Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 120-123.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Friedrich Engels

Garibaldis Bewegungen

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 6031 vom 23. August 1860]

<120> London, 8. August 1860

Die Krise in Süditalien ist nahe. Wenn wir den französischen und sardinischen Zeitungen glauben sollen, sind 1.500 Garibaldianer an der Küste Kalabriens gelandet, und Garibaldi wird stündlich erwartet. Aber sogar dann, wenn diese Nachricht verfrüht ist, steht es außer Zweifel, daß Garibaldi den Kriegsschauplatz noch vor Mitte August auf das italienische Festland verlegt haben wird.

Um die Bewegungen der Neapolitaner zu verstehen, muß man beachten, daß in ihrer Armee zwei entgegengesetzte Strömungen am Werk sind: die gemäßigte liberale Partei, offiziell an der Macht und durch das Ministerium repräsentiert, und die absolutistische Kamarilla, der die meisten Armeechefs angehören. Den Befehlen des Ministeriums wird mit den geheimen Befehlen des Hofes und mit den Intrigen der Generale entgegengewirkt. Daher auch die widersprechenden Bewegungen und widersprechenden Berichte. Heute hören wir, daß alle königlichen Truppen Sizilien verlassen sollen morgen - finden wir sie bei der Vorbereitung einer neuen Operationsbasis in Milazzo. Dieser Zustand ist allen halben Revolutionen eigen. Das Jahr 1848 lieferte in ganz Europa Beweise dafür.

Während das Ministerium vorschlug, die Insel zu räumen, versuchte Bosco, der in dem Haufen alter Weiber, die neapolitanische Generalsepauletten tragen, der einzige resolute Mann zu sein scheint, den nordöstlichen Winkel der Insel in aller Ruhe in ein Bollwerk zu verwandeln, von dem aus die Wiedereroberung der Insel hätte versucht werden können, und marschierte zu diesem Zweck mit einer ausgewählten Truppe der besten Soldaten, die in Messina zu finden waren, nach Milazzo. Hier stieß Bosco unerwartet auf die Garibaldianer der Brigade Medici. Er wagte jedoch <121> keinen ernsthaften Angriff. Inzwischen wurde Garibaldi davon unterrichtet und brachte Verstärkung. Nun griff der Befehlshaber der Insurgenten seinerseits die Royalisten an und besiegte diese nach einem hartnäckigen Kampf von ungefähr 12 Stunden vollständig. Die Kräfte waren auf beiden Seiten ziemlich gleich, die von den Neapolitanern besetzte Stellung aber war sehr stark. Jedoch weder Stellung noch Soldaten konnten dem Ansturm der Aufständischen widerstehen, die die Neapolitaner geradewegs durch die Stadt in die Zitadelle trieben. Hier blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu kapitulieren, und Garibaldi gestattete ihnen, sich einzuschiffen, jedoch ohne Waffen. Nach diesem Sieg marschierte er sofort nach Messina, wo der neapolitanische General einwilligte, die äußeren Forts der Stadt unter der Bedingung aufzugeben, daß er in der Zitadelle nicht behelligt würde. Diese Zitadelle, die nicht mehr als ein paar tausend Mann fassen kann, wird für Garibaldi niemals ein ernsthaftes Hindernis bei seinen offensiven Operationen darstellen. Deshalb tat er ganz recht, der Stadt ein Bombardement zu ersparen, das bei einem Angriff unvermeidlich gewesen wäre. Wie die Dinge liegen, muß diese Serie von Kapitulationen in Palermo, Milazzo und Messina mehr dazu beitragen, das Vertrauen der königlichen Truppen zu sich und ihren Führern zu zerstören als doppelt so viele Siege. Es ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, daß die Neapolitaner immer vor Garibaldi kapitulieren.

Von diesem Augenblick an wurde es dem sizilianischen Diktator möglich, an eine Landung auf dem Festlande zu denken. Seine Dampferflotte ist wahrscheinlich noch nicht groß genug, um ihm den Versuch einer Landung weiter nördlich, irgendwo sechs bis acht Tagesmärsche von Neapel entfernt, zum Beispiel im Golf von Policastro, zu gestatten. Er scheint sich deshalb entschlossen zu haben, die Meerenge, wo sie am schmalsten ist, zu überqueren, das heißt am äußersten nordöstlichen Punkt der Insel, nördlich von Messina. An diesem Punkt soll er etwa 1.000 Schiffe konzentriert haben, höchstwahrscheinlich die meisten von ihnen Fischer- oder Küstenfeluken, wie sie an jenen Küsten üblich sind. Wenn die Landung der 1.500 Mann unter Sacchi gelingen sollte, werden sie Garibaldis Avantgarde bilden. Der Punkt ist für einen Marsch nach Neapel nicht sehr günstig, da er auf einem von der Hauptstadt am weitesten entfernten Teile des Festlandes liegt. Doch wenn seine Dampferflotte nicht 10.000 Mann auf einmal befördern kann, so bleibt ihm keine andere Wahl, und er hat dann zumindest den Vorteil, daß die Kalabrier sich ihm gleich anschließen werden. Wenn er jedoch einige zehntausend Mann auf seine Dampfer pferchen und sich auf die Neutralität der königlichen Marine verlassen kann (die entschlossen zu <122> sein scheint, nicht gegen Italiener zu kämpfen), dann kann er noch ein paar Mann zum Schein in Kalabrien landen lassen und selbst mit dem Hauptteil zum Golf von Policastro oder sogar von Salerno gehen.

Die Garibaldi gegenwärtig zur Verfügung stehende Streitkraft besteht aus 5 Brigaden regulärer Infanterie, jede mit 4 Bataillonen; aus 10 Bataillonen Cacciatori dell'Etna <Ätnajägern>; aus 2 Bataillonen Cacciatori delle Alpi <Alpenjägern>, der Elite seiner Armee; einem ausländischen (jetzt italienischen) Bataillon unter Oberst Dunne, einem Engländer; einem Bataillon Genietruppen; einem Regiment und einer Schwadron Kavallerie und vier Bataillonen Feldartillerie - zusammen 34 Bataillone, 4 Schwadronen und 32 Geschütze, im ganzen ungefähr 25.000 Mann, von denen wohl mehr als die Hälfte Norditaliener, die übrigen aus anderen Gebieten Italiens sind. Fast die ganze Streitkraft kann zur Invasion Neapels verwendet werden, da die neuen Formationen, die man jetzt organisiert, bald ausreichen werden, um die Zitadelle von Messina zu beobachten und Palermo sowie die anderen Städte vor plötzlichen Angriffen zu schützen. Dennoch scheint diese Streitkraft sehr klein, verglichen mit der, über die die neapolitanische Regierung auf dem Papier verfügt.

Die neapolitanische Armee besteht aus drei Garderegimentern, fünfzehn Linienregimentern, vier ausländischen Regimentern mit je 2 Bataillonen oder zusammen 44 Bataillonen, aus 13 Jägerbataillonen, neun Kavallerie- und zwei Artillerieregimentern im ganzen 57 Bataillone und 45 Schwadronen Friedensbestand. Einschließlich der 9.000 Gendarmen, die ebenfalls vollständig militärisch organisiert sind, zählt diese Armee bei Friedensstand 90.000 Mann; doch während der letzten zwei Jahre wurde sie auf volle Kriegsstärke erhöht. Dritte Bataillone der Regimenter wurden organisiert, die Ersatzschwadronen wurden zum aktiven Dienst befohlen, die Garnisonstruppen wurden vervollständigt, und diese Armee besteht jetzt auf dem Papier aus über 150.000 Mann.

Doch was ist das für eine Armee! Für einen Martinetisten äußerlich zwar gut anzusehen, ist sie jedoch ohne Leben, ohne Geist, ohne Patriotismus und ohne Treue. Sie hat keine nationalen militärischen Traditionen. Wenn Neapolitaner als solche kämpften, wurden sie stets besiegt. Wenn überhaupt - dann waren sie nur unter Napoleon an Siegen beteiligt. Sie ist keine nationale Armee; sie ist eine ausgesprochen royalistische Armee. Sie wurde für den ausdrücklichen und ausschließlichen Zweck aufgestellt und organisiert, das Volk niederzuhalten. Aber sogar dafür scheint sie ungeeignet zu <123> sein. Es gibt in ihr eine Menge antiroyalistischer Elemente, die jetzt überall zum Durchbruch kommen. Besonders die Sergeanten und Korporale sind fast ohne Ausnahme Liberale. Ganze Regimenter rufen: "Viva Garibaldi!" Keine Armee erfuhr jemals solche Schmach wie die neapolitanische von Calatafimi bis Palermo, und wenn die ausländischen Truppen und einige Neapolitaner bei Milazzo gut kämpften, so darf man nicht vergessen, daß diese ausgesuchten Soldaten nur eine kleine Minderheit in der Armee bilden.

So ist es beinahe sicher, daß, wenn Garibaldi mit einer Streitkraft landet, die genügt, einige Erfolge auf dem Festland zu erringen, keine Konzentrierung neapolitanischer Massen imstande sein wird, ihm mit einiger Aussicht auf Erfolg entgegenzutreten; und wir dürfen nächstens erwarten, die Nachricht zu hören, daß er seinen triumphalen Weg mit 15.000 Mann gegen eine zehnfache Übermacht von Scilla bis Neapel fortsetzen wird.