Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 234-237.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Friedrich Engels

Die Entwicklung der Revolution in Österreich

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 6152 vom 12. Januar 1861]

<234> London, 24. Dezember 1860

Die Revolution in Österreich macht rasche Fortschritte. Erst vor zwei Monaten bekannte Franz Joseph in seinem Diplom vom 20. Oktober, daß sich sein Reich in einem Zustand der Revolution befinde, und er versuchte, dem dadurch abzuhelfen, daß er Ungarn mit dem Versprechen bestach, dessen alte Verfassung in der einen oder anderen verstümmelten Form wiederherzustellen. Das Diplom, obwohl eine Konzession an die revolutionäre Bewegung, war in seiner Konzeption eines jener Meisterstücke verräterischer Politik, die einen so bedeutenden Teil der österreichischen Diplomatie ausmachen. Ungarn sollte durch scheinbar sehr große Konzessionen gekauft werden, die man noch größer erscheinen ließ, indem man sie den geringfügigen Zugeständnissen gegenüberstellte, welche den deutschen und slawischen Provinzen gewährt wurden, wie auch dem kaiserlichen Possenparlament, dessen Errichtung im Diplom vorgeschlagen wurde. In den Einzelheiten dieses Dokuments jedoch war der Pferdefuß der Betrügerei sichtbar genug, um das beabsichtigte Meisterstück in ein Stück entsetzlicher Torheit zu verwandeln und in einen der revolutionären Bewegung gegebenen Beweis von der hilflosen Schwäche der Regierung. Nicht nur die Tatsache, daß die Bewilligung der Geldmittel und der Truppen dem ungarischen Landtag abgesprochen und dem zentralen Parlament und teilweise sogar dem Kaiser allein übertragen werden sollte - als ob eine Regierung, welche gerade gezwungen war, wegen der Politik, die sie in den letzten 10 Jahren geführt hatte, zu Kreuze zu kriechen, noch stark genug wäre, solche Rechte gerade von denen fernzuhalten, die sie erkämpft haben -, sondern auch die Geringfügigkeit und Unbestimmtheit der Rechte, die auf die anderen Teile des Reiches und auf die zentrale Vertretung über- <235> tragen wurden, ließen bei Gegenüberstellung sofort die Unaufrichtigkeit der ganzen Angelegenheit erkennen. Als die Provinzialverfassungen für Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol veröffentlicht wurden - Verfassungen, die dem Adel und der Kirche den Löwenanteil an Sitzen in den Landtagen gaben und die alten Standesunterschiede aufrechterhielten -, als das alte Ministerium im Amt blieb, konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, was beabsichtigt wurde. Ungarn sollte beschwichtigt werden und dann als Werkzeug dienen, für das absolutistische Österreich die Kastanien aus dem Feuer zu holen; aber Ungarn wußte aus Erfahrung sehr wohl, welches sein Schicksal sein würde, wenn das absolutistische Österreich erst einmal wieder erstarkt war. Selbst die unbeschränkte und unterschiedslose Einführung der ungarischen Sprache als einzige offizielle Sprache in Ungarn diente keinem anderen Ziel als dem, die Slawen, Rumänen und Deutschen in Ungarn gegen den magyarischen Teil aufzuwiegeln. Die ungarischen alten Konservativen (vulgo Aristokraten), die diesen Handel mit dem Kaiser abgeschlossen hatten, verloren dadurch in der Heimat alles Ansehen. Sie hatten versucht, die beiden wichtigsten Rechte des Landtages zu verschachern. Tatsächlich konnte das kaiserliche Diplom niemand täuschen. Während in den deutschen Provinzen die öffentliche Meinung die alten Munizipalräte (vom Kaiser nach der Revolution ernannt) sofort zwang, neuen Männern Platz zu machen, die jetzt durch das Volk gewählt werden, begannen die Ungarn, ihre alten Komitatsbeamten und Komitatsversammlungen wieder einzusetzen, welche vor 1849 alle örtlichen Behörden des Landes gebildet hatten. In beiden Fällen ist es ein gutes Zeichen, daß die Oppositionspartei sich sofort die lokale und kommunale Macht sicherte, statt nur nach einer vorübergehenden Veränderung der Regierung zu schreien und die Sicherstellung der wichtigsten Positionen, die für sie in bescheideneren Tätigkeitsbereichen offen geblieben waren, zu vernachlässigen. In Ungarn legte das System der alten örtlichen Verwaltung, die 1848 reorganisiert worden war, sofort alle Zivilgewalt in die Hand des Volkes und ließ der Wiener Regierung keine andere Alternative, als abzutreten oder schnell zu militärischer Gewalt Zuflucht zu nehmen. Hier ging nun die Bewegung ganz natürlich äußerst schnell voran. Die Forderung nach voller Wiederherstellung der Verfassung, mit den Ergänzungen von 1848 und einschließlich all der Gesetze, welche in diesem Jahr zwischen dem Landtag und dem König vereinbart wurden, erhob sich von einem Ende des Landes zum anderen. Damit nicht zufrieden, wurde die sofortige Aufhebung des Tabakmonopols (nach 1848 ungesetzlich eingeführt) und aller anderen ohne Genehmigung des Landtages ein- <236> geführten Gesetze gefördert. Die Erhebung von Steuern wurde solange öffentlich für ungesetzlich erklärt, bis der Landtag über sie abgestimmt hatte. Nicht ein Drittel der fälligen Steuern wurde bezahlt. Die zum Dienst in der Armee einberufenen jungen Männer wurden aufgefordert, sich der Einberufung zu widersetzen oder sich zu verbergen. Der Reichsadler wurde heruntergerissen, und was am schlimmsten war, die Regierung hatte in diesem Übergangsstadium kein Mittel, gegen diese Bewegung vorzugehen. Wo immer Komitatsversammlungen einberufen wurden, sprachen sie sich einmütig in diesem Sinne aus, und die Konferenz der ungarischen Notabilitäten versammelte sich unter dem Vorsitz des Primas von Ungarn in Gran, um der Regierung eine Grundlage für die Wahl eines Landtages vorzuschlagen; fast ohne Beratung und einmütig erklärten sie, daß das demokratische Wahlgesetz von 1848 noch in Kraft sei.

