Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 129-132.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Friedrich Engels

Der kranke Mann von Österreich

Geschrieben am 16. August 1860.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 6039 vom 1. September 1860, Leitartikel]

<129> Kaiser Franz Joseph von Österreich scheint nur deshalb leben zu sollen, damit er die Wahrheit der alten lateinischen Maxime beweisen kann, daß die Götter den, den sie vernichten wollen, erst wahnsinnig machen. Vom Beginn des Jahres 1859 an hat er nichts anderes getan, als jede Möglichkeit, die sich ihm bot, sich und das Kaiserreich Österreich zu retten, vorsätzlich mit Füßen zu treten. Der plötzliche Angriff auf Piemont mit nur einem Teil seiner Streitkräfte, Marschall Heß' Enthebung vom Oberbefehl durch den Kaiser und seine Clique, die Unentschlossenheit, die zu der Schlacht von Solferino führte, der plötzliche Friedensschluß gerade in dem Moment, als die Franzosen vor seinen stärksten Positionen angekommen waren, die eigensinnige Verweigerung aller Zugeständnisse bei der inneren Organisation des Kaiserreichs, bis es zu spät war - das sind eine Reihe von törichten Fehlern, die - in so kurzer Zeit von einem einzigen Individuum begangen ihresgleichen suchen.

Aber, wie es das Glück will, hat Franz Joseph noch eine andere Chance. Die schamlose Doppelzüngigkeit Louis-Napoleons machte jene Allianz zwischen Preußen und Österreich notwendig, die die vorangegangenen Demütigungen Österreichs, seine täglich zunehmenden Schwierigkeiten zu Hause und auswärts erst ermöglichten. Die Unterredungen von Baden und Teplitz besiegelten diese Allianz. Preußen, das zum ersten Mal als Repräsentant des übrigen Deutschlands handelte, versprach seinen Beistand, falls Österreich von Italien oder auch von Frankreich angegriffen würde, während Österreich versprach, Konzessionen an die öffentliche Meinung zu machen und seine Innenpolitik zu ändern. Hier war in der Tat eine Hoffnung für Franz Joseph. Einen Kampf mit Italien allein brauchte <130> er nicht zu fürchten, selbst wenn es in Ungarn Schwierigkeiten geben sollte, denn seine neue Politik wäre die beste Garantie für die Sicherheit in dieser Hinsicht. Mit einer separaten Verfassung auf der Basis der 1849 aufgehobenen wäre Ungarn zufrieden gewesen; eine liberale Verfassung für das ganze Kaiserreich hätte die augenblicklichen Wünsche des deutschen Kerns der Monarchie erfüllt und in großem Maße den separaten Tendenzen der slawischen Provinzen entgegengewirkt. Wenn die Finanzen erst einmal unter der Kontrolle des Volkes gewesen wären, hätte sich der Staatskredit von selbst erholt, und dasselbe Österreich, das jetzt schwach, arm, zerschlagen, erschöpft und eine Beute der inneren Uneinigkeit ist, würde bald wieder zu Kräften kommen, unter dem Schutze der 700.000 Bajonette, die Deutschland zu Österreichs Verteidigung bereithielt. Um all dies zu sichern, wurden von Österreich nur zwei Dinge verlangt: zu Hause eine wahrhaft liberale Politik zu betreiben, aufrichtig und ohne Vorbehalte, und in Venedig in der Defensive zu bleiben und das übrige Italien seinem Schicksal zu überlassen.

Aber weder das eine noch das andere, so scheint es, kann oder will Franz Joseph tun. Er kann weder seine Macht als absoluter Monarch, die sich täglich mehr und mehr in Dunst auflöst, über Bord werfen, noch kann er jene Position als Protektor der kleinen italienischen Tyrannen, die er bereits verloren hat, vergessen. Unaufrichtig, schwach und eigensinnig zugleich, scheint er vor seinen Schwierigkeiten im Innern zu einem Aggressionskrieg nach außen Zuflucht zu suchen und anstatt sein Reich durch Aufopferung einer Macht, die ihm sowieso aus den Händen schlüpft, zu festigen - sich wieder in die Arme seiner persönlichen Busenfreunde geworfen zu haben und einen Einfall in Italien vorzubereiten, der mit dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie enden kann.

Ganz gleich, ob eine Note oder andere Mitteilung von Wien nach Turin über die Frage der Landung Garibaldis in Kalabrien gesandt wurde oder nicht, ist es sehr wahrscheinlich, daß Franz Joseph sich entschlossen hat, diese Landung als einen Grund anzusehen, zugunsten des Königs von Neapel einzugreifen. Ob das so ist, werden wir bald sehen. Aber was mag die Ursache für diesen plötzlichen Umschwung der österreichischen Politik sein? Hat die kürzliche Verbrüderung mit Preußen und Bayern Franz Joseph den Kopf verdreht? Dem scheint nicht so; denn nach alledem war die Verbrüderung von Teplitz für ihn eine Demütigung und ein Triumph lediglich für Preußen. Will Franz Joseph die Armeen des Papstes und die des Königs von Neapel unter seiner Standarte sammeln, ehe Garibaldi sie zu Atomen zerschmettert und ihre italienischen Bestandteile mit seinen <131> eigenen Anhängern vereinigt hat? Das wäre ein sehr unzulängliches Motiv. In welchem Feldzug es auch sei - diesen Truppen wird nichts abgehen, während Österreich in der Situation, in die es sich durch solch eine törichte Aggression bringen wird, Mangel an allem leiden würde. Es kann keine andere Ursache geben als die Situation in der österreichischen Innenpolitik. Und hier brauchen wir nicht lange zu suchen. Der Reichsrat, verstärkt durch einige der konservativsten und aristokratischsten Elemente der verschiedenen Provinzen und in Friedenszeiten mit der Kontrolle der Finanzen des Landes betraut, diskutiert gerade die Frage der Volksvertretung und der Verfassungen für das Reich und die einzelnen Provinzen, aus denen es besteht. Die dafür von den ungarischen Mitgliedern eingebrachten Anträge bekamen eine überwältigende Mehrheit in dem Komitee und werden der Regierung zum Trotz in derselben triumphalen Weise im Rat bewilligt werden. Mit einem Wort, die zweite österreichische Revolution scheint begonnen zu haben. Der Reichsrat, eine schwache Kopie der französischen Notabeln, erklärt sich - genau wie jene es taten - als inkompetent und ruft nach den Generalständen. Die Regierung - in denselben finanziellen Schwierigkeiten wie die Ludwigs XVI. und noch schwächer infolge der divergierenden Tendenzen der verschiedenen Nationalitäten, aus denen das Reich besteht - ist nicht in der Lage, Widerstand zu leisten. Zugeständnisse, die der Regierung entrissen werden, werden sicher neue Zugeständnisse und Forderungen im Gefolge haben. Die Generalstände formierten sich bald zur Nationalversammlung. Franz Joseph fühlt den Boden unter seinen Füßen wanken und wird vielleicht, um dem drohenden Erdbeben zu entgehen, in einen Krieg flüchten.

Welches Ende wird es nehmen, wenn Franz Joseph seine Drohung wahrmacht und einen Kreuzzug für die Legitimität in Neapel und für den päpstlichen Staat beginnt? Es gibt nicht eine Macht und nicht einen Staat in Europa, der das geringste Interesse an der Aufrechterhaltung der Bourbonenherrschaft hat, und wenn Franz Joseph in ihrem Namen eingreift, wird er die Folgen zu tragen haben. Louis-Napoleon wird sicherlich zum Schutz des Prinzips der Nichteinmischung die Alpen überschreiten, und Österreich - die öffentliche Meinung ganz Europas völlig gegen sich, mit ruinierten Finanzen, einem Aufstand in Ungarn und mit einer tapferen, aber zahlenmäßig weit schwächeren Armee - wird fürchterlich geschlagen werden. Vielleicht wird Österreich dabei den Todesstoß erhalten. Daß ihm Deutschland zu Hilfe kommt, ist ganz ausgeschlossen. Die Deutschen werden sehr entschieden ablehnen, für den König von Neapel oder für den Papst zu kämpfen. Sie werden dafür sorgen, das Territorium des Bundes <132> respektiert zu sehen (was Frankreich und Italien nur zu gern akzeptieren werden), und wenn sich Ungarn erhebt, werden sie ebenso kühl zuschauen. Vielmehr werden die deutschen Provinzen des Kaiserreichs sogar sehr wahrscheinlich wie 1848 die Forderungen der Ungarn unterstützen und für sich selbst eine Verfassung fordern. Die österreichische Presse zeigt trotz der Einschränkung durch die Regierung selbst in Österreich unmißverständliche Zeichen weit verbreiteter Sympathien für Garibaldi. Die öffentliche Meinung verfolgt eine andere Richtung als im vergangenen Jahr. Venedig wird jetzt als ein sehr unvorteilhafter Besitz betrachtet, und den Kampf der Italiener für Unabhängigkeit betrachtet die Öffentlichkeit Wiens in einem günstigen Lichte, da er ohne französischen Beistand durchgeführt wird. Franz Joseph wird finden, daß es sogar äußerst schwierig sein wird, seine eigenen deutschen Untertanen zu veranlassen, sich der Sache der Bourbonen von Neapel, des Papstes und der unbedeutenden Herzöge von Emilia anzunehmen. Ein Volk, das im Begriff ist, eine Revolution gegen den Absolutismus durchzuführen, wird sich kaum für die dynastischen Interessen seines Herrschers einsetzen. Die Wiener haben das früher bewiesen, und es ist durchaus wahrscheinlich, daß der Übergang der österreichischen Truppen über den Po sowohl in Wien wie in Ungarn das Signal für die Anwendung schärferer Mittel durch die progressiven Kräfte werden kann.