Inhaltsverzeichnis Aufsätze für "The New American Cyclopædia"

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 14, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 247-252.

1. Korrektur.
Erstellt am 22.08.1998.

Friedrich Engels

Borodino

Geschrieben um den 28. Januar 1858.
Aus dem Englischen.


["The New American Cyclopædia", Band III]

<247> Borodino - ein Dorf in Rußland, am linken Ufer der Kolotscha, ungefähr 2 Meilen vor deren Mündung in die Moskwa. Nach diesem Dorf benennen die Russen die große Schlacht von 1812, die den Besitz von Moskau entschied; die Franzosen nennen sie die Schlacht an der Moskwa oder bei Moshaisk. Das Schlachtfeld liegt am rechten Ufer der Kolotscha. Der rechte russische Flügel wurde durch diesen Fluß von seiner Mündung in die Moskwa bis Borodino gedeckt; der linke Flügel war en potence <in Hakenstellung> hinter einen Bach und eine Schlucht zurückgezogen, die sich von der äußersten Linken bei Utiza nach Borodino erstreckt. Hinter dieser Schlucht gibt es zwei Hügel, die mit unvollständigen Redouten oder Lünetten gekrönt waren; von ihnen hieß die dem Zentrum am nächsten gelegene Rajewski-Redoute, die auf dem Hügel weiter links gelegenen drei nannte man Bagration-Lünetten. Zwischen diesen beiden Hügeln liegt eine andere Schlucht, nach dem dahinter liegenden Dorf Semenowskoje benannt, die von dem russischen linken Flügel nach der ersten Schlucht verläuft und sich mit ihr, ungefähr 1.000 Yard vor der Kolotscha, verbindet. Die Hauptstraße nach Moskau führt an Borodino vorbei, die alte Straße bei Utiza nach Moshaisk verläuft im Rücken der russischen Stellung. Diese sich über rund 9.000 Yard erstreckende Linie wurde von ungefähr 130.000 Russen gehalten und Borodino vor dem Zentrum besetzt. Der russische Oberkommandierende war General Kutusow. Seine Truppen waren in 2 Armeen geteilt; die größere unter Barclay de Tolly hielt den rechten Flügel und das Zentrum, die kleinere unter Bagration stand auf dem linken. Die Stellung war sehr schlecht gewählt; denn durch einen erfolgreichen Angriff auf den linken Flügel wären der rechte und das Zentrum völlig umgangen worden, und wenn die Franzosen Moshaisk erreicht hätten, ehe sich der russische rechte Flügel <248> zurückgezogen hatte - was durchaus möglich war -, dann wären die Russen hoffnungslos verloren gewesen. Doch Kutusow blieb keine andere Wahl, nachdem er einmal die von Barclay ausgesuchte ausgezeichnete Stellung von Zarewo Saimistsche abgelehnt hatte.

Die von Napoleon persönlich geführten Franzosen waren ungefähr 125.000 Mann stark; nachdem sie die Russen am 5. September 1812 neuen Stils (26. August alten Stils) aus einigen leichten Verschanzungen auf deren linken Flügel vertrieben hatten, wurden sie am 7. zur Schlacht aufgestellt. Napoleons Plan gründete sich auf die Irrtümer Kutusows; er beschränkte sich darauf, das russische Zentrum zu beobachten und konzentrierte seine Kräfte gegen den linken Flügel, den er bezwingen wollte, um sich dann den Weg nach Moshaisk zu bahnen. Dementsprechend hatte Vizekönig Eugène den Befehl erhalten, einen Scheinangriff auf Borodino zu unternehmen; Ney und Davout sollten danach Bagration und die nach ihm benannten Lünetten angreifen, während Poniatowski den äußersten linken Flügel der Russen bei Utiza umgehen sollte. Sobald die Schlacht in vollem Gange wäre, sollte Vizekönig Eugène die Kolotscha passieren und die Rajewski-Lünette angreifen. So überstieg die gesamte wirklich angegriffene Front nicht die Länge von 5.000 Yard und gestattete es, auf jeden Yard der Front 26 Mann zu stellen, eine noch nicht dagewesene Tiefe der Schlachtordnung, der auch die furchtbaren Verluste der Russen durch Artilleriefeuer zugeschrieben werden müssen. Beim Morgengrauen rückte Poniatowski gegen Utiza vor und nahm es ein, doch sein Gegner Tutschkow warf ihn wieder hinaus. Da Tutschkow später eine Division zur Unterstützung Bagrations schicken mußte, eroberten die Polen das Dorf zurück. Um 6 Uhr griff Davout die eigentliche Linke der Bagration-Schanzen an. Er rückte unter dem schweren Feuer der Zwölfpfünder vor, denen er nur Drei- und Vierpfünder entgegen setzen konnte. Eine halbe Stunde später griff Ney die eigentliche Rechte dieser Lünetten an. Sie wurden genommen und zurückerobert, und ein erbitterter und unentschiedener Kampf folgte.

