Inhaltsverzeichnis Aufsätze für "The New American Cyclopædia"

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 14, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 187-212.

1. Korrektur.
Erstellt am 22.08.1998.

Friedrich Engels

Artillerie

Geschrieben Mitte Oktober bis 26. November 1857.
Aus dem Englischen.


["The New American Cyclopædia", Band II]

<187> Artillerie. - Es wird jetzt fast allgemein anerkannt, daß die Erfindung des Schießpulvers und seine Anwendung zum Schleudern schwerer Körper in eine gegebene Richtung aus dem Osten stammt. In China und Indien ist Salpeter eine natürliche, sich an der Erdoberfläche bildende Kristallisation, und verständlicherweise wurden die Bewohner dieser Länder bald mit seinen Eigenschaften bekannt. Feuerwerkskörper aus Mischungen dieses Salzes mit anderen leichtentzündbaren Bestandteilen wurden schon in sehr früher Zeit in China hergestellt und sowohl für Kriegszwecke als auch für öffentliche Festlichkeiten verwandt. Wir wissen nicht, wann die besondere Mischung von Salpeter, Schwefel und Holzkohle bekannt wurde, deren Explosionsfähigkeit ihr eine so gewaltige Bedeutung gegeben hat. Nach einigen chinesischen Chroniken, die Monsieur Paravey 1850 in einem Bericht an die französische Akademie erwähnt, waren Geschütze schon 618 v.u.Z. bekannt. In anderen alten chinesischen Schriften sind Feuerbälle, die aus Bambusrohren geschossen wurden, und eine Art von Sprengkugeln beschrieben. Auf jeden Fall scheinen in früheren Perioden der chinesischen Geschichte Schießpulver und Kanonen nicht in einer für kriegerische Zwecke geeigneten Form entwickelt gewesen zu sein, denn das erste wirklich nachweisbare Beispiel ihrer umfassenden Anwendung stammt aus einer späteren Zeit, nämlich aus dem Jahre 1232 unserer Zeitrechnung, als sich die von den Mongolen in Kai-fang-fu belagerten Chinesen mit Kanonen, die Steinkugeln schleuderten, verteidigten und Sprengkugeln, Petarden und andere auf Schießpulver basierende Feuerwerkskörper benutzten.

Nach dem Zeugnis der griechischen Schriftsteller Älian, Ktesias, Philostratos und Themistios hatten die Hindus wahrscheinlich schon zur Zeit Alexanders des Großen für Kriegszwecke verwendbare Feuerwerkskörper. Das war jedoch durchaus noch kein Schießpulver, obwohl Salpeter in reich- <188> lichem Maße in dieser Mischung enthalten gewesen sein mag. In den Hindugesetzen wird auf eine Art Feuerwaffe hingewiesen; eindeutig ist in ihnen das Schießpulver erwähnt, und nach Prof. H. H. Wilson wird seine Zusammensetzung auch in alten medizinischen Werken der Hindus beschrieben. Kanonen jedoch werden zum erstenmal zu einem Zeitpunkt erwähnt, der mit dem ältesten eindeutig nachweisbaren Datum ihres Auftauchen in China beinahe zusammenfällt. Um 1200 spricht Hased in seinen Gedichten von Feuermaschinen, die Kugeln schleudern, deren Pfeifen bis in eine Entfernung von 10 coss (1.500 Yard) zu hören war. Ungefähr im Jahre 1258 hören wir von Feuerwerkskörpern auf Wagen, die dem König von Delhi gehörten. Hundert Jahre später wurde in Indien allgemein Artillerie verwandt, und als 1498 die Portugiesen dorthin kamen, stellten sie fest, daß die Inder im Gebrauch der Feuerwaffen ebensoweit fortgeschritten waren wie sie seihst.