Das war mehr, als die alten Konservativen erwartet hatten, als sie das Kompromiß mit dem Kaiser schlossen. Sie waren vollkommen débordés <fassungslos>. Die revolutionären Wogen drohten, sie zu verschlingen. Die Regierung selbst sah, daß etwas getan werden mußte. Doch was konnte das Wiener Kabinett tun ?

Der Versuch, Ungarn zu kaufen, erwies sich als ein vollständiger Mißerfolg. Wenn aber das Kabinett jetzt versuchte, die Deutschen zu bestechen? Sie hatten niemals solche Rechte besessen wie die Ungarn; viel leicht wären sie mit weniger zufrieden. Die österreichische Monarchie muß, wenn sie bestehen will, die verschiedenen Nationalitäten ihrer Untertanen abwechselnd gegeneinander ausspielen. Die Slawen konnten nur im äußersten Fall benutzt werden. Sie waren durch die panslawistischen Bestrebungen zu sehr mit Rußland verbunden; es mußten also die Deutschen sein. Graf Goluchowski, der verhaßte polnische Aristokrat (ein Renegat, der die polnische Sache im Stich ließ, um in österreichische Dienste überzulaufen) wurde geopfert, und Ritter von Schmerling wurde zum Minister des Innern ernannt. Er war 1848 Minister des kurzlebigen Deutschen Reiches und später Österreichs gewesen. Diesen Posten gab er auf, als die Verfassung von 1849 endgültig aufgehoben wurde. Er galt als Konstitutioneller. Doch gab es so viel Zögern und Unentschlossenheit, ehe er endgültig berufen wurde, daß die Wirkung wieder verlorenging. Man fragte, was Schmerling nützen könnte, wenn alle anderen Minister blieben. Alle Hoffnungen kühlten ab, noch bevor er endgültig ernannt worden war, und seine Nominierung schien eher ein weiterer Beweis der Schwäche als eine aufrichtige Konzes- <237> sion zu sein. Während jedoch die Opposition in den deutschen Provinzen sich damit zufrieden gab, die örtliche Macht zu sichern und jede Bewegung der Regierung mit unverhülltem Mißtrauen und mit Unzufriedenheit aufzunehmen, ging die Bewegung in Ungarn weiter. Ehe Schmerling überhaupt nominiert worden war, erkannten die ins Amt berufenen alten, konservativen Ungarn mit Széczen und Vay an der Spitze die Unmöglichkeit, ihre Positionen zu halten; das kaiserliche Kabinett mußte sich der Demütigung unterziehen, zwei ungarische Minister von 1848, welche bis zum Herbst jenes Jahres Kollegen des erschossenen Batthyányi sowie Kossuths und Szemeres gewesen waren - und zwar die Herren Deák und Eötvös aufzufordern, in das Ministerium des Mannes einzutreten, der Ungarn mit Hilfe Rußlands unterdrückt hatte. Sie sind jedoch noch nicht ernannt. Die Politik des Zögerns und Schwankens, des Hökerns und Feilschens um Kleinigkeiten ist noch in vollem Gange; wenn sie aber annehmen sollten, dann werden sie sicher schließlich ernannt werden.

So wird Franz Joseph von einer Konzession zur anderen getrieben, und wenn es dazu kommt, daß im Januar der Landtag in Pest für Ungarn und dessen Provinzen und der Reichsrat in Wien für die übrigen Provinzen des Reiches zusammenkommen, dann werden ihm neue Konzessionen abgerungen werden. Aber statt die Untertanen zu beschwichtigen, wird jede neue Konzession sie mehr erzürnen wegen der unverhüllten Unaufrichtigteit, mit der sie gegeben wird. Und was die Reminiszenzen der Vergangenheit anbelangt - die Manöver der ungarischen Emigranten im Solde Louis-Napoleons, die Tatsache, daß ein liberales Österreich unmöglich ist, weil Österreichs Außenpolitik immer reaktionär sein wird und daher zugleich Zusammenstöße zwischen der Krone und dem Parlament schaffen muß, und da Louis-Napoleon mit dieser Tatsache rechnet -, besteht genügend Wahrscheinlichkeit, daß das Jahr 1861 die Auflösung des österreichischen Kaiserreichs in seine einzelnen Bestandteile erleben wird.