Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1861

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 361-365.

1. Korrektur
Erstellt am 20.09.1998

Karl Marx

Die Intervention in Mexiko


["Die Presse" Nr. 311 vom 12. November 1861]

<361> London, 7. November 1861

Die "Times" bringen heute in der bekannten bunt-kaleidoskopischen, affektiert-humoristischen Manier einen Leitartikel über den Einfall der französischen Regierung in das Dappental und über den Protest der Schweiz gegen diese Gebietsverletzung. Das Orakel von Printing House Square erinnert sich, wie zur Zeit des lebhaftesten Kampfes zwischen englischen Fabrikanten und Grundeigentümern kleine, in den Fabriken beschäftigte Kinder angeleitet wurden, Nadeln in die feinsten Teile der Maschinerie zu werfen und so die Bewegung des ganzen gewaltigen Automaten zu stören. Die Maschinerie ist Europa, das kleine Kind ist die Schweiz, und die Nadel, die sie in den ruhig wirkenden Automaten wirft, ist - Louis Bonapartes Einfall in ihr Gebiet oder vielmehr ihr Geschrei über seinen Einfall. So verwandelt sich die Nadel plötzlich in den Schrei über den Nadelstich und das Gleichnis in eine Narrenposse gegen den Leser, der ein Gleichnis erwartet. Die "Times" erheitern sich weiter über ihre eigene Entdeckung, daß das Dappental aus einem einzigen Dorfe namens Cressonnières bestehe. Sie enden ihren kurzen Artikel mit einem vollkommenen Widerspruch gegen seinen Anfang. Warum, rufen sie aus, viel Wesens machen von dieser unendlich kleinen Schweizer Bagatelle, da im nächsten Frühjahr Europa von allen Seiten in Flammen stehen wird? Man vergesse nicht, daß Europa kurz vorher ein regelrechter Automat war. Der ganze Artikel scheint reiner Unsinn, und dennoch hat er seinen Sinn. Er ist eine Erklärung, daß Palmerston seinem Alliierten jenseits des Kanals carte blanche <unbeschränkte Vollmacht> in der Schweizer Angelegenheit gegeben hat. Die Erklärung <362> dieser Erklärung findet sich in der trockenen Notiz des "Moniteur", daß England, Frankreich und Spanien am 31. Oktober eine Konvention zur gemeinsamen Intervention in Mexiko abgeschlossen. So weit der Kanton Waadt von Veracruz entfernt liegt, so nahe stehen sich der Artikel der "Times" über das Dappental und die Notiz des "Moniteur" über Mexiko.

Es ist glaublich, daß Louis Bonaparte eine Intervention in Mexiko unter die vielen Möglichkeiten zählte, die er fortwährend bereithält, um das französische Volk zu zerstreuen. Es ist sicher, daß Spanien, dem seine wohlfeilen Erfolge in Marokko und St. Domingo zu Kopf gestiegen sind, von einer Restauration in Mexiko träumt. Aber es ist gewiß, daß Frankreichs Projekt noch nicht gereift war, und daß beide, Frankreich und Spanien, sich vor einem Kreuzzug gegen Mexiko unter englischem Oberbefehl sträubten.

Am 24. September teilte Palmerstons Privat-Moniteur, die "Morning Post", die Details eines Vertrags mit, den England, Frankreich und Spanien zu gemeinschaftlicher Intervention in Mexiko vereinbart hätten. Einen Tag später leugnete die "Patrie" die Existenz jedes solchen Vertrags. Am 27. September widerlegten die "Times" die "Patrie", ohne sie zu nennen. Nach dem "Times"-Artikel hatte Lord Russell den englischen Beschluß der Intervention der französischen Regierung mitgeteilt, worauf Herr Thouvenel geantwortet, der Kaiser der Franzosen sei zu ähnlichem Entschluß gelangt. Jetzt war die Reihe an Spanien. Die spanische Regierung erklärte in einem halboffiziellen Organ, sie bezwecke eine Intervention in Mexiko, aber keineswegs eine Intervention an der Seite Englands. Die Dementis regneten. Die "Times" hatte kategorisch angekündigt, daß "der Präsident der amerikanischen Union seine volle Einwilligung zur beabsichtigten Expedition gegeben habe". Kaum traf diese Nachricht auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans ein, als sämtliche amerikanische Regierungsorgane sie als Lüge brandmarkten, indem Präsident Lincoln mit, nicht gegen Mexiko gehe. Aus alledem ergibt sich, daß der Plan zur Intervention in ihrer jetzigen Gestalt im Kabinett von St. James entsprang.