Die Araber übernahmen von den Chinesen und den Hindus Salpeter und Feuerwerk. Zwei der arabischen Namen für Salpeter bedeuten Chinasalz und Chinaschnee. Arabische Schriftsteller des Altertums erwähnen chinesisches rotes und weißes Feuer. Auch die Verwendung von Brandsätzen fällt ungefähr in die gleiche Zeit wie die große arabische Invasion in Asien und Afrika. Gar nicht zu reden von der Maujanitz, einer gleichsam mythischen Feuerwaffe, die Mohammed gekannt und benutzt haben soll. Sicher ist, daß die byzantinischen Griechen ihre erste Kenntnis des Feuerwerks (das später zum griechischen Feuer entwickelt wurde) von ihren arabischen Feinden erhalten hatten. Ein Schreiber des 9. Jahrhunderts, Marcus Graecus, nennt eine Mischung aus sechs Teilen Salpeter, zwei Teilen Schwefel und einem Teil Kohle, die der richtigen Zusammensetzung des Schießpulvers sehr nahekommt. Roger Bacon beschreibt dies mit ziemlicher Genauigkeit als erster aller europäischen Schriftsteller 1216 in seinem "Liber de Nullitate Magiae"; aber ein volles Jahrhundert lang verstehen die westlichen Völker nichts damit anzufangen. Die Araber hingegen haben offenbar aus den von den Chinesen übernommenen Erfahrungen sehr bald Nutzen gezogen. Nach Condes Geschichte der Mauren in Spanien wurden 1118 bei der Belagerung von Saragossa Kanonen benutzt, und 1132 wurde in Spanien unter anderen Kanonen eine Art Feldschlange mit einem Kaliber von 4 Pfund gegossen. Wie berichtet wird, soll Abd el Mumen im Jahre 1156 Mohadia bei Bona in Algerien mit Feuerwaffen ein genommen haben, und im folgenden Jahr wurde Niebla in Spanien gegen die Kastillier mit Feuermaschinen, die Bolzen und Steine schleuderten, verteidigt. Wenn auch die Beschaffenheit der Maschinen, die von den Arabern im 12. Jahr- <189> hundert benutzt wurden, zweifelhaft bleibt, so steht doch fest, daß 1280 gegen Cordova Artillerie verwandt wurde und daß die Spanier zu Beginn des 14. Jahrhunderts von den Arabern die Kenntnis von der Artillerie übernahmen. Ferdinand IV. nahm 1308 Gibraltar mit Kanonen. In den Jahren 1312 und 1323 wurden Baza, 1326 Martos und 1331 Alicante mit Artillerie angegriffen und aus Kanonen Brandsätze in einige dieser belagerten Städte geschossen.

Von den Spaniern ging der Gebrauch der Artillerie auf die übrigen europäischen Nationen über. Die Franzosen benutzten im Jahre 1338 bei der Belagerung von Puy Guillaume Geschütze, und im gleichen Jahr wurden Geschütze auch von den Deutschrittern in Preußen verwandt. Um 1350 waren Feuerwaffen in allen Ländern West-, Süd- und Mitteleuropas allgemein gebräuchlich. Daß die Artillerie östlichen Ursprungs ist, beweist auch die Herstellungsart der ältesten europäischen Geschütze. Die Kanone wurde aus schmiedeeisernen Stäben hergestellt, die längsseits aneinandergeschweißt und durch schwere eiserne Ringe verstärkt wurden, welche man darüberpreßte. Das Geschütz war aus mehreren Teilen zusammengesetzt, wobei das abnehmbare Kammerstück nach dem Laden am Flug befestigt wurde. Die ältesten chinesischen und indischen Kanonen wurden genauso hergestellt und sind so alt wie die ältesten europäischen Geschütze oder sogar älter. Sowohl die europäischen als auch die asiatischen Kanonen waren etwa im 14. Jahrhundert von sehr primitiver Bauart, die zeigt, daß die Artillerie immer noch in ihren Kinderschuhen steckte. Wenn es also ungewiß bleibt, wann die Zusammensetzung des Schießpulvers und seine Anwendung für Feuerwaffen erfunden wurde, so können wir zumindest die Zeit bestimmen, in der es erstmalig ein wichtiges Mittel der Kriegführung wurde. Gerade die Schwerfälligkeit der Kanonen des 14. Jahrhunderts, wo immer sie auftreten, beweist ihre Neuartigkeit als reguläre Kriegsmaschinen. Die europäischen Geschütze jener Zeit waren ziemlich plumpe Dinger. Die großkalibrigen konnten nur bewegt werden, wenn man sie zerlegte, wobei jedes Stück eine Wagenladung ausmachte. Selbst die kleinkalibrigen waren außerordentlich schwer, weil damals weder zwischen dem Gewicht der Kanone und dem des Geschosses noch zwischen dem Geschoß und der Ladung eine richtige Proportion bestand. Wenn die Geschütze in Stellung gebracht wurden, baute man für jedes eine Art Holzrahmen oder Gerüst, von dem gefeuert wurde. Die Stadt Gent hatte eine Kanone, die mit dem Rahmen fünfzig Fuß lang war. Lafetten waren noch unbekannt. Die Kanonen wurden meistens ebenso wie unsere Mörser mit sehr großer Elevation abgefeuert, und ihre Wirkung war daher bis zur Einführung von <190> Hohlgeschossen sehr gering. Die Geschosse waren gewöhnlich runde Steinkugeln, für kleine Kaliber manchmal eiserne Bolzen.

