ein junger Kaufmann, namens Spence, berüchtigt durch eine Parteischrift für die Sklavenrepublik, den Präsidentenstuhl. Gegen die Regel englischer Meetings stellte er, der Präsident selbst, den Antrag,

"die Regierung aufzufordern, die Würde der britischen Flagge durch Forderung schleuniger Genugtuung für die erlittene Unbill geltend zu machen."

Ungeheurer Applaus, Händeklatschen und Vivat auf Vivat! Das Hauptargument des Vorredners der Sklavenrepublik bestand darin, daß Sklavenschiffe durch die amerikanische Flagge bisher vor dem von England beanspruchten Durchsuchungsrecht geschützt worden seien. Und nun erging sich dieser Philanthrop in wütenden Ausfällen auf den Sklavenhandel! Er gab zu, daß England den Krieg von 1812-1814 mit den Vereinigten Staaten hervorgerufen, weil es darauf bestand, nach desertierten englischen Matrosen auf den Kriegsschiffen der Union zu suchen.

"Aber", fuhr er mit wunderbarer Dialektik fort, "aber welcher Unterschied, das Durchsuchungsrecht geltend zu machen, um Deserteure von der englischen Marine |394| wiederzufangen, und dem Recht, solche Männer von höchster Respektabilität, wie die Herren Mason und Slidell, trotz des Schutzes der englischen Flagge gewaltsam zu entführen!"

Den Haupttrumpf aber spielte er am Schluß seiner Diatribe aus.

"Ich befand mich", brüllte er, "kürzlich auf dem europäischen Kontinent. Die Bemerkungen, die man dort über unser Verhalten gegen die Vereinigten Staaten macht, trieben mir die Schamröte ins Gesicht. Was behauptet jeder intelligente Mann auf dem Kontinent? Daß wir entschlossen seien, jede Unbill, jede Verletzung unserer Würde durch die Regierung der Vereinigten Staaten sklavisch zu ertragen. Was konnte ich darauf antworten? Erröten. Aber der Krug geht so lang zu Wasser, bis er bricht. Unsere Geduld hat sich lang genug bewährt - so lange, als es möglich war, sie" (die Geduld) "zu kontrollieren. Jetzt endlich sind wir zu Tatsachen (!) gekommen, und dies ist eine sehr böse und auffallende Tatsache (!), und es ist die Pflicht jedes Engländers, die Regierung zu unterrichten, wie stark und einmütig das Gefühl dieses großen Landes über die an seiner Flagge verübte Unbill ist."

Dieser unsinnige Wortschwall ward mit einer Beifallskanonade begrüßt. Gegnerische Stimmen wurden niedergeheult, niedergezischt und niedergetrommelt. Auf die Bemerkung eines Herrn Campbell, daß das ganze Meeting "regelwidrig" sei, antwortete der unerbittliche Spence: "So sei es; aber die Tatsache, die wir zu betrachten haben, ist selbst regelwidrig." Auf den Vorschlag eines Herrn Turner, das Meeting für den folgenden Tag auszusetzen, damit "die Stadt Liverpool mitsprechen und nicht eine Clique von Baumwollmaklern ihren Namen usurpieren könne", erschallte es von allen Seiten: "Packt ihn beim Kragen, werft ihn hinaus!" Herr Turner, unbeirrt, wiederholte seinen Antrag, der jedoch, wieder gegen alle Regeln englischer Meetings, nicht zur Abstimmung gebracht wurde. Spence siegte. In der Tat aber hat nichts mehr die Stimmung in London abgekühlt als die Nachricht von dem Sieg des Herrn Spence.