Nicht minder rätselhaft und widerspruchsvoll als die Erklärungen über den Ursprung der Konvention, waren die Erklärungen über ihre Zwecke. Das eine Organ Palmerstons, die "Morning Post", verkündete, Mexiko sei kein organisierter Staat mit einer bestehenden Regierung, sondern ein bloßes Raubnest. Als solches sei es zu behandeln. Die Expedition bezwecke nur eins - die Befriedigung der mexikanischen Staatsgläubiger in England, Frankreich und Spanien. Zu diesem Behuf würden die koalisierten Streitkräfte die Haupthäfen Mexikos besetzen, die Einfuhr- und Ausfuhrzölle <363> an seiner Küste erheben, und diese "materielle Garantie" festhalten, bis alle Schuldforderungen befriedigt seien.

Das andere Organ Palmerstons, die "Times", erklärte dagegen, durch lange Erfahrung sei England "gestählt gegen Plünderungen von seiten des bankrotten Mexiko". Es handle sich nicht um die Privatinteressen der Gläubiger, sondern "sie hoffen, daß die bloße Gegenwart eines vereinigten Geschwaders im Meerbusen von Mexiko und die Besetzung einiger Häfen hinreichen würden, um die mexikanische Regierung zu neuen Anstrengungen für die Aufrechterhaltung des innern Friedens anzufeuern und die Mißvergnügten zu einer mehr konstitutionellen Opposition als der der Brigandage zu zwingen".

Danach fände also die Expedition zur Unterstützung der offiziellen Regierung Mexikos statt. Gleichzeitig aber deuten die "Times" an, daß "die Hauptstadt Mexiko hinreichend gesund sei, sollte ein so weites Vordringen nötig werden".

Das originellste Mittel zur Befestigung einer Regierung besteht unstreitig in der gewaltsamen Sequestration ihrer Einkünfte und ihrer Territorien. Bloße Besetzung der Häfen und Erhebung der Zölle in denselben würden andererseits die mexikanische Regierung bloß zur Errichtung einer mehr landeinwärts gelegenen Douanenlinie veranlassen. Einfuhrzölle auf fremde, Ausfuhrzölle auf amerikanische Waren würden so verdoppelt werden, die Intervention in der Tat die Ansprüche der europäischen Gläubiger durch Brandschatzung des europäisch-mexikanischen Handels befriedigen. Zahlungsfähig kann die mexikanische Regierung nur durch Konsolidation im Innern werden, und sie kann sich im Inland nur konsolidieren, solange ihre Unabhängigkeit nach außen respektiert wird.

Widersprechen sich so die angeblichen Zwecke der Expedition, so widersprechen sich noch mehr die angeblichen Mittel zu diesen angeblichen Zwecken. Die englischen Regierungsorgane selbst gestehen, daß, wenn eines oder das andere erreichbar wäre durch eine einseitige Intervention Frankreichs oder Englands oder Spaniens, alles unerreichbar wird durch die gemeinsame Intervention dieser Staaten.

Man erinnere sich, daß die liberale Partei in Mexiko unter Juarez, dem offiziellen Präsidenten der Republik, jetzt fast auf allen Punkten die Oberhand besitzt; daß die katholische Partei unter General Marquez Niederlage nach Niederlage erlebt hat, und daß das von ihr organisierte Raubgesindel auf die Sierras von Queretaro zurückgedrängt und auf die Allianz des dortigen Indianerhäuptlings Mejia angewiesen ist. Die letzte Hoffnung der katholischen Partei war spanische Intervention.

