Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 27-38.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Friedrich Engels

Über gezogene Kanonen

Geschrieben März/April 1858.
Aus dem Englischen.


["New York Daily Tribune" Nr. 5914 vom 7. April 1860]

I

<27> Die ersten Versuche, die Schußweite und Präzision der Geschütze durch Züge in der Rohrwand zu vergrößern und damit dem Geschoß eine Drehung senkrecht zur Fluglinie zu geben, stammen aus dem 17. Jahrhundert. In München gibt es eine kleine Kanone mit gezogenem Rohr, die 1694 in Nürnberg hergestellt wurde; das Rohr hat acht Züge und ein Kaliber von ungefähr zwei Zoll. Während des ganzen 18. Jahrhunderts wurden sowohl in Deutschland als auch in England Experimente mit gezogenen Geschützen vorgenommen, von denen einige Hinterlader waren. Obwohl es sich nur um kleine Kaliber handelte, erzielte man sehr zufriedenstellende Resultate. Die englischen Zweipfünder von 1776, mit einer Schußweite von 1.300 Yard, ergaben eine seitliche Abweichung von nur zwei Fuß – ein Grad von Genauigkeit, den keine andere Schußwaffe dieser Zeit auch nur annähernd erreichen konnte. Im gleichen Jahr wurden diese gezogenen Geschütze erstmalig zum Feuern von Langgeschossen verwandt.

Diese Experimente blieben jedoch lange Zeit ohne jedes praktische Ergebnis. Die militärischen Anschauungen dieser Zeit wandten sich ganz und gar gegen gezogene Waffen. Selbst die Büchse war damals ein sehr plumpes Instrument, das Laden eine langwierige und mühsame Angelegenheit, die beträchtliche Handfertigkeit verlangte. Sie war in einer Zeit, in der das Schnellfeuer sowohl der deployierten Linien, der Kolonnenspitzen als auch der Schützen eines der Haupterfordernisse der Schlacht war, eine für die allgemeine Kriegführung ungeeignete Waffe. Napoleon duldete keine gezogenen Gewehre in seiner Armee; in England und Deutschland wurden nur wenige Bataillone damit bewaffnet; lediglich in Amerika und in der Schweiz blieb die Büchse Nationalwaffe.

<28> Der algerische Krieg war der Anlaß, das gezogene Gewehr wieder in Kredit zu bringen und seine Konstruktion zu vervollkommnen; diese Verbesserungen waren nur der Beginn jener gewaltigen Umwälzung im gesamten System der Feuerwaffen, die selbst jetzt noch weit von ihrem Abschluß entfernt ist. Die glattläufigen Musketen der Franzosen konnten sich mit den langen Espingardas der Araber nicht messen; ihre größere Länge und das bessere Material, die eine schwerere Ladung zuließen, ermöglichten den Kabylen und Beduinen, aus einer Entfernung auf die Franzosen zu schießen, in der das Regulationsgewehr völlig wirkungslos war. Der Herzog von Orleans, der die preußischen und österreichischen Chasseure gesehen und bewundert hatte, organisierte nach ihrem Vorbild die französischen Chasseure, die in bezug auf Bewaffnung, Ausrüstung und Taktik bald die besten Truppen ihrer Art in der Welt wurden. Das gezogene Gewehr, mit dem man sie bewaffnete, war der alten Büchse um ein vielfaches überlegen und erfuhr alsbald weitere Veränderungen, die schließlich die allgemeine Einführung der gezogenen Gewehre in der gesamten Infanterie Europas zur Folge hatten.

Nachdem so die Schußweite des Infanteriefeuers von 300 auf 800 und selbst auf 1.000 Yard erhöht worden war, entstand die Frage, ob die Feldartillerie, die bisher alle Entfernungen von 300 bis zu 1.500 Yard beherrscht hatte, noch in der Lage sein würde, sich gegen die neuen Handfeuerwaffen zu behaupten. In der Tat lag die größte Wirksamkeit der gewöhnlichen Feldgeschütze gerade bei jener Schußweite, die jetzt vom gezogenen Gewehr ebenfalls erreicht wurde; Kartätschen waren über 600 oder 700 Yard hinaus kaum wirksam. Vollkugeln der Sechs- und Neunpfünder ergaben über 1.000 Yard hinaus keine sehr zufriedenstellenden Resultate, und um durchschlagend zu wirken, erforderten Schrapnells (runde Kartätschen) Kaltblütigkeit und genaues Schätzen der Entfernungen, Qualitäten also, die nicht immer auf dem Schlachtfeld zu finden sind, wenn der Feind vorrückt; auch das Granatenfeuer der alten Haubitzen gegen Truppen war alles andere als zufriedenstellend. Solche Armeen, die wie die englische den Neunpfünder als kleinstes Kaliber hatten, waren noch am besten dran; der französische Achtpfünder und noch mehr der deutsche Sechspfünder wurden nahezu unbrauchbar. Um dem abzuhelfen, führten die Franzosen ungefähr zu Beginn des Krimkrieges Louis-Napoleons sogenannte Erfindung, den leichten Zwölfpfünder, canon obusier, ein, aus dem Vollgeschosse mit einer Ladung, die statt eines Drittels nur ein Viertel des Geschoßgewichts betrug, sowie Granaten gefeuert werden konnten. Diese Kanone stellte lediglich eine Nachahmung des englischen leichten Zwölfpfünders dar, der <29> von den Engländern bereits wieder aufgegeben worden war. Das System, Hohlgeschosse aus langen Geschützen zu feuern, war in Deutschland schon lange gebräuchlich, so daß an dieser angeblichen Verbesserung absolut nichts Neues war. Jedoch hätte eine Bewaffnung der gesamten französischen Artillerie mit Zwölfpfündern, selbst mit verminderter Schußweite, dieser eine entschiedene Überlegenheit über die alten Sechs- und Achtpfünder gegeben. Um dem zu begegnen, entschloß sich die preußische Regierung 1859, ihre gesamte Fußartillerie mit schweren Zwölfpfündern auszurüsten. Das war der letzte Schritt in der Entwicklung des glattläufigen Geschützes; er zeigte, daß die ganze Angelegenheit erledigt und die Verteidiger der glatten Läufe ad absurdum geführt worden waren. Es konnte in der Tat nichts unsinniger sein, als die gesamte Artillerie einer Armee mit diesen schwerfälligen, unbeholfenen preußischen Zwölfpfündern zu bewaffnen, und das zu einer Zeit, in der Beweglichkeit und Schnelligkeit beim Manövrieren das allerwichtigste Erfordernis ist. Da der leichte französische Zwölfpfünder nur gegenüber anderer Artillerie eine relative Überlegenheit, aber gegenüber den neuen Handfeuerwaffen überhaupt keine Überlegenheit besaß und der schwere preußische Zwölfpfünder eine handgreifliche Absurdität war, so blieb nichts weiter übrig, als entweder die Feldartillerie völlig fallenzulassen oder gezogene Geschütze zu übernehmen.

Inzwischen waren in verschiedenen Ländern die Experimente mit gezogenen Geschützen ständig weitergeführt worden. In Deutschland experimentierte der bayrische Oberstleutnant Reichenbach schon 1816 mit einer kleinen gezogenen Kanone und einem zylindrisch-konoidalen Geschoß. In bezug auf Schußweite und Präzision waren die Ergebnisse sehr zufriedenstellend, aber die Schwierigkeiten des Ladens und nicht der Sache selbst entspringende Hindernisse vereitelten die Weiterführung des Experiments. Im Jahre 1846 konstruierte der Piemontese Major Cavalli einen gezogenen Hinterlader, der beträchtliches Aufsehen erregte. Sein erstes Geschütz war ein Dreißigpfünder, der mit einem zylindrisch-konoidalen Hohlgeschoß von 64 Pfund Gewicht und mit 5 Pfund Pulver geladen wurde. Bei einer Elevation von 143/4 Grad erzielte er eine Schußweite (bei Messung des ersten Aufschlages) von 3.050 Metern, das heißt 3.400 Yard. Ein wichtiges Ergebnis seiner Experimente (bis in die letzte Zeit teils in Schweden, teils in Piemont fortgeführt) war die Entdeckung, daß alle aus gezogenen Geschützen abgefeuerten Geschosse eine regelmäßige, durch den Drallwinkel verursachte seitliche Abweichung haben, und zwar immer nach der Seite, nach der die Züge laufen. Nachdem dies festgestellt worden war, erfand Cavalli auch die sogenannte seitliche oder horizontale Tangentenskala zur <30> Korrektur der Abweichung. Die Ergebnisse seiner Experimente waren höchst befriedigend. Bei Turin ergab im Jahre 1854 sein Dreißigpfünder mit einer Ladung von 8 Pfund und einem 64 Pfund schweren Geschoß folgende Resultate:

Elevation

Schußweite

Seitliche unregelmäßige
Abweichung

10°

2.806 m

2,81 m

15°

3.785 m

3,21 m

20°

4.511 m

3,72 m

25°

5.103 m

4,77 m

Das heißt, bei 25 Grad Elevation ergibt sich eine Schußweite von über 3 Meilen mit einer seitlichen Abweichung von der Ziellinie von weniger als 16 Fuß (nach der Korrektur mittels der horizontalen Tangentenskala)! Die größte französische Feldhaubitze hatte bei einer Schußweite von 2.400 Metern, gleich 2.650 Yard, seitliche Abweichungen von durchschnittlich 47 Metern oder 155 Fuß, also zehnmal größer als die des gezogenen Geschützes bei doppelter Schußweite.

Ein anderes System gezogener Geschütze, das kurze Zeit nach Cavallis ersten Experimenten Aufmerksamkeit erweckte, war das des schwedischen Barons Wahrendorff. Sein Geschütz war ebenfalls ein Hinterlader und sein Geschoß zylindrisch-konoidal. Der Unterschied beim Geschoß bestand jedoch darin, daß Cavallis Geschoß aus hartem Metall war und Ansätze hatte, die in die Züge eingriffen, während Wahrendorffs Geschoß mit einem dünnen Bleimantel überzogen und im Durchmesser etwas größer war als das Kaliber des gezogenen Teils des Rohres. Nachdem das Geschoß in die Kammer eingeführt worden war, die dafür die entsprechende Größe hatte, trieb die Explosion das Geschoß in das gezogene Rohr; das kräftig in die Züge gepreßte Blei beseitigte jeden Spielraum und verhinderte das Entweichen auch der geringsten Menge des durch die Explosion entwickelten Gases. Die mit diesen Geschützen in Schweden und anderswo erzielten Resultate waren durchaus zufriedenstellend, und während Cavallis Geschütze in die Armierung Genuas übernommen wurden, spielten die Geschütze Wahrendorffs in den Kasematten von Waxholm in Schweden, Portsmouth in England und in einigen preußischen Festungen eine Rolle. Damit hatte die Einführung gezogener Geschütze in die Praxis begonnen, wenn auch bloß für Festungen. Es blieb nur noch der eine Schritt zu tun, sie in die Feldartillerie einzuführen, und das ist in Frankreich geschehen und geschieht jetzt in allen europäischen <31> Artillerien. Die verschiedenen Systeme, nach denen gezogene Feldgeschütze jetzt erfolgreich entwickelt werden oder entwickelt werden können, sollen Gegenstand eines weiteren Artikels sein.

["New-York Daily Tribune" Nr. 5926 vom 21. April 1860]

II

Wie wir im vorigen Artikel sagten, waren die Franzosen die ersten, die dem gezogenen Geschütz in die praktische Kriegführung Eingang verschafften. Seit fünf oder sechs Jahren haben zwei Offiziere, Oberst Tamisier und Oberstleutnant (jetzt Oberst) Treuille de Beaulieu, auf diesem Gebiet im Auftrage der Regierung experimentiert, und die erzielten Ergebnisse wurden als ausreichend befunden, um als Grundlage einer Reorganisation der französischen Artillerie direkt vor dem Ausbruch des letzten italienischen Krieges zu dienen. Ohne auf die Geschichte der Experimente einzugehen, wollen wir sofort zur Beschreibung des Systems kommen, das jetzt von der französischen Artillerie übernommen wurde.

In Übereinstimmung mit dem für die Franzosen so charakteristischen Verlangen nach Einheitlichkeit übernahmen sie für die Feldartillerie nur ein Kaliber (den alten französischen Vierpfünder mit einem Bohrungsdurchmesser von 851/2 Millimetern oder nahezu 31/2 Zoll) und eines für die Belagerungsartillerie (den alten Zwölfpfünder von 120 Millimetern oder 43/4 Zoll). Alle anderen Geschütze, mit Ausnahme der Mörser, werden abgeschafft. Das verwendete Material ist im allgemeinen gewöhnliches Kanonenmetall, aber in einigen Fällen auch Gußstahl. Die Geschütze sind Vorderlader, denn die französischen Experimente mit Hinterladern waren nicht befriedigend. Jedes Geschütz hat 6 muldenförmige Züge, 5 Millimeter tief und 16 Millimeter breit; der Drallwinkel scheint nur gering zu sein, aber darüber sind keine Einzelheiten bekannt. Der Spielraum für das Geschoß beträgt ungefähr 1/2 bis 1 Millimeter, an den ailettes oder Warzen, die in die Züge eingreifen, etwas weniger als 1 Millimeter. Das Geschoß ist zylindrisch-ogival und hohl, wiegt gefüllt ungefähr 12 Pfund und hat sechs Ailetten, eine für jeden Zug, drei sitzen nahe der Spitze und drei nahe dem Geschoßboden. Sie sind sehr kurz – ungefähr 15 Millimeter lang. Die Zündöffnung läuft von der Spitze abwärts und wird bei pulvergefüllten Geschossen durch eine Zündröhre oder einen Zündkegel mit Zündhütchen verschlossen und, wenn das Geschoß nicht explodieren soll, mit einer <32> eisernen Schraube. Im letzteren Fall ist es mit einer Mischung aus Sägemehl und Sand gefüllt, damit es das gleiche Gewicht wie das pulvergefüllte Geschoß hat. Die Rohrlänge des Geschützes beträgt 1.385 Millimeter oder das Sechzehnfache des Kalibers; das Gewicht des Hartbronzegeschützes ist nur 237 Kilogramm (518 englische Pfund). Um die Abweichung des Geschosses von der Ziellinie (seitliche Abweichung) in Richtung des Dralls zu korrigieren - eine Abweichung, die allen aus gezogenen Rohren gefeuerten Geschossen eigen ist –, trägt der rechte Schildzapfen eine sogenannte horizontale Tangentenskala. Wie berichtet wird, soll das Geschütz, ebenso wie die Lafette, sehr geschmackvoll gearbeitet sein und wegen seiner geringen Größe und gediegenen Ausführung eher einem Modell als einem richtigen Kriegswerkzeug gleichen.

Mit diesem Geschütz bewaffnet, trat die französische Artillerie in den italienischen Feldzug ein, wo es die Österreicher zwar durch große Schußweite, doch gewiß nicht durch genaues Feuer in Staunen versetzte. Sehr oft, sogar in der Regel, feuerten die Geschütze über das Ziel hinaus und waren somit der Reserve gefährlicher als den vordersten Linien – mit anderen Worten, dort, wo sie weiter als die gewöhnlichen Geschütze reichten, trafen sie Leute, auf die sie überhaupt nicht gerichtet waren. Das ist gewiß ein sehr fragwürdiger Vorteil, weil dabei die Objekte, auf die die Kanonen gerichtet waren, in neun von zehn Fällen nicht getroffen wurden. Demgegenüber machte die österreichische Artillerie einen sehr ordentlichen Eindruck, als sie mit ihrem Material, so schwerfällig wie nur irgendeines in Europa, den Franzosen gegenüberstand; sie rückte bis auf kurze Entfernung (500 oder 900 Yard) an diesen furchtbaren Gegner heran und protzte unter seinem schwersten Feuer ab. Es besteht kein Zweifel, daß die französischen Kanonen, so sehr sie den alten, glattläufigen Kanonen überlegen sind, absolut nicht das hielten, was man von ihnen erwartet hatte. Ihre äußerste Schußweite betrug 4.000 Meter (4.400 Yard), und es war zweifellos nur eine unverschämte bonapartistische Übertreibung, wenn gesagt wurde, daß sie mit Leichtigkeit einen einzelnen Reiter auf 3.300 Yard Entfernung träfen.

Die Gründe für diese unbefriedigenden Leistungen im wirklichen Krieg sind sehr einfach. Die Konstruktion dieser Kanonen ist äußerst unvollkommen, und wenn die Franzosen daran festhalten, wird ihre Artillerie in zwei oder drei Jahren das schlechteste Material ganz Europas haben. Der erste Grundsatz für gezogene Waffen ist, daß sie keinen Spielraum haben dürfen, sonst wird das im Rohr und in den Zügen lose hin und her schlagende Geschoß nicht um seine eigene Längsachse rotieren, sondern sich beim Flug spiralförmig um eine imaginäre Linie bewegen, deren Richtung <33> durch die zufällige Lage des Geschosses beim Verlassen der Mündung bestimmt wird, wobei der Durchmesser der Spirale mit der Entfernung zunimmt. Nun haben aber die französischen Kanonen einen beträchtlichen Spielraum und können so lange nicht ohne ihn auskommen, wie von der Explosion der Treibladung die Entzündung des Säulenzünders des Hohlgeschosses abhängt. Das ist also ein Umstand, der den Mangel an Genauigkeit erklärt. Ein zweiter ist die Ungleichmäßigkeit der Treibkraft, die während der Explosion der Ladung durch ein mehr oder minder starkes Entweichen der Gase durch den Spielraum entsteht. Ein dritter ist die größere Elevation, welche bei gleicher Ladung wegen dieses Spielraums erforderlich ist. Es ist einleuchtend, daß da, wo zwischen Geschoß und Rohrwand überhaupt kein Gas entweichen kann, dieselbe Ladung eine stärkere Treibkraft hat als dort, wo ein Teil des Gases entweicht. Nun scheint die französische Artillerie für gezogene Geschütze nicht nur eine sehr starke Ladung zu erfordern (ein Fünftel des Geschoßgewichts), sondern auch eine ziemlich große Elevation. Die größere Schußweite, die gezogene Rohre gegenüber glatten selbst mit geringerer Ladung erreichen, wird hauptsächlich dadurch erzielt, daß kein Spielraum vorhanden und damit die Gewähr gegeben ist, daß die ganze Explosivkraft der Ladung dem Antrieb des Geschosses dient. Durch den Spielraum geht bei den Franzosen ein Teil der Treibkraft verloren, und sie müssen diesen bis zu einem bestimmten Grad durch eine größere Ladung und darüber hinaus durch eine größere Rohrerhöhung ersetzen. Bei allen Entfernungen ist aber nichts der Genauigkeit so abträglich wie eine große Elevation. Solange die Flugbahn des Geschosses auf ihrem höchsten Punkt die Höhe des Zieles nicht weit überschreitet, ist ein Fehler beim Schätzen der Entfernung nur von geringer Bedeutung; aber bei großer Schußweite hat das Geschoß eine sehr hohe Flugbahn und kommt in einem Winkel herunter, der durchschnittlich zweimal so groß ist wie zu Beginn des Fluges (das bezieht sich natürlich nur auf Elevationen bis zu ungefähr 15 Grad). Je größer also die Elevation, desto mehr nähert sich die Linie, in der das Geschoß auf den Boden schlägt, der Vertikale, und ein Irrtum von nicht mehr als 10 oder 20 Yard in der Berechnung der Entfernung kann die Möglichkeit ausschließen, überhaupt zu treffen. Bei Schußweiten über 400 oder 500 Yard sind solche Irrtümer unvermeidlich, und die Folge davon ist der erstaunliche Unterschied zwischen dem ausgezeichneten Schießen auf dem Übungsplatz mit abgemessenen Entfernungen und der jämmerlichen Praxis auf dem Schlachtfeld, wo die Entfernungen unbekannt sind, die Ziele sich bewegen und die Zeit für Überlegungen sehr kurz ist. Deshalb ist auch die Chance, mit den <34> neuen gezogenen Gewehren auf dem Schlachtfeld über 300 Yard hinaus zu treffen, sehr gering, während sie unter 300 Yard durch die gestreckte Flugbahn der Kugel sehr groß ist. Demzufolge ist der Bajonettangriff das wirksamste Mittel, einen Feind aus seinen Stellungen zu werfen, sobald der angreifende Truppenkörper bis auf diese Entfernung herangekommen ist. Nehmen wir an, daß eine Armee gezogene Gewehre hat, die auf 400 Yard keine höhere Flugbahn erzielen als die ihrer Gegner auf 300 Yard, dann werden die ersteren den Vorteil haben, ein wirksames Feuer aus einer um 100 Yard größeren Entfernung eröffnen zu können, und da nur drei oder vier Minuten erforderlich sind, um beim Angriff 400 Yard zurückzulegen, ist dieser Vorteil im entscheidenden Augenblick einer Schlacht kein geringer. Ähnlich ist es bei Geschützen. Sir Howard Douglas erklärte vor zehn Jahren jenes Geschütz für das weitaus beste, das die größte Schußweite bei geringster Elevation hat. Bei gezogenen Geschützen ist die Bedeutung dieser Eigenschaft noch größer, da die Möglichkeit des Irrtums beim Schätzen der Entfernung mit der größeren Schußweite wächst und man sich nur bei runden Geschossen auf Rikoschettschüsse verlassen kann. Das ist ein Nachteil der gezogenen Geschütze; um überhaupt zu treffen, müssen sie beim ersten Aufschlag treffen, während runde Geschosse, wenn sie zu kurz fallen, abprallen und ihren Flug in ziemlich derselben Richtung fortsetzen. Bei gezogenen Geschützen ist also eine flache Flugbahn von allerhöchster Wichtigkeit, da jeder weitere Grad der Elevation die Möglichkeit des Treffens beim ersten Aufschlag in steigendem Maße verringert. Deshalb ist die stark gekrümmte Flugbahn bei den französischen Geschützen einer ihrer ernstesten Mängel.

Doch die Unzulänglichkeiten dieser Geschütze werden durch einen alles übertreffenden Mangel vermehrt, der genügt, um das ganze System zu charakterisieren. Sie werden mittels Maschinen und in der Art und Weise hergestellt, die früher der Fabrikation der alten glattläufigen Geschütze dienten. Bei dem sehr großen Spielraum dieser alten Geschütze und den unterschiedlichen Gewichten und Kalibern der Geschosse war die mathematische Genauigkeit bei der Produktion nur von zweitrangiger Bedeutung. Die Herstellung von Feuerwaffen war bis vor wenigen Jahren der rückständigste Zweig der modernen Industrie. Es gab viel zuviel Handarbeit und viel zuwenig Maschinen. Für die alten glattläufigen Waffen mochte dies angehen, aber als Waffen produziert werden sollten, von denen man eine große Präzision bei großen Entfernungen erwartete, wurde dieses Verfahren unbrauchbar. Um die Gewißheit zu haben, daß die Leistungen der Gewehre bei 600, 800 und 1.000 Yard sowie die der Kanonen bei <35> 2.000, 4.000 und 6.000 Yard völlig gleichwertig sind, wurde es notwendig, jeden kleinsten Arbeitsgang von den vollkommensten mechanischen Maschinen verrichten zu lassen, so daß jede Waffe das mathematisch genaue Gegenstück einer anderen wird. Abweichungen von der mathematischen Genauigkeit, die beim alten System unbedeutend waren, führten jetzt zu Mängeln, die die ganze Waffe wertlos machten. Die Franzosen haben ihre alte Maschinerie kaum merklich verbessert, und daraus resultieren bei ihrem Artilleriefeuer die Abweichungen. Wie kann man denn erreichen, daß Geschütze bei gleicher Elevation und bei völliger Gleichheit aller anderen Umstände die gleiche Schußweite ergeben, wenn sie nicht bis ins einzelne miteinander übereinstimmen? Aber Ungenauigkeiten in der Fabrikation, die bei 800 Yard Schußweite Differenzen von einem Yard ergeben, werden bei 4.000 Yard Schußweite zu Differenzen von 100 Yard führen. Wie kann man also von solchen Geschützen bei großen Schußweiten Zuverlässigkeit erwarten?

Um zu rekapitulieren: Die französischen gezogenen Geschütze sind schlecht, weil sie Spielraum im Rohr brauchen, eine verhältnismäßig große Elevation benötigen und ihre Ausführung keineswegs den Erfordernissen gezogener, weittragender Geschütze entspricht. Sie müssen bald von anderen Bauarten verdrängt werden, oder die französische Artillerie wird die schlechteste in Europa. Wir haben diese Geschütze absichtlich etwas in den Einzelheiten untersucht, weil dadurch Gelegenheit geboten war, die wichtigsten Grundsätze der gezogenen Kanonen zu erklären. In einem abschließenden Artikel werden wir die beiden vorgeschlagenen Systeme betrachten, die jetzt in England um den Vorrang streiten, Modelle, die beide bei vollkommener Ausführung auf dem Hinterladersystem beruhen und keinen Spielraum haben – das Armstrong- und das Whitworth-System.

["New-York Daily Tribune" Nr. 5938 vom 5. Mai 1860]

III

Wir kommen jetzt zur Beschreibung der beiden Arten von gezogenen Hinterladern, die in England gegenwärtig um den Vorrang streiten und die, beide von Zivilisten erfunden, an Wirksamkeit gewiß alles übertreffen, was bisher von Berufsartilleristen hervorgebracht wurde – das Armstrong- und das Whitworth-Geschütz.

<36> William Armstrongs Geschütz hatte den Vorteil der Priorität und das Lob sowohl der Presse als auch der Öffentlichkeit ganz Englands für sich. Es ist zweifellos eine im höchsten Maße wirksame Kriegsmaschine und dem französischen gezogenen Geschütz weit überlegen; aber ob es das Whitworthsche Geschütz übertreffen wird, kann sehr bezweifelt werden.

Sir William Armstrong baut sein Geschütz so, daß er um ein Rohr aus Gußstahl spiralförmig zwei Lagen schmiedeeiserner Stangen legt, die obere Lage in entgegengesetzter Richtung zur unteren, auf die gleiche Weise, wie man aus Drahtschichten Geschützrohre herstellt. Diese Methode ergibt ein sehr starkes und widerstandsfähiges, wenn auch sehr teures Material. Die Rohrwand hat zahlreiche schmale, dicht nebeneinanderliegende Züge, die eine Geschoßumdrehung im ganzen Rohr ergeben. Das zylindrisch-ogivale Langgeschoß besteht aus Gußeisen, ist aber mit einem Bleimantel umgeben, der dem Geschoß einen etwas größeren Durchmesser gibt als das Rohrkaliber beträgt. Dieses Geschoß wird zusammen mit der Kartusche mittels des beweglichen Verschlusses in die Kammer eingeführt, die dafür groß genug ist. Die Explosion treibt das Geschoß in das enge Rohr, wo das weiche Blei in die Züge gepreßt und so jeglicher Spielraum beseitigt wird; dabei erhält das Geschoß die vom Drallwinkel der Züge bestimmte Spiralbewegung um die Längsachse. Diese Art, das Geschoß in die Züge zu pressen, und der dafür erforderliche Mantel aus weichem Material sind die charakteristischen Merkmale des Armstrong-Systems, und wenn der Leser auf die Prinzipien gezogener Geschütze zurückgreift, die wir in unseren vorangegangenen Artikeln entwickelt haben, wird er mit uns übereinstimmen, daß Armstrong im Prinzip unbedingt auf dem richtigen Wege ist. Da das Geschoß im Durchmesser größer ist als das Kaliber, ist das Geschütz zwangsläufig ein Hinterlader, was uns ebenfalls ein notwendiges Merkmal aller gezogenen Geschütze zu sein scheint. Der Hinterladermechanismus selbst hat jedoch ganz und gar nichts mit dem Prinzip eines besonderen Drallsystems zu tun, sondern kann von einem System auf das andere übertragen werden; wir lassen ihn deshalb völlig aus unseren Erwägungen heraus.

Die Schußweite und die Präzision, die mit diesem neuen Geschütz erreicht wurden, sind geradezu erstaunlich. Das Geschoß wurde etwa 8.500 Yard oder beinahe 5 Meilen weit geschleudert, und die Sicherheit, mit der das Ziel bei 2.000 oder 3.000 Yard getroffen wurde, überstieg bei weitem alles, was die alten glattläufigen Kanonen bei einem Drittel dieser Entfernungen aufweisen konnten. Dennoch wurden trotz aller Marktschreierei der englischen Presse die wissenschaftlich interessierenden <37> Details all dieser Experimente streng geheimgehalten. Es wurde niemals bekanntgegeben, mit welcher Elevation und mit welcher Ladung diese Schußweiten erreicht wurden. Das Gewicht des Geschosses und das des Geschützes selbst, die genauen Seiten- und Längsabweichungen etc. wurden niemals in Einzelheiten veröffentlicht. Jetzt endlich, da das Whitworth-Geschütz in Erscheinung getreten ist, erfahren wir wenigstens einiges über eine Reihe von Versuchen. Kriegsminister Sidney Herbert hat dem Parlament berichtet, daß ein 8 Zentner schwerer Zwölfpfünder mit einer Pulverladung von 1 Pfund 8 Unzen bei 7 Grad Elevation eine Schußweite von 2.460 Yard erreichte, mit der äußersten seitlichen Abweichung von 3 und der äußersten Längsabweichung von 65 Yard. Bei 8 Grad Elevation betrug die Schußweite 2.797 Yard, bei 9 Grad über 3.000 Yard, wobei die Abweichungen fast die gleichen blieben. Eine Elevation von 7 bis 9 Grad ist jedoch in der Praxis der glattläufigen Feldgeschütze etwas Unbekanntes. Die offiziellen Tabellen z.B. gehen nicht über 4 Grad Elevation hinaus, bei der die Zwölf- und Neunpfünder eine Schußweite von 1.400 Yard erzielen. Jede größere Elevation wäre bei Feldgeschützen wertlos, da sie eine zu hohe Flugbahn ergäbe und dadurch die Treffsicherheit gewaltig herabminderte. Jedoch kennen wir einige Experimente mit schweren glattrohrigen Schiffsgeschützen bei größeren Elevationen (in Sir Howard Douglas' "Naval Gunnery" erwähnt). Der lange englische 32pfünder ergab bei Deal im Jahre 1839 mit einer Elevation von 7 Grad Schußweiten von 2.231 bis 2.318 Yard, bei 9 Grad von 2.498 bis 2.682 Yard. Der französische 36pfünder aus den Jahren 1846 und 1847 ergab bei 7 Grad eine Schußweite von 2.270, bei 9 Grad eine Schußweite von 2.636 Yard. Das zeigt, daß bei gleicher Elevation die Schußweiten der gezogenen Geschütze nicht sehr viel größer sind als die der glattläufigen.

Das Whitworth-Geschütz ist dem Armstrong-Geschütz in fast jeder Beziehung entgegengesetzt. Seine Bohrung ist nicht kreisförmig, sondern sechseckig; der Drallwinkel seiner Züge ist nahezu doppelt so groß wie der des Armstrong-Geschützes; das Geschoß besteht aus sehr hartem Material ohne jeden Bleimantel; daß es ein Hinterlader ist, ist bei Whitworth keine Frage der Notwendigkeit, sondern lediglich eine Frage der Bequemlichkeit und der Mode. Dieses Geschütz ist aus einem kürzlich patentierten Material, genannt "homogenes Eisen", hergestellt, das sich durch große Festigkeit, Elastizität und Zähigkeit auszeichnet; das Geschoß paßt mathematisch genau in das Rohr und kann deshalb nur eingeführt werden, wenn es geschmiert ist. Das geschieht durch eine zwischen Ladung und Geschoß befindliche Mischung von Wachs und Fett, die dabei jeden noch <38> etwa vorhandenen Spielraum vermindern hilft. Das Material des Geschützes ist so widerstandsfähig, daß es leicht 3.000 Schuß aushalten kann, ohne daß die Rohrwand darunter leidet.

Das Whitworth-Geschütz wurde im vergangenen Februar der Öffentlichkeit vorgeführt, als in Southport, an der Küste Lancashires, eine Serie von Experimenten mit ihm durchgeführt wurde. Es handelte sich um drei Kanonen – einen Dreipfünder, einen Zwölfpfünder und einen Achtzigpfünder. Aus den ausführlichen Berichten wählen wir den Zwölfpfünder zur Illustration. Diese Kanone war 7 Fuß 9 Zoll lang und wog 8 Zentner. Der gewöhnliche Zwölfpfünder für runde Geschosse ist 6 Fuß 6 Zoll lang und wiegt 18 Zentner. Mit der Whitworthschen Kanone wurden folgende Schußweiten erreicht: bei 2 Grad Elevation (wobei der alte Zwölfpfünder 1.000 Yard erreichte) mit einer Ladung von 11/2 Pfund variierte die Schußweite von 1.208 bis 1.281 Yard. Bei 5 Grad (wobei der alte 32pfünder 1.940 Yard erreichte) kam sie auf eine Schußweite von 2.298 bis 2.342 Yard. Bei 10 Grad (Schußweite des alten 32pfünders 2.800 Yard) ergab sie einen Durchschnitt von 4.000 Yard. Für größere Elevationen wurde eine Dreipfünderkanone mit 8 Unzen Ladung benutzt; bei 20 Grad hatte sie eine Schußweite von 6.300 bis 6.800, bei 33 und 35 Grad von 9.400 bis 9.700 Yard. Der alte 56pfünder mit glatter Bohrung erreicht bei 20 Grad eine Schußweite von 4.381 Yard, bei 32 Grad eine von 5.680 Yard. Die von der Whitworth-Kanone erzielte Präzision war sehr zufriedenstellend und in bezug auf die seitliche Abweichung mindestens so gut wie die der Armstrong-Kanone; über die Abweichungen in der Länge gestatten die Experimente keine befriedigenden Schlußfolgerungen.