Jedoch trotz all dieser Nachteile wurden Geschütze nicht nur bei Belagerungen und zur Verteidigung von Städten benutzt, sondern auch auf dem Schlachtfeld und an Bord von Kriegsschiffen. Schon sehr früh, im Jahre 1386, kaperten die Engländer zwei französische Schiffe, die mit Kanonen bestückt waren. Wenn die Stücke, die aus der "Mary Rose" (1543 gesunken) geborgen wurden, als Anhaltspunkt dienen dürfen, so waren jene ersten Schiffsgeschütze einfach in einem zu diesem Zweck ausgehöhlten Holzblock eingelassen und befestigt, so daß sie nicht eleviert werden konnten.

Im Verlauf des 15. Jahrhunderts wurden beträchtliche Verbesserungen sowohl in der Bauart als auch in der Anwendung der Artillerie vorgenommen. Man begann, Kanonen aus Eisen, Kupfer oder Bronze zu gießen. Das bewegliche Kammerstück kam außer Gebrauch. Die ganze Kanone wurde aus einem Stück gegossen. Die besten Gießereien waren in Frankreich und Deutschland. In Frankreich versuchte man auch erstmalig, Kanonen während einer Belagerung vorwärtszubewegen und unter Deckung aufzustellen. Um 1450 wurde eine Art Verschanzung eingeführt, und bald darauf bauten die Brüder Bureau die ersten Breschbatterien, mit deren Hilfe der König von Frankreich, Karl VII., in einem Jahr alle Orte zurückeroberte, die ihm die Engländer genommen hatten.

Die größten Verbesserungen nahm jedoch Karl VIII. von Frankreich vor. Er schaffte endgültig das abnehmbare Kammerstück ab, goß seine Kanonen aus Bronze und in einem Stück, führte Schildzapfen sowie Lafetten auf Rädern ein und verwandte nur eiserne Geschosse. Er verringerte auch das Kaliber der Geschütze und nahm die leichteren regelmäßig ins Feld mit. Davon lag die doppelte Kanone auf einer vierrädrigen, von 35 Pferden gezogenen Lafette. Die übrigen Geschütze hatten zweirädrige Lafetten, deren Schwanz auf dem Boden schleifte und die von 24 bis hinunter zu 2 Pferden gezogen wurden. Ein Trupp von Kanonieren wurde jeder Kanone zugeteilt und der Dienst so organisiert, daß damit das erste von anderen Truppen abgesonderte Korps von Feldartillerie entstand. Die leichteren Kaliber waren beweglich genug, um mit den anderen Truppen gemeinsam während des Kampfes die Position zu wechseln und sogar mit der Kavallerie mitzukommen. Diese neue Waffe war es, der Karl VIII. seine überraschenden Erfolge in Italien verdankte. Die italienischen Geschütze wurden nach wie vor von Ochsen gezogen; sie waren immer noch aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt und mußten, wenn die Position erreicht war, auf <191> ihre Gestelle gebracht werden. Die Geschütze feuerten Steingeschosse und waren im ganzen so schwerfällig, daß die Franzosen eine Kanone in einer Stunde öfter abfeuerten als die Italiener an einem Tage. Die von der französischen Feldartillerie gewonnene Schlacht bei Fornovo (1495) verbreitete Schrecken in ganz Italien, und die neue Waffe wurde als unwiderstehlich betrachtet. Machiavellis "Arte della Guerra" wurde ausdrücklich zu dem Zweck geschrieben, Wege zu weisen, wie der Wirkung der Artillerie durch geschickte Aufstellung der Infanterie und der Kavallerie begegnet werden könne.