<364> "Der einzige Punkt", sagen die "Times", "über den möglicherweise Zwiespalt zwischen uns und unseren Alliierten obwalten kann, betrifft die Regierang der Republik. England wünscht sie in den Händen der liberalen Partei zu lassen, während Frankreich und Spanien der Parteilichkeit für die kürzlich gestürzte kirchliche Herrschaft verdächtig sind. Es wäre sonderbar, wenn Frankreich in der neuen und alten Welt zugleich sich zum Protektor von Priestern und Banditen aufwürfe. Gerade wie in Italien die Parteigänger von Franz II. zu Rom für ihr Werk, Neapel unregierbar zu machen, ausgerüstet werden, so sind in Mexiko die Heerstraßen, ja die Straßen der Hauptstadt, von Räubern heimgesucht, welche die Kirchenpartei offen für ihre Freunde erklärt."

Und eben darum befestigt England die liberale Regierung; indem es mit Frankreich und Spanien einen Kreuzzug gegen sie unternimmt, sucht es die Anarchie zu ersticken, indem es der in den letzten Zügen liegenden kirchlichen Partei neue Bundestruppen von Europa zuführt!

Die Küsten Mexikos, pestilenzialisch wie sie sind, außer während der kurzen Wintermonate, können nur durch Eroberung des Landes selbst gehalten werden. Aber ein drittes englisches Regierungsorgan, der "Economist", erklärt die Eroberung Mexikos für unmöglich.

"Will man ihm", sagt dies Blatt, "einen britischen Prinzen mit einer englischen Armee aufzwingen, so ruft man die wildeste Wut der Vereinigten Staaten hervor. Frankreichs Eifersucht würde eine solche Eroberung unmöglich machen, und der Vorschlag dazu würde fast einstimmig von einem englischen Parlament ebenso rasch verworfen als ihm vorgelegt werden. England kann seinerseits Frankreich die Regierung Mexikos nicht anvertrauen. Von Spanien kann gar keine Rede sein."

Die ganze Expedition ist also eine Mystifikation, deren Schlüssel die "Patrie" gibt mit den Worten:

"Die Konvention erkennt die Notwendigkeit an, in Mexiko eine starke Regierung einzusetzen, die Ruhe und Ordnung daselbst erhalten kann."

Es handelt sich einfach darum, den Grundsatz, wonach die Heilige Allianz zur Einmischung in die inneren Regierungsverhältnisse der Länder Europas sich berufen hielt, durch eine neue Heilige Allianz auf die Staaten Amerikas anzuwenden. Der erste Plan dieser Art ward für die Bourbonen Spaniens und Frankreichs zur Zeit der Restauration von Chateaubriand entworfen. Er scheiterte an Canning und an Monroe, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, der jede europäische Einmischung in die inneren Angelegenheiten amerikanischer Staaten in Acht und Bann erklärte. Seitdem behauptete die amerikanische Union stets die Monroe-Doktrin als internationales Gesetz. Der gegenwärtige Bürgerkrieg jedoch schuf die <365> passende Situation, um auf seiten europäischer Monarchien eine Interventionspräzedenz zu sichern, auf der später fortgebaut werden kann. Das ist der eigentliche Zweck der englisch-französisch-spanischen Intervention. Ihr nächstes Resultat kann und soll nur die Wiederherstellung der in Mexiko eben ersterbenden Anarchie sein.

Abgesehen von allen allgemein völkerrechtlichen Standpunkten, hat das Ereignis für Europa die große Bedeutung, daß England durch Konzessionen auf dem Gebiet der kontinentalen Politik die Gefolgschaft Louis Bonapartes in der mexikanischen Expedition erkauft hat.