Bagration erkannte jedoch sehr gut die große Streitmacht mit der im Hintergrund stehenden machtvollen Reserve und französischen Garde, die gegen ihn aufgeboten wurde. Es gab keinen Zweifel über den wirklich Angriffspunkt. Deshalb raffte er alle verfügbaren Truppen zusammen, forderte eine Division des Rajewski-Korps, eine weitere des Tutschkow-Korps sowie Garden und Grenadiere aus der Reservearmee an und bat Barclay, das gesamte Korps von Baggowut zu schicken. Diese Verstärkungen, <249> sich auf mehr als 30.000 Mann beliefen, wurden sofort in Marsch gesetzt; allein aus der Reservearmee erhielt Bagration 17 Garde- und Grenadierbataillone und 2 Batterien Zwölfpfünder. Sie konnten jedoch nicht vor 10 Uhr am Ort zur Verfügung stehen, und bereits vor diesem Zeitpunkt unternahmen Davout und Ney ihren zweiten Angriff auf die Verschanzungen, nahmen sie ein und trieben die Russen über die Semenowskoje-Schlucht. Bagration schickte seine Kürassiere vor; ein regelloser Kampf von großer Heftigkeit folgte, in dem die Russen Boden zurückgewannen, als ihre Verstärkungen eintrafen, aber wieder hinter die Schlucht zurückgetrieben wurden, als Davout seine Reservedivision einsetzte. Beide Seiten erlitten ungeheure Verluste; fast alle höheren Offiziere wurden getötet oder verwundet, Bagration selbst wurde tödlich getroffen. Jetzt endlich nahm Kutusow einigen Anteil an der Schlacht und ließ Dochturow das Kommando über den linken Flügel übernehmen und seinen eigenen Generalstabschef Toll die Verteidigungsmaßnahmen an Ort und Stelle überwachen. Kurz nach 10 Uhr kamen die 17 Garde- und Grenadierbataillone und die Division von Wassiltschikow in Semenowskoje an. Das Baggowutsche Korps wurde geteilt, eine Division wurde zu Rajewski, eine andere zu Tutschkow und die Kavallerie an die rechte Flanke gesandt. Inzwischen setzten die Franzosen ihre Angriffe fort. Die westfälische Division rückte im Wald gegen den oberen Teil der Schlucht vor, während General Friant diese Schlucht überschritt, ohne jedoch dort Fuß fassen zu können. Die Russen wurden jetzt (halb 11 Uhr) durch Borosdins Kürassiere aus der Reservearmee und durch einen Teil der Korffschen Kavallerie verstärkt, doch sie waren bereits zu sehr zermürbt, um zum Angriff vorzugehen. Ungefähr zur gleichen Zeit bereiteten die Franzosen einen gewaltigen Kavallerieangriff vor. Im russischen Zentrum hatte Eugène Beauharnais um 6 Uhr morgens Borodino eingenommen, die Kolotscha überschritten und den Feind zurückgetrieben. Er kehrte jedoch schnell zurück und überschritt weiter oben den Fluß erneut, um - mit den italienischen Garden, der Division von Broussier (Italiener), den Divisionen von Gérard und Morand sowie der Kavallerie von Grouchy - Rajewski und die Redoute anzugreifen, die dessen Namen trug. Borodino blieb besetzt. Der Übergang der Truppen von Beauharnais verursachte eine Verzögerung; sein Angriff konnte kaum vor 10 Uhr beginnen. Die Rajewski-Redoute war von der Division Paskewitschs besetzt, die zu ihrer Linken von Wassiltschikow unterstützt wurde und das Korps Dochturows als Reserve hatte. Gegen 11 Uhr wurde die Redoute von den Franzosen genommen, die Division Paskewitschs vollständig aufgerieben und vom Schlachtfelde getrieben. Doch Wassiltschikow und Dochturow <250> eroberten die Redoute wieder zurück; die Division des Herzogs Eugen von Württemberg traf zur rechten Zeit ein, und jetzt befahl Barclay dem Korps Ostermanns, im Rücken als neue Reserve Stellung zu nehmen. Mit diesem Korps wurde die letzte einsatzfähige Einheit der russischen Infanterie in Schußweite gebracht; jetzt blieben nur 6 Gardebataillone als Reserve. Eugène Beauharnais ging gegen 12 Uhr gerade ein zweites Mal zum Angriff auf die Rajewski-Redoute vor, als russische Kavallerie auf dem linken Ufer der Kolotscha erschien. Der Angriff wurde gestoppt und Truppen gegen die Kavallerie vorgeschickt. Doch die Russen konnten weder Borodino nehmen noch das sumpfige Gelände der Woina-Schlucht überschreiten und mußten sich in die Nähe von Zodock zurückziehen; sie hatten nichts weiter erreicht, als bis zu einem gewissen Grade Napoleons Absichten durchkreuzt.

