Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 46-54.
1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998
Aus dem Englischen.
["New-York Daily Tribune" Nr. 5950 vom 19. Mai 1860]
<46> Berlin, 1. Mai 1860
Die Meinung, daß Louis Bonaparte im Begriff ist, die deutsche Frage auf die Tagesordnung zu setzen, herrscht in allen Klassen der Gesellschaft. In der heutigen "National-Zeitung" versichert ein Korrespondent sogar, er wisse aus höchst authentischen Quellen, daß Badinguet (wie Louis Bonaparte in Paris gewöhnlich genannt wird) sich definitiv zu einer rheinischen Kampagne entschlossen habe und daß Lord John Russell gerade von diesem Plan informiert worden sei, als er vor einigen Wochen aufstand, um das Unterhaus durch heftige Schmähungen gegen den Kaiser der Franzosen und die plötzliche Ankündigung zu erschrecken, daß England sich nun nach neuen Alliierten umsähe. Der Ton und die Heftigkeit der halbamtlichen französischen Zeitungen sind keineswegs geeignet, diese Besorgnisse zu zerstreuen. Lesen Sie z.B. den folgenden Auszug aus "Bullier's Correspondence", einer Pariser Publikation, aus der die meisten Provinzjournalisten in Frankreich ihre Inspiration bekommen:
"Einer meiner Freunde, der zu witzigen Prophezeiungen geneigt ist, sagte neulich zu mir: 'Sie werden sehen, daß der Kaiser an den Rhein geht, um dem König von Preußen seine Allianz und eine leichte Grenzberichtigung anzubieten.' Ich erwiderte mit einem Zitat aus dem Pamphlet 'Napoleon III. et l'Italie': 'Es ist besser, eine territoriale Veränderung auf freundschaftlichem Wege zu vereinbaren, als sie am Tage nach einem Siege vornehmen zu müssen.'"
Kurz nachdem der Handelsvertrag mit England abgeschlossen worden war, gab die französische Regierung dem preußischen Botschafter in Paris zu verstehen, daß ein Ansuchen um einen ähnlichen Vertrag zwischen <47> Frankreich und dem Zollverein günstig aufgenommen werden würde; als aber die preußische Regierung antwortete, daß der Zollverein keineswegs den Wunsch hege, einen solchen Vertrag abzuschließen, wurden Überraschung und Mißvergnügen in nicht gerade höflicher Form ausgedrückt. Überdies war die preußische Regierung vollständig informiert über die Verhandlungen, die Beauftragte Louis Bonapartes kürzlich mit dem bayrischen Hof aufgenommen hatten, um diesen zu veranlassen, die Festung Landau an Frankreich abzutreten, die, wie es heißt, Frankreich durch den Vertrag von 1814 überlassen, ihm aber unberechtigterweise durch den Vertrag von 1815 wieder abgenommen worden war. Die im Volke verbreiteten Gerüchte über einen bevorstehenden Bruch mit Frankreich werden so durch offiziellen Argwohn bestärkt.
Preußens Situation hat gegenwärtig in gewisser Hinsicht eine große Ähnlichkeit mit jener Österreichs nach Beendigung des Orientalischen Krieges <Krimkrieg 1853-1856>. Österreich schien damals von allen Mächten am besten davongekommen zu sein. Es schmeichelte sich, Rußland, seinen gefährlichen Nachbarn, gedemütigt zu haben, ohne sich, außer der Mobilisierung seiner Streitkräfte, weiteren Unannehmlichkeiten ausgesetzt zu haben. Da es den bewaffneten Vermittler gespielt hatte, während die Westmächte die Hauptlast des Krieges zu tragen hatten, konnte es sich nach der Proklamation des Friedens einbilden, durch die Waffen der westlichen Allianz das Übergewicht Rußlands beseitigt zu haben, das dieses seit den Ereignissen von 1849 in Ungarn über Österreich erlangt hatte; und es wurden damals tatsächlich viele Komplimente über die geschickte diplomatische Taktik des Wiener Kabinetts geäußert. In Wirklichkeit hat jedoch die zweideutige Haltung, die Österreich während des Orientalischen Krieges einnahm, es aller Verbündeten beraubt und Louis Bonaparte ermöglicht, den italienischen Krieg zu lokalisieren. Preußen seinerseits hat während des italienischen Krieges seine Ressourcen nicht berührt. Es schulterte die Waffen, hat sie jedoch nicht gebraucht und gab sich damit zufrieden, statt Blut die geduldige Tinte seiner politischen Wichtigtuer zu verspritzen. Nach dem Frieden von Villafranca schien Preußen das rivalisierende Haus Habsburg vermittels der französischen Siege geschwächt und sich den Weg zur Vorherrschaft in Deutschland frei gemacht zu haben. Allein schon die Vorwände, unter denen der Friede von Villafranca proklamiert wurde, hätten die Wahnvorstellungen zerstören müssen, an denen Preußen kränkelte. Während Louis Bonaparte erklärte, daß Preußens Aufrüstung und seine <48> Drohungen mit einer eventuellen Intervention das Schwert Frankreichs stumpf gemacht hätten, erklärte Österreich, daß seine eigene Widerstandskraft durch die zweifelhafte Neutralität Preußens zerstört worden sei. Während des ganzen Krieges hat Preußen einen Dünkel gezeigt, dem seine Taten geradezu lächerlich widersprachen. Österreich und den kleineren deutschen Staaten gegenüber berief es sich auf seine Pflichten als europäische Großmacht; England und Rußland gegenüber berief es sich auf seine Verpflichtungen als größte Macht in Deutschland, und seine Ansprüche auf diese doppelten Prätentionen stützend, verlangte es von Frankreich, als der bewaffnete Mittler in Europa anerkannt zu werden. Gemäß seinen Ansprüchen als deutsche Macht par excellence ließ Preußen es zu, daß Rußland in einem Zirkular von beispielloser Unverschämtheit die kleineren deutschen Fürsten einschüchterte, und lauschte in der Person des Herrn von Schleinitz ängstlich den geschwätzigen Vorträgen Lord John Russells über das "konstitutionelle" Völkerrecht.
Seine Ansprüche als europäische Großmacht erfüllte es, indem es die Kriegsgelüste der kleinen deutschen Fürsten besänftigte und versuchte, die militärischen Niederlagen Österreichs in ebenso viele Rechtsansprüche zu verwandeln, um sich des Platzes zu bemächtigen, den vorher sein Rivale in der Versammlung des Deutschen Bundes eingenommen hatte. Als es schließlich durch die Erfolge der französischen Waffen gezwungen wurde, so etwas wie eine kriegerische Haltung einzunehmen, begegnete Preußen dem kalten Widerstand der kleinen deutschen Staaten, denen es kaum der Mühe wert schien, ihr Mißtrauen gegenüber den endgültigen Absichten des preußischen Hofes zu verleugnen. Der Friede von Villafranca fand Preußen nicht nur in Europa, sondern auch in Deutschland vollständig isoliert, während die nachfolgende Annexion von Savoyen, welche die exponierte Grenze Frankreichs bedeutend verkürzte, dessen Chancen für einen siegreichen Feldzug am Rhein wesentlich verbessert hat.
Unter diesen Umständen erweist sich die politische Linie, die Preußen jetzt einzuschlagen beliebt, sowohl in ihren inneren wie auch in ihren auswärtigen Beziehungen als gleichermaßen falsch. Trotz aller prahlerischen Deklamationen der preußischen Zeitungen und Vertretungskörperschaften ist in seinen inneren Angelegenheiten nichts geändert worden außer der Phraseologie seiner Beamten. Die Heeresreformanträge, die keineswegs die militärische Kraft für die drohende schwierige Lage stärken, zielen auf eine ständige Vergrößerung des stehenden Heeres, das bereits zu groß ist, auf die Überbelastung der finanziellen Ressourcen, die bereits zu sehr beansprucht sind, und auf die Vernichtung der einzigen demokratischen <49> Institution des Landes – der Landwehr < Landwehr: in der "N.-Y. D. T." deutsch>. Alle reaktionären Gesetze über die Presse, das Assoziationsrecht, die Gemeindeverwaltung und die Beziehungen zwischen Gutsbesitzern und Bauern, die bürokratische Bevormundung, die Allgegenwart der Polizei wurden sorgfältig aufrechterhalten. Selbst die infamen Paragraphen, die sich auf Heiraten zwischen Adligen und Menschen einfacher Herkunft beziehen, sind nicht aufgehoben worden. Die bloße Idee, die Verfassung wiederherzustellen, die durch einen coup d'état beseitigt wurde, wird als phantastischer Traum ausgezischt.
Ich will Ihnen ein einziges Beispiel für die bürgerliche Freiheit geben, die ein preußischer Untertan jetzt genießt. Ein geborener Rheinpreuße wurde während der schlimmsten Periode der Reaktion durch ein parteiisch zusammengesetztes Schwurgericht wegen einer damals als politisches Verbrechen bezeichneten Tat zu sieben Jahren Haft in einer preußischen Festung verurteilt. Nach Ablauf der Haftzeit, die durch das liberale Ministerium nicht verkürzt wurde, begab er sich nach Köln, wo er auf Anordnung der Polizei ausgewiesen wurde. Er machte sich dann auf den Weg nach seiner Heimatstadt, wurde jedoch – seltsam genug – von den Behörden informiert, daß er, weil er sich sieben Jahre lang von diesem Ort ferngehalten habe, sein Bürgerrecht verloren habe und sich nach einem anderen Aufenthaltsort umsehen müsse. Er machte geltend, daß seine Abwesenheit keine freiwillige gewesen sei, aber alles vergeblich. Aus Berlin, wohin er dann ging, wurde er wieder ausgewiesen unter dem Vorwand, daß er außer seinen persönlichen Ressourcen an Arbeitskraft und Wissen keine Existenzmittel vorzuweisen hätte, da sein ganzes Eigentum während seiner Haft verbraucht worden wäre. Er nahm schließlich seine Zuflucht nach Breslau, wo ein alter Bekannter ihn als Angestellten beschäftigte; aber eines Morgens wurde er zur Polizei befohlen und ihm mitgeteilt, daß seine Aufenthaltserlaubnis nur für einige Wochen verlängert werden könnte, wenn er nicht inzwischen in Breslau Bürgerrecht erlange. Auf seinen Antrag bei der Stadtverwaltung in Breslau wurden ihm viele kleinliche Schwierigkeiten in den Weg gelegt, die durch die Vermittlung eifriger Freunde beseitigt wurden, worauf endlich sein Antrag auf Zuerkennung des Bürgerrechts bewilligt wurde, aber gleichzeitig mit der Bewilligung erhielt er eine große Rechnung mit einer Reihe von Gebühren, die jeder glückliche Sterbliche bei seiner Aufnahme in die Reihen der Breslauer Bürger zu zahlen hat. Wenn seine Freunde nicht den Weg gefunden hätten, durch Zusammen- <50> legen die geforderte Summe aufzubringen, hätte dieser preußische Untertan wie der Ewige Jude in seinem ruhmreichen Vaterlande keinen Platz gefunden, wo er sein Haupt zur Ruhe betten konnte.
["New-York Daily Tribune" Nr. 5950 vom 19. Mai 1860]
Berlin, 2. Mai 1860
Nach dem Friedensschluß von Villafranca schien bei der preußischen Regierung – die sich seit Monaten in der eitlen Hoffnung gewiegt hatte, als der bewaffnete Mittler Europas anerkannt zu werden und auf der Ruine der Habsburger Monarchie das Gebäude von Hohenzollerns Größe zu errichten – das Verständnis für die ungeheuren Gefahren, die in der Zukunft drohen, zu dämmern. Ihre Politik, unentschlossen, schwankend und verräterisch zugleich, hatte sie der Verbündeten beraubt, und sogar von Schleinitz, dessen weitschweifige Depeschen ein ständiger Ulk für die diplomatische Welt geworden waren, konnte sich kaum die Wahrheit verhehlen, daß, sobald Frankreichs innere Lage den Mann des Dezember <Napoleon III.> wieder über die französischen Grenzen hinausdrängen würde, Preußen das prädestinierte Objekt eines neuen lokalisierten Krieges wäre.
Hatte nicht Louis-Napoleon in einem Augenblick augenscheinlicher Offenherzigkeit einige Worte darüber fallenlassen, die zeigten, daß er wisse, was Deutschland braucht – nämlich die Einheit, daß er der Mann wäre, sie zu verwirklichen, und daß die rheinischen Provinzen kein zu hoher Preis für den Erwerb einer so kostbaren Ware wären. Getreu der Tradition von Preußens Vergangenheit war die erste Idee des Prinzregenten und seiner Anhänger, sich der Gnade Rußlands auszuliefern. Hatte nicht Friedrich Wilhelm I. durch einen mit Peter dem Großen gegen Karl XII. von Schweden abgeschlossenen Teilungsvertrag Pommern erworben? Hatte nicht Friedrich II. im Siebenjährigen Kriege den Sieg davongetragen und Schlesien annektiert, weil sich Rußland von seinem österreichischen Verbündeten zurückzog? Hatten nicht die mehrfachen Teilungen Polens, die zwischen dem Berliner Hof und dem Petersburger Hof vereinbart wurden, die winzigen Dimensionen der preußischen Monarchie aufgebläht? War nicht auf dem Wiener Kongreß die unbegrenzte Unterwürfigkeit Friedrich Wilhelms III., der Alexander I. beistand, als 1814 England, Österreich und Frankreich Anzeichen von Opposition und <51> Widerstand erkennen ließen, mit der Einverleibung Sachsens und der Rheinprovinz zu Preußen belohnt worden? Mit einem Wort: Preußen hatte bei seinen Eingriffen in Deutschland stets den Schutz und die Unterstützung Rußlands genossen, selbstverständlich unter der ausdrücklichen Bedingung, dieser letzteren Großmacht zu helfen, die an das Vaterland grenzenden Länder zu unterwerfen und auf der europäischen Bühne die Rolle seines bescheidenen Vasallen zu spielen. Im Oktober 1859 trafen sich der Prinzregent und Alexander II., von Diplomaten, Generalen und Höflingen umgeben, in Breslau, um dort einen Vertrag abzuschließen, dessen Artikel bis jetzt ein unergründliches Geheimnis geblieben sind, zwar nicht für Louis Bonaparte oder Lord Palmerston, wohl aber für die preußischen Untertanen, deren liberale Vertreter sich natürlich viel zu höflich zeigten, um Herrn von Schleinitz, den Außenminister, in einer so delikaten Frage zu interpellieren. Soviel jedoch ist sicher, daß die bonapartistische Presse sich durch die Breslauer Konferenz nicht beirren ließ, daß seither die Beziehungen zwischen Rußland und Frankreich auffällig intimer geworden sind und daß diese Konferenz Louis Bonaparte weder daran hindern konnte, sich Savoyens zu bemächtigen, noch der Schweiz mit einer unvermeidbaren "Berichtigung der Rheingrenzen" zu drohen; und endlich, daß Preußen selbst, trotz der angenehmen Aussicht, Rußlands Avantgarde sein zu dürfen, in letzter Zeit eifrig nach dem Köder einer Allianz mit England geschnappt hat, der in London nur ausgeworfen wurde, um das britische Unterhaus ein oder zwei Wochen lang zu amüsieren.
Daß jedoch Lord John Russell die Koketterie des Herrn von Schleinitz mit den Tuilerien während des letzten italienischen Krieges in einem Blaubuch indiskret ausplauderte, versetzte der englisch-preußischen Allianz, die die preußische Regierung einen Augenblick lang für einen wirklich in Erwägung gezogenen Plan gehalten hatte, den Todesstoß. In London aber wußte man, daß das nichts als eine Phrase war, die einen parlamentarischen Winkelzug verbarg. Nach alledem ist Preußen jetzt trotz der Konferenz mit Alexander II. in Breslau und Lord John Russells "Suche nach neuen Verbündeten" genau wie nach dem Frieden von Villafranca vollständig isoliert und ganz allein der französischen Theorie von den natürlichen Grenzen ausgesetzt.
Ist es überhaupt zu fassen, daß unter solch mißlichen Umständen der einzige Ausweg, auf den die preußische Regierung verfiel, darin liegt, ihren Plan von einem kleinen Deutschland mit einem Hohenzollern an der Spitze zu erneuern und durch die unverschämtesten Provokationen nicht nur Österreich ins feindliche Lager zu treiben, sondern sich ganz Süddeutsch- <52> land zu entfremden? Und doch – so unglaublich es erscheinen mag, und um so unglaublicher, da diese politische Linie von der bonapartistischen Presse eifrig empfohlen wird – ist dies der Fall. Je näher die Gefahr heranrückt, um so begieriger ist Preußen, seinen Hunger nach einer neuen Teilung Deutschlands zur Schau zu stellen. Nebenbei, es ist sehr wahrscheinlich, daß nach dem Österreich versetzten Schlag Deutschland es nötig hat, daß Preußen ein ähnlicher Schlag versetzt wird, um "die beiden Häuser" loszuwerden, aber auf alle Fälle wird niemand den Prinzregenten und Herrn von Schleinitz verdächtigen, nach so pessimistischen Grundsätzen zu handeln. Seit dem Frieden von Villafranca wurden die politischen Absichten des Regenten in kleinen Pressescharmützeln und kurzen, gelegentlichen Debatten über die italienische Frage verraten, doch am 20. April wurde im preußischen Abgeordnetenhaus anläßlich der Debatten über die kurhessische Frage die Katze aus dem Sack gelassen.
Ich habe diese kurhessische Frage Ihren Lesern bereits erklärt und werde mich daher jetzt darauf beschränken, in wenigen Worten die Hauptpunkte darzulegen, um die sich die Debatten drehten. Als die kurhessische Verfassung von 1831 durch den Kurfürsten 1849/1850 unter Österreichs Schutz beseitigt worden war, befiel Preußen einen Augenblick das Verlangen, zugunsten der protestierenden Abgeordnetenkammer das Schwert zu ziehen; aber im November 1850, bei dem Treffen zwischen dem Fürsten Schwarzenberg und Baron Manteuffel in Olmütz, als Preußen sich Österreich völlig unterwarf, die Wiederherstellung des alten Deutschen Bundestages bestätigte, Schleswig-Holstein verriet und alle Herrschaftsansprüche widerrief, gab es auch seine Haltung als fahrender Ritter zugunsten der kurhessischen Verfassung von 1831 auf.
Im Jahre 1852 oktroyierte der Kurfürst eine neue Verfassung, die vom Deutschen Bundestag trotz des Protestes der kurhessischen Bevölkerung bestätigt wurde. Nach dem italienischen Krieg wurde die Frage, insgeheim von Preußen angeregt, erneut erörtert. Die kurhessischen Kammern erklärten sich wieder für die Rechtsgültigkeit der Verfassung von 1831, und neue Eingaben für ihre Wiederherstellung ergingen an den Bundestag in Frankfurt. Preußen erklärte darauf, daß die Verfassung von 1831 allein Gültigkeit habe, aber sie sollte, wie man vorsichtig hinzufügte, den monarchistischen Prinzipien des Bundestages angepaßt werden. Österreich dagegen bestand darauf, daß die Verfassung von 1852 legal sei, aber in liberalem Sinne verbessert werden müsse. So war der Disput ein bloßes Wort- <53> gefecht, eine Sophisterei; im Grunde genommen war es ein Machtkampf zwischen den Hohenzollern und den Habsburgern im Deutschen Bund. Eine sehr große Mehrheit des Bundestages entschied sich schließlich für die Gültigkeit der Verfassung von 1852, d.h. für Österreich gegen Preußen. Die Motive, welche den Beschluß der kleineren deutschen Staaten beeinflußten, waren durchsichtig. Sie wußten Österreich zu sehr in äußere Schwierigkeiten verstrickt und zu unpopulär, um irgend etwas zu versuchen, was über die Erhaltung des allgemeinen status quo in Deutschland hinausgeht, während sie Preußen im Verdacht hatten, ehrgeizige Neuerungspläne zu hegen. Wenn sie die Kompetenz des Bundestagsbeschlusses von 1851 nicht anerkannt hätten, wäre die Kompetenz aller Entscheidungen des Bundestages seit 1848 aufs Spiel gesetzt worden. Schließlich billigten sie nicht die Strategie Preußens, allen kleinen deutschen Fürsten zu diktieren und deren Souveränität dadurch zu schmälern, daß es danach trachtete, die Beschwerden des kurhessischen Volkes gegen den Kurfürsten aufzugreifen. Infolgedessen kam der Antrag Preußens nicht durch.
Nun erklärte am 20. April, als diese Sache in Berlin im Abgeordnetenhaus zur Debatte stand, Herr von Schleinitz im Namen der preußischen Regierung ausdrücklich, daß Preußen sich durch den Beschluß des Deutschen Bundestages nicht gebunden fühle; daß 1850, als die preußische Verfassung zustande kam, kein Deutscher Bundestag existierte, da diese Körperschaft durch das Erdbeben von 1848 weggefegt worden war, woraus zu schließen ist, daß alle Beschlüsse des Deutschen Bundestages, die den Plänen der preußischen Regierung zuwiderliefen, der Gesetzeskraft ermangelten; und schließlich, daß der Deutsche Bundestag in Wirklichkeit zu den Toten gehöre, obgleich der Deutsche Bund natürlich weiter existiere. Kann man sich einen törichteren Schritt seitens der preußischen Regierung vorstellen? Die österreichische Regierung erklärte, daß die alte Verfassung des Deutschen Reiches erledigt sei, nachdem Napoleon I. sie ausgelöscht hatte. Habsburg verkündete damit nur eine Tatsache. Die Hohenzollern dagegen proklamieren nun die Nichtigkeit der Bundesverfassung Deutschlands in einem Augenblick, da Deutschland durch einen ausländischen Krieg bedroht wird, als ob es dem Mann des Dezember einen Vorwand liefern wollte, separate Bündnisse mit den kleineren deutschen Staaten einzugehen, die bisher durch die Gesetze des Bundestages an einem solchen Vorgehen gehindert waren. Hätte Preußen das Recht der Revolution von 1848 verkündet und alle konterrevolutionären Handlungen, die es selbst und der Bundestag seitdem begangen haben, für ungültig <54> erklärt sowie die Wiederherstellung aller Institutionen und Gesetze der revolutionären Epoche proklamiert, dann würde es die Sympathien ganz Deutschlands, einschließlich Deutsch-Österreichs, erworben haben. So, wie es jetzt ist, hat es nur die deutschen Fürsten entzweit, ohne das deutsche Volk zu einen. Es hat in der Tat die Tür geöffnet, durch welche die Zuaven hereingelassen werden können.