Ludwig XII. und Franz I., die Nachfolger Karls VIII., setzten die Verbesserung und Gewichtsverminderung der Feldartillerie fort. Franz I. organisierte die Artillerie als eine gesonderte Abteilung unter einem Großmeister der Artillerie. Seine Feldkanonen zersprengten die bis dahin unbesiegbaren Massen der Schweizer Pikeniere bei Marignano im Jahre 1515, indem sie sich schnell von einer Flankenposition in die andere bewegten und so die Schlacht entschieden.

Die Chinesen und Araber kannten den Gebrauch und die Herstellung von Hohlgeschossen, und es ist wahrscheinlich, daß diese Kunst von den Arabern zu den europäischen Völkern kam. Doch wurden dieses Geschoß und der Mörser, aus dem es jetzt abgefeuert wird, in Europa nicht vor der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts übernommen; man schreibt es gewöhnlich Pandolfo Malatesta, dem Fürsten von Rimini, zu. Die ersten Sprengkugeln bestanden aus zwei zusammengeschraubten hohlen Metallhalbkugeln. Die Kunst, ein Geschoß hohl zu gießen, wurde erst später entwickelt.

Kaiser Karl V. stand seinen französischen Rivalen in der Verbesserung der Feldgeschütze nicht nach. Er führte die Protze ein und verwandelte so die zweirädrige Kanone, wenn sie fortbewegt werden mußte, in ein vierrädriges Fuhrwerk, das in der Lage war, ein schnelleres Tempo anzuschlagen und Bodenhindernisse zu überwinden. So konnten seine leichten Kanonen in der Schlacht bei Renty im Jahre1554 im Galopp vorrücken.

Die ersten theoretischen Untersuchungen in der Geschützkunst und über die Flugbahn der Geschosse wurden ebenfalls in dieser Periode angestellt. Man sagt, der Italiener Tartaglia habe entdeckt, daß der Elevationswinkel von 45 Grad in vacuo die größte Schußweite ergibt. Auch die Spanier Collado und Ufano befaßten sich mit ähnlichen Forschungen. So wurden die theoretischen Grundlagen für die Artilleriewissenschaft gelegt,

Ungefähr zur gleichen Zeit brachten Vannuccio Biringoccios Untersuchungen in der Kunst des Gießens (1540) einen bedeutenden Fortschritt <192> in der Herstellung von Geschützen, während die Erfindung der Kaliberskala von Hartmann, durch die jeder Teil einer Kanone in seiner Proportion zum Durchmesser der Seele gemessen wurde, einen gewissen Standard für den Bau von Geschützen gab und den Weg für die Einführung fester theoretischer Grundsätze und allgemeiner, auf Erfahrung begründeter Regeln ebnete.

Eine der ersten Auswirkungen der verbesserten Artillerie war ein völliger Wandel in der Befestigungskunst. Seit der Zeit der assyrischen und babylonischen Monarchien hatte diese Kunst nur wenig Fortschritte gemacht. Aber jetzt schlugen die neuen Feuerwaffen überall eine Bresche in die Steinwälle alten Systems, und ein neues mußte entwickelt werden. Die Verteidigungswerke mußten so gebaut sein, daß so wenig Mauerwerk wie möglich dem direkten Feuer des Belagerers ausgesetzt war und daß sie die Möglichkeit boten, auf ihren Wällen schwere Artillerie aufzustellen. Der alte Steinwall wurde durch einen Erdwall ersetzt, der nur mit Mauerwerk verkleidet war, und der kleine flankierende Turm wurde in eine große fünfeckige Bastion verwandelt. Allmählich deckte man das ganze Mauerwerk, das für die Befestigung verwandt worden war, mit außenliegenden Erdwerken gegen direktes Feuer. Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die Verteidigung eines befestigten Ortes wieder relativ stärker als der Angriff, bis Vauban erneut dem Angriff das Übergewicht gab.

Bisher wurden die Geschütze so geladen, daß man loses Pulver in die Kanone schaufelte. Um 1600 verkürzte die Einführung von Kartuschen, Leinenbeutel mit