Inzwischen hatten Ney und Davout, die auf dem Bagration-Hügel standen, über die Semenowskoje-Schlucht hinweg die russischen Massen mit starkem Feuer belegt. Ganz plötzlich setzte sich die französische Kavallerie in Bewegung. Rechts von Semenowskoje griff Nansouty die russische Infanterie mit vollem Erfolg an, bis ihn Sievers' Kavallerie in die Flanke nahm und zurücktrieb. Zur Linken rückten die 3.000 Reiter Latour-Maubourgs in 2 Kolonnen vor; die erste wurde von 2 sächsischen Kürassierregimentern angeführt und überritt zweimal 3 russische Grenadierbataillone, die sich gerade zu einem Karree formierten; aber dieser Teil der französischen Kavallerie wurde ebenfalls von der russischen Kavallerie in die Flanke genommen. Ein polnisches Kürassierregiment vollendete die Zerschlagung der russischen Grenadiere, doch diese wurden wieder in die Schlucht zurückgetrieben, wo die zweite Kolonne, 2 westfälische Kürassierregimenter und ein polnisches Ulanenregiment, die Russen zurückschlug. Als dadurch der Boden gesichert war, überschritt die Infanterie von Ney und Davout die Schlucht. Friant besetzte Semenowskoje; die übrigen Russen, die hier gekämpft hatten, Grenadiere, Garde und Linie, wurden endgültig zurückgetrieben und ihre Niederlage wurde durch die französische Kavallerie vollendet. Sie flohen in kleinen, ungeordneten Gruppen nach Moshaisk und konnten erst spät in der Nacht gesammelt werden; nur die 3 Garderegimenter bewahrten etwas Ordnung. So setzte sich der französische rechte Flügel, nachdem er den russischen linken besiegt hatte, schon um 12 Uhr in einer Position direkt im Rücken des russischen Zentrums fest; daraufhin drangen Davout und Ney in Napoleon, seiner eigenen Taktik gemäß den Sieg zu vollenden und die Garden bei Semenowskoje im Rücken der Russen einzusetzen. Napoleon weigerte sich jedoch, und Ney und Davout, deren <251> Truppen schwer angeschlagen waren, wagten es nicht, ohne Verstärkungen vorzugehen.

