Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 178-181.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Karl Marx

Rußland bedient sich Österreichs -
Das Treffen in Warschau

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 6072 vom 10. Oktober 1860]

<178> Berlin, 17. September 1860

Von allen Ländern Europas bietet Deutschland gegenwärtig das merkwürdigste, verworrenste und jämmerlichste Schauspiel. Der wirkliche Stand der deutschen Angelegenheiten wird am besten verständlich durch eine einfache Gegenüberstellung von zwei Tatsachen: dem kürzlichen Treffen des Deutschen Nationalvereins in Coburg und dem bevorstehenden Treffen der vornehmsten deutschen Fürsten in Warschau. Während ersteres die Vereinigung des Vaterlandes anstrebt, indem es Deutsch-Österreich aufgibt und auf Preußen baut, stützt sich der Regent von Preußen selbst in seinen Widerstandsplänen gegen die französische Aggression auf die Wiederherstellung der Heiligen Allianz unter russischer Führung. Die russische Außenpolitik kümmert sich bekanntlich keinen Deut um Prinzipien im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Sie ist weder legitimistisch noch revolutionär, nutzt aber alle Gelegenheiten zur territorialen Vergrößerung mit der gleichen Gewandtheit, ganz gleich, ob diese Vergrößerung durch Parteiergreifen für aufständische Völker oder für streitende Fürsten erreicht wird. In bezug auf Deutschland besteht Rußlands unveränderliche Politik darin, die Partei zu wechseln. Es verbindet sich erst mit Frankreich, um den Widerstand Österreichs gegen seine orientalischen Pläne zu brechen und ergreift dann die Partei Deutschlands, um Frankreich zu schwächen und einen Wechsel auf deutsche Dankbarkeit zu ziehen, der an der Weichsel oder der Donau diskontiert werden soll. Im Verlauf einer europäischen Verwicklung wird es immer eine Koalition mit den deutschen Fürsten einem Bündnis mit den französischen Emporkömmlingen vorziehen aus dem einfachen Grunde, weil seine wirkliche Stärke <179> in seiner diplomatischen Überlegenheit besteht und nicht in seiner materiellen Macht. Ein Krieg gegen Deutschland, seinen unmittelbaren Nachbarn, der einem Bündnis mit Frankreich entspränge, würde die wahre Ohnmacht des nördlichen Kolosses enthüllen, während Rußland in einem Krieg gegen Frankreich wegen seiner geographischen Lage immer die Reserve bilden - Deutschland wäre dadurch gezwungen, die eigentliche Arbeit zu leisten - und die Früchte des Sieges für sich beanspruchen würde. Verbündete Mächte ähneln in diesem Punkt den verschiedenen Truppenteilen einer Armee. Die Vorhut und das Zentrum müssen den ausschlaggebenden Kampf führen, aber die Reserve entscheidet die Schlacht und trägt den Sieg davon. Deutsche Träumer mögen sich der trügerischen Hoffnung hingeben, daß Rußland unter dem schweren Druck eines inneren sozialen Kampfes durch die Emanzipationsbewegung diesmal die Maxime des russischen Historikers Karamsin von der Unveränderlichkeit der Außenpolitik Rußlands Lügen strafen wird.

Man nimmt an, daß ein durch Klassenkampf zerrissenes und von einer Finanzkrise bedrohtes riesiges Reich nur allzu gern die Hände von Europa lassen würde; aber damit wäre der wahre Charakter der inneren Bewegung Rußlands mißverstanden. Was auch immer seine wahren Absichten gewesen sein mögen - es ist für einen wohlwollenden Zaren ebenso unmöglich, die Aufhebung der Leibeigenschaft mit der Fortsetzung seiner eigenen Autokratie zu vereinbaren, wie es 1848 für einen wohlwollenden Papst unmöglich war, die italienische Einheit mit den Lebensbedingungen des Papsttums in Einklang zu bringen. So einfach die Phrase von der Emanzipation der Leibeigenen in Rußland klingt, so stecken doch die verschiedensten Absichten und die widersprüchlichsten Bestrebungen dahinter. Der Schleier, der zu Beginn der Bewegung durch eine Art allgemeine Begeisterung über die widerstreitenden Bestrebungen geworfen wurde, muß notwendigerweise zerrissen werden, sobald man dazu übergeht, vom Wort zur Tat zu schreiten. Emanzipation der Leibeigenen im Sinne des Zaren liefe auf die Zerstörung der letzten, die zaristische Autokratie noch behindernden Schranken hinaus. Einerseits wäre dadurch die relative Unabhängigkeit der Adligen, die auf ihrer unkontrollierten Macht über die Mehrheit des russischen Volkes beruhte, beseitigt; andererseits würde die Selbstverwaltung der Dorfgemeinschaften der Leibeigenen, die auf dem gemeinsamen Besitz an versklavten Boden beruht, durch den Plan der Regierung gebrochen, der auf die Beseitigung des "kommunistischen" Prinzips abzielte. Das war es, was sich die Zentralregierung unter der Emanzipation der Leibeigenen vorstellte. Die Adligen ihrerseits - das heißt, <180> jener einflußreiche Teil der russischen Aristokratie, der die Hoffnung aufgegeben hatte, den alten Zustand aufrechtzuerhalten - hatten sich entschlossen, die Emanzipation der Leibeigenen unter zwei Bedingungen zu gestatten: Finanzielle Entschädigung, wodurch sie die Bauern aus ihren Leibeigenen in ihre Hypothekenschuldner verwandeln würden, so daß man, soweit es die materiellen Interessen betrifft, zumindest für zwei oder drei Generationen nichts geändert hätte, außer der Form der leibeigenen Abhängigkeit; denn ihre patriarchalische Form wäre dann durch ihre zivilisierte Form ersetzt worden. Außer dieser von den Leibeigenen zu zahlenden Entschädigung verlangten sie noch eine Entschädigung, die der Staat zahlen sollte. Für die lokale Macht über die Leibeigenen, welche aufzugeben sie sich bereit erklärten, forderten sie als Ausgleich politische Macht, die der Zentralregierung entrissen und ihnen im wesentlichen als konstitutioneller Anteil an der allgemeinen Leitung des Reichs gegeben werden sollte.

Schließlich bevorzugten die Leibeigenen selbst die einfachste Formel für die Emanzipationsfrage. Was sie darunter verstanden, war der alte Zustand ohne ihre alten Grundbesitzer. In diesem gegenseitigen Kampf - in dem die Regierung trotz Drohungen und Schmeichelei am Widerstand des Adels und der Bauern, die Aristokratie am Widerstand der Regierung und ihres menschlichen Arbeitsviehs und die Bauernschaft am gemeinsamen Widerstand ihres zentralen Herrschers und ihrer lokalen Herrscher scheiterte - kam man, wie es bei solchen Transaktionen üblich ist, zu einem Übereinkommen zwischen den bestehenden Mächten auf Kosten der unterdrückten Klasse. Die Regierung und die Aristokratie kamen überein, die Emanzipationsfrage vorläufig zurückzustellen und sich wieder auf ausländische Abenteuer einzulassen. Daher der Geheimvertrag 1859 mit Louis Bonaparte und der offizielle Kongreß 1860 in Warschau mit den deutschen Fürsten. Der italienische Krieg hatte das Selbstvertrauen Österreichs genügend gebrochen, um es aus einem Hindernis in ein Werkzeug der außenpolitischen Pläne Rußlands zu verwandeln, und Preußen, welches sich dadurch lächerlich gemacht hatte, daß es im Verlauf des Krieges gleichzeitig die Miene ehrgeiziger Treulosigkeit und völliger Tatenlosigkeit zeigte, kann nicht umhin, da es von Frankreich an seinen rheinischen Grenzen bedroht ist, Österreichs Fußtapfen zu folgen. Es war einer der großen Irrtümer der Gothaer Partei, sich einzubilden, daß die Schläge, die Österreich wahrscheinlich von Frankreich erhalten würde, es in seine wesentlichen Teile auflösen müsse, so daß Deutsch-Österreich, losgelöst von seinen Banden zu Italien, Polen und Ungarn, leicht einem großen <181> deutschen Reich beitreten würde. Eine lange geschichtliche Erfahrung hat uns gezeigt, daß jeder Krieg, den Österreich mit Frankreich oder Rußland führt, Deutschland nicht von seiner Last befreit, sondern es den Plänen Frankreichs oder Rußlands unterwirft. Es wäre eine schlechte Politik dieser Mächte, Österreich mit einem großen Schlag in seine einzelnen Teile zu zersplittern, wenn sie die Kraft zu diesem Schlag besäßen; aber Österreich zu schwächen, um seinen verbleibenden Einfluß zu ihren Gunsten zu nutzen, war und muß immer das Hauptziel ihrer diplomatischen und militärischen Operationen sein. Nur eine deutsche Revolution mit einem Zentrum in Wien und einem in Berlin könnte das Habsburger Reich in Stücke schlagen, ohne die Integrität Deutschlands zu gefährden und ohne seine nichtdeutschen Gebiete unter französische oder russische Kontrolle zu bringen.

Der bevorstehende Warschauer Kongreß würde Louis Bonapartes Position in Frankreich sehr stärken, wenn die Aussicht auf einen Konflikt in Italien zwischen der wirklich nationalen Partei und der französischen Partei seine Chance nicht verderben würde. So wie es jetzt steht, muß man hoffen, daß der Warschauer Kongreß Deutschland endlich die Augen öffnen und ihm zeigen wird, daß es, um Übergriffen von außen zu widerstehen und Einheit und Freiheit im Innern zu verwirklichen, sich seiner dynastischen Herren im eigenen Haus entledigen muß.