Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1861

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 377-380.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Die Finanzlage Frankreichs

Geschrieben am 18. November 1861.


["Die Presse" Nr. 322 vom 23. November 1861]

|377| Die "Times", die den imperialistischen coup d'éclat |Meisterstreich| anfangs mäßig belobten, dann in Hyperbeln gepriesen hatten, machen heute eine plötzliche Schwenkung von der Panegyrik zur Kritik. Die Weise, worin dies Manöver ausgeführt wird, charakterisiert den Leviathan der englischen Presse:

"Wir überlassen anderen das Geschäft, dem Cäsar zu gratulieren für sein Eingeständnis, daß er ein endliches und kein unfehlbares Wesen ist, und daß er, der unstreitig bloß durch die Gewalt des Schwertes herrscht, nicht durch göttliches Recht zu regieren prätendiert. Wir müssen vielmehr nach den finanziellen Resultaten der imperialistischen Herrschaft wahrend eines Dezenniums fragen. Diese Resultate selbst sind ungleich wichtiger als die Phrasen, worin sie mitgeteilt werden ... Die Exekutive tat, was ihr beliebte; die Minister waren dem Kaiser allein verantwortlich; der Stand der Finanz wurde dem Publikum und den Kammern ganz geheimgehalten. Die Form jährlich votierter Budgets war keine Schranke, sondern eine Maske, kein Schutz, sondern ein Betrug. Was also hat das französische Volk dadurch erreicht, daß es seine Freiheiten und sein Vermögen zur Verfügung eines einzigen Mannes gestellt hat? ... Herr Fould selbst gesteht, daß von 1851-1858 außerordentliche Kredite zum Belauf von 2.800.000.000 Francs eröffnet worden sind, und daß das Defizit des jetzigen Jahres nicht weniger als 1 Milliarde Francs beträgt.

Wir wissen nicht, wie diese Summen erhoben worden sind. Jedenfalls nicht auf dem Wege der Besteuerung. Eingestandenermaßen sind die vier Millionen verausgabt, welche die Bank von Frankreich für die Erneuerung ihrer Privilegien zahlte; 5 1/2 Millionen wurden dem Dotationsfonds der Armee abgeborgt und Kreditpapiere aller Art in Zirkulation geworfen. Was den augenblicklichen Stand der Dinge betrifft, so versichert uns unser Pariser Korrespondent, daß nicht Geld genug im Staatsschatz vorhanden ist, um die nächsten Monat fälligen halbjährigen Dividenden zu zahlen. Das ist der unheilvolle, ent- |378| ehrende Stand der französischen Finanzen nach einem Dezennium brillanten und erfolgreichen Imperialismus, und erst jetzt, in einem Augenblicke, wo sie zur Erfüllung ihrer laufenden Verpflichtungen unfähig ist, zieht die französische Regierung die Nation einigermaßen in ihr Vertrauen und zeigt ihr ein kleines Stück der Wirklichkeit, die hinter der pomphaften Phantasmagorie der so oft beteuerten finanziellen Prosperität verborgen lag. Ja, in diesem Augenblick ist die 'Revue des deux Mondes' gerichtlichen Verfolgungen ausgesetzt, weil sie einige Aufschlüsse über den Finanzzustand Frankreichs gab, denen man nur vorwerfen kann, daß sie viel zu rosig sind."

Die "Times" fragen dann nach den Ursachen dieses Zusammenbruchs. Während des imperialistischen Dezenniums wuchs der Ausfuhrhandel Frankreichs um mehr als das Doppelte. Mit der Industrie entwickelte sich die Agrikultur, mit beiden das Eisenbahnsystem. Das Kreditwesen, vor 1848 nur in seinen Anfängen vorhanden, schoß nach allen Richtungen auf. Alle diese Entwicklungen entsprangen nicht aus dem Machtwort des Imperators, sondern aus den Umwälzungen des Weltmarkts seit den Goldentdeckungen in Kalifornien und Australien. Woher also die Katastrophe?

Die "Times" erwähnen der außerordentlichen Verausgabungen für Armee und Marine, der natürlichen Frucht von Louis Bonapartes Bestreben, den Napoleon in Europa zu spielen. Sie erwähnen der Kriege, endlich der riesenhaften Kosten für öffentliche Bauten, um Unternehmer und Proletariat zu beschäftigen und bei gutem Humor zu erhalten.

"Aber", fahren sie fort, "dies alles genügt nicht, um dies furchtbare Defizit, das größte in den Annalen der Geschichte, zu erklären ... Zu den aggressiven Rüstungen in Armee und Flotte, den Staatsbauten und den gelegentlichen Kriegen kam ein schamloses und allgemeines System der Plünderung. Ein Goldregen fiel auf das Empire und seine Partisanen. Enorme Vermögen, plötzlich und rätselhaft erworben, waren die Ursache von Skandal und Staunen, bis der Skandal verstummte und das Erstaunen sich abschwächte, infolge der Häufigkeit, ja der Universalität des Phänomens. Das moderne Frankreich hat uns den Schlüssel zu den Stellen in Juvenals Satiren gegeben, worin plötzlich erworbener Reichtum als ein Verbrechen gegen das Volk behandelt wird. Die glänzenden Wohnungen, die brillanten Equipagen, die enorme Verschwendung von Leuten, die vor dem coup d'état notorische Hungerleider waren, sind in aller Welt Munde. Der Hof regelte seinen Haushalt nach einem beinahe unglaublichen Maßstab von Verschwendung. Neue Paläste entstanden wie durch Zauberschlag, und der Glanz des ancien régime ward überboten. Die Extravaganz kannte keine Grenzen, außer dem Staatsschatz und dem Staatskredit. Der eine existiert nicht mehr, der andere ist verzettelt. Das ist es, was zehn Jahre Imperialismus für Frankreich getan haben."

|379| Die wichtigste Frage für Europa ist unstreitig, ob das imperialistische Finanzsystem in ein konstitutionelles Finanzsystem, wie es der Briefwechsel zwischen Louis Bonaparte und Fould in Aussicht stellt, verwandelt werden kann? Es handelt sich hier nicht um die augenblicklichen Absichten von Personen. Es handelt sich um die ökonomischen Lebensbedingungen des restaurierten Kaisertums. Das finanzielle Schwindelsystem könnte sich nur in ein prosaisches Finanzsystem verwandeln durch Beseitigung der Korruption als eines allgemeinen Regierungsmittels; durch Herabsetzung von Armee und Flotte auf den Friedensfuß und folglich durch Verzicht auf den napoleonischen Charakter des jetzigen Regimes; endlich durch völlige Lossagung von dem bisher befolgten Plan, einen Teil der Mittelklasse und des städtischen Proletariats vermittelst großer Staatsbauten und anderer öffentlicher Werke an die bestehende Regierung zu fesseln. Alle diese Bedingungen erfüllen, hieße das nicht: "Et propter vitam, vivendi perdere causas!" Glaubt man in der Tat, daß das bescheidene System Louis-Philippes unter napoleonischer Firma wiederhergestellt werden kann? So wenig, als die Juli-Monarchie unter Aufpflanzung des drapeau blanc errichtet werden konnte.

Wir bezeichneten daher von vornherein den coup d'éclat vom 14. November als eine Komödie, und zweifelten keinen Augenblick, daß diese Komödie nur zweierlei bezwecke: Abhilfe augenblicklicher Verlegenheit und - Durchwinterung. Beide Zwecke erreicht, würde im Frühling die Kriegsposaune erschallen und der Versuch gemacht werden, den Krieg diesmal seine eigenen Kosten bezahlen zu machen. Man vergesse nicht, daß bisher - und dies war notwendige Folge eines bloß gespielten Napoleonismus - das dezembristische Frankreich seinen ganzen Ruhm aus dem französischen Staatssäckel selbst bezahlt hat.

Die englische Presse ist, nach kurzen Oszillationen, zu demselben Resultat mit Bezug auf den Ernst der Versprechungen vom 14. November und die Möglichkeit ihrer Erfüllung gelangt.

So sagen die heutigen "Times" in dem zitierten Leitartikel:

"Der Kaiser verzichtet auf die Erhebung außerordentlicher Kredite. Dies ist ganz und gar ein Stück selbstverleugnender Tugend, wie es einer neuen französischen Anleihe vorherzugehen pflegt, sie aber selten überlebt." Und in ihrem Börsenartikel heißt es: "Es ist sehr fraglich, ob die durch die Finanzkrisis plötzlich eingeführte finanzielle Heiligkeit den Paroxismus lange überdauern wird, nachdem die Staatskasse wie der gefüllt und das neue Anlehen gesichert? ...

|380| Man sagt, die öffentliche Meinung werde den Kaiser zwingen, wider seinen eigenen Willen Foulds Programm auszuführen. Wäre es nicht richtiger, zu sagen, daß jeder bereit ist, sich dieser Selbsttäuschung hinzugeben, während Armee- und Flottenlieferanten und Spekulanten fest darauf rechnen, daß im Frühling, nach Uberwinterung der augenblicklichen Gefahr, der 'Moniteur', sei es 'in der veränderten Lage Europas', sei es in der Notwendigkeit, irgend etwas zu rektifizieren, oder daß irgendwo Frankreichs Ehre bedroht sei, sei es im katholischen Glauben, sei es in der Freiheit und Zivilisation des Menschengeschlechts, hinreichende Gründe finden wird, um zu dem alten Finanzsystem zurückzukehren, welches überhaupt auf die Dauer in einem Lande unter Militärdiktatur und ohne allgemein anerkanntes unverletzbares konstitutionelles Recht nicht aufgegeben werden kann?"

In ähnlichem Sinn erklärt sich der "Economist". Er schließt seine Auseinandersetzung mit den Worten:

"Trotz des Dekrets wird das politische Risiko stets der leitende Gesichtspunkt eines Mannes bleiben, der sich nicht darüber täuscht, daß der geringste Fehlschlag seine Dynastie entwurzeln kann."

Louis Bonaparte hat Europa bisher nur Gefahren ausgesetzt, weil er selbst in Frankreich der Gefahr beständig ausgesetzt war. Glaubt man, daß seine Gefährlichkeit für Europa abnehmen wird in demselben Maß, worin für ihn selbst die Gefahr in Frankreich wächst? Nur, wenn die innere Gefahr Zeit zur Explosion erhält.