Auf russischer Seite wurde, nachdem Eugène Beauharnais von dem Angriff auf die Rajewski-Redoute Abstand genommen hatte, Eugen von Württemberg nach Semenowskoje geschickt, und auch Ostermann mußte seine Front nach dieser Richtung hin ändern, um den Rücken des Rajewski-Hügels gegen Semenowskoje zu decken. Als Sorbier, der französische Chef der Artillerie, diese frischen Truppen sah, ließ er 36 Zwölfpfünder der Gardeartillerie kommen und bildete vor Semenowskoje eine Batterie von 85 Geschützen. Während diese Geschütze die russischen Massen heftig beschossen, zog Murat die bisher intakt gebliebene Kavallerie von Montbrun und die polnischen Ulanen nach vorn. Sie überraschten Ostermanns Truppen bei ihrer Entfaltung und brachten sie in große Gefahr, bis die Kavallerie von Kreutz die französischen Reiter zurückschlug. Die russische Infanterie litt weiterhin unter Artilleriefeuer, doch keine der Parteien wagte vorzurücken. Mittlerweile war es ungefähr 2 Uhr geworden, als Eugène Beauharnais, der sich hinsichtlich der feindlichen Kavallerie zu seiner Linken sicher fühlte, die Rajewski-Redoute erneut angriff. Während die Infanterie diese frontal angriff, wurde Kavallerie von Semenowskoje aus in ihren Rücken geschickt. Nach einem harten Kampf blieb die Redoute in der Hand der Franzosen, und kurz vor 3 Uhr zogen sich die Russen zurück. Von beiden Seiten erfolgte zwar eine allgemeine Kanonade, aber der aktive Kampf war vorbei. Napoleon weigerte sich noch immer, seine Garde einzusetzen, und die Russen konnten sich zurückziehen, wie sie wollten. Die Russen hatten ihre gesamten Truppen eingesetzt, mit Ausnahme der beiden ersten Garderegimenter, und selbst diese verloren durch Artilleriefeuer 17 Offiziere und 600 Mann. Der Gesamtverlust der Russen betrug 52.000 Mann, neben Leichtverwundeten und Versprengten, die bald zurückfanden; doch am Tage nach der Schlacht war ihre Armee nur noch 52.000 Mann stark. Die Franzosen hatten auch alle Truppen mit Ausnahme der Garden (14.000 Mann Infanterie, 5.000 Mann Kavallerie und Artillerie) im Kampf; sie schlugen daher entschieden überlegene Kräfte. Außerdem war ihre Artillerie schlechter, da sie meist aus Drei- und Vierpfündern bestand, während ein Viertel der russischen Geschütze Zwölfpfünder und die übrigen Sechspfünder waren. Die Franzosen verloren 30.000 Mann; sie erbeuteten 40 Geschütze und machten nur ungefähr 1.000 Gefangene. Hätte Napoleon seine Garde eingesetzt, so wäre laut General Toll die Zerschlagung der russischen Armee sicher gewesen. Er riskierte jedoch diese letzte Reserve nicht, den Kern und die Hauptstütze seiner Armee, und verpaßte <252> dadurch vielleicht die Gelegenheit, in Moskau den Frieden schließen zu können.

Die obige Darstellung basiert in den Einzelheiten, die sich von den allgemeinen Berichten unterscheiden, hauptsächlich auf den "Denkwürdigkeiten des Generals Toll", den wir als Kutusows Generalstabschef erwähnt haben. Dieses Buch enthält den besten russischen Bericht über die Schlacht und ist für deren korrekte Würdigung unentbehrlich.