Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 39-42.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Karl Marx

Die allgemeine Stimmung in Berlin

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5932 vom 28. April 1860]

<39> Berlin, 10. April 1860 Wenn ein intelligenter Ausländer, der Berlin vor nur zwei Monaten besuchte und es dann verließ, jetzt zu dieser "Metropole des Geistes" zurückkäme, müßte ihm die völlige Veränderung in Physiognomie, Ton und Stimmung "meiner lieben Berliner" <"meiner lieben Berliner": in der "N.-Y. D. T." deutsch und englisch> unfehlbar sofort ins Auge fallen. Noch vor einigen Monaten ging in allen Schichten der Gesellschaft der Metropole vages Gerede um. Die Leute gratulierten einander in gedämpftem Tone dazu, daß das Schlimmste vorüber sei und das Gespenst einer zehnjährigen Reaktion endlich aufgehört habe, ihren Geist zu knebeln. Dieses absurde Thema erklang in allen Tonarten, mit dem unvermeidlichen Beigeschmack, daß die Veränderung nicht durch nachdrückliche und heilsame Bemühungen seitens der preußischen Untertanen herbeigeführt worden war, sondern vielmehr durch den krankhaften Zustand im Kopfe des preußischen Königs – daß die Veränderung also ein Werk der Natur und nicht Menschenwerk war. Dieser unbehagliche Beigeschmack trübte sogar die ersten Freuden der Neuen Ära, die die stumpfpinnig-dürren Federn der Berliner Tagespresse triumphierend verkündet hatten. So groß war der allgemeine Kleinmut, daß, um den Prinzregenten nicht aus seinem neumodischen Liberalismus aufzuschrecken, alle Kandidaten bei der allgemeinen Wahl zur Zweiten Kammer dieser einfältigen Probe unterzogen wurden: Bringen sie dem vom Prinzregenten eingesetzten Hohenzollernkabinett Vertrauen entgegen? Sind ihre Namen dem milden Liberalismus <40> der neuen Regierung in keiner Weise abträglich? Statt Männern, die sich der Nöte des Landes annahmen, wurden Steigbügelhalter mit williger Stimme für das Kabinett gewünscht. Daß das neue Kabinett die von seinen Vorgängern geschmiedeten Bürokratie- und Polizeifesseln überhaupt nicht anrührte, während seine eigenen Glaubensbekenntnisse durch nachgiebige Doppelzüngigkeit, ängstliche Vorsicht und zweideutige Verschwiegenheit gekennzeichnet waren – vor diesen Tatsachen verschloß man die Augen; und darüber hinaus wurde es als patriotische Pflicht proklamiert, davor die Augen zu verschließen. Alle oppositionellen Zeitungen, ob sie sich konstitutionell oder demokratisch nannten, verwandelten sich plötzlich in Regierungsblätter. Nach dem Frieden von Villafranca, als Herr von Schleinitz, der preußische Außenminister, eine Art Blaubuch über den italienischen Krieg veröffentlichte; als seine Depeschen, wahre Muster unentschlossener Weitschweifigkeit, ihn als den würdigen Nachfolger der Männer zeigten, die im vorigen Jahrhundert den Baseler Frieden geschlossen und in diesem Jahrhundert die Katastrophe von Jena vorbereitet hatten; als wir ihn ergeben Lektionen über Konstitutionalismus vom Kleinen Johnny <John Russell>, dem britischen Hans-Dampf-in-allen-Gassen, entgegennehmen, vor dem Fürsten Gortschakow im Staube kriechen, mit dem Manne des Dezember <Napoleon III.> billets doux <Liebesbriefchen> tauschen und über seinen österreichischen Kollegen überheblich die Stirne runzeln sahen; bis endlich all seine Geschäftsfreunde sich gegen ihn stellten – selbst damals schwangen sich die preußische Presse und unsere Berliner Liberalen zu wahren Begeisterungsausbrüchen über den von der preußischen Regierung bewiesenen außerordentlichen Verstand auf, die, nicht zufrieden damit, selber nichts zu tun, es fertigbrachte, auch Deutschland an jeder Aktion zu hindern. Bald danach fand in Breslau eine Zusammenkunft zwischen dem russischen Zaren und Gortschakow auf der einen und dem Prinzregenten mit seinen ministeriellen Satelliten auf der anderen Seite statt. Ein neues Dokument über die vasallische Abhängigkeit Preußens von seinem moskowitischen Nachbarn wurde rechtmäßig unterzeichnet – dies war das erste, aber notwendige Resultat des Friedens von Villafranca. Selbst im Jahre 1844 hätte ein solches Ereignis einen Sturm der Opposition im ganzen Land hervorgerufen. Jetzt wurde es als ein Beweis weitblickender Staatsklugheit gepriesen. Der Nihilismus der auswärtigen Politik des Prinzregenten, zusammen mit dem weiterbestehenden, mit der Bürokratie verbundenen alten reaktionären Feudalsystem, das nur dem Namen nach aufgegeben war, <41> schien unseren Freunden, den Berliner Liberalen und der preußischen Presse aller Schattierungen, mit Ausnahme der speziellen Organe der alten Kamarilla, Grund genug, die Kaiserkrone Kleindeutschlands (d.h. Deutschland minus Deutsch-Österreich) für den Repräsentanten der preußischen Dynastie zu beanspruchen. Es ist schwierig, in den Geschichtsannalen ein ähnliches Beispiel von Blindheit zu finden, aber wir erinnern daran, daß nach der Schlacht von Austerlitz Preußen ebenfalls einige Tage auf seinem eigenen Misthaufen krähte, quasi re bene gesta <als ob alles gut abgelaufen sei>.

Nach dem Ende des italienischen Krieges war es ein ebenso klägliches wie widerliches Schauspiel, die preußische Presse mit den Berliner Zeitungen an der Spitze zu hören. Statt auch nur die geringste Kritik an der stupiden Diplomatie ihrer eigenen Herrscher zu wagen, statt das "liberale" Ministerium kühn aufzufordern, endlich in den inneren Angelegenheiten die breite Kluft zwischen dem Angeblichen und dem Wirklichen zu überwinden, statt die stillen, aber hartnäckigen Eingriffe in die bürgerliche Freiheit, die sich das noch behaglich in seinen alten Festen verschanzte Heer der Manteuffelschen Beamten herausnimmt, öffentlich anzuprangern, hörte man sie Loblieder auf den Glanz des wiederhergestellten Preußens singen, sah man sie ihre stumpfen Pfeile auf das gedemütigte Österreich schleudern, ihre entnervten Hände nach der deutschen Kaiserkrone ausstrecken und sich zum äußersten Erstaunen ganz Europas wie Wahnsinnige in einem Narrenparadiese benehmen. Alles in allem schien es, als ob das große internationale Drama, das jetzt auf der europäischen Bühne gespielt wird, unsere Berliner Freunde nur als Zuschauer angeht, die von der Galerie oder vom Parkett her zu applaudieren oder auszupfeifen, aber nicht zu handeln haben.

Alles dies hat sich jetzt wie durch einen Zauberstab verwandelt. Berlin ist in diesem Augenblick, vielleicht mit Ausnahme von Palermo und Wien, die revolutionärste Stadt in Europa. Die Gärung erfaßt alle Schichten und scheint stärker als in den Märztagen 1848. Wie ist dieses Phänomen zustande gekommen und noch dazu so plötzlich? Durch das Zusammentreffen von Ereignissen, an deren Spitze Louis Bonapartes letzte Großtaten einerseits und die von der liberalen Regierung vorgeschlagene neue Heeresreform andererseits stehen. Infolgedessen konnte der Zustand der Vertrauensseligkeit und der willigen Selbsttäuschung natürlich nicht ewig dauern. Ferner haben die Zwischenfälle dazu beigetragen, die das Ministerium zwangen, den Polizeidirektor Stieber zu entlassen – jenen gemeinen <42> Verbrecher, der zusammen mit seinem Herrn, dem verstorbenen Hinkeldey, seit 1852 ständig die höchste Macht in Preußen ausübte, und last not least hat die Veröffentlichung von Humboldts Briefwechsel mit Varnhagen von Ense das übrige getan. Das Narrenparadies ist vor dem Hauch von jenseits des Grabes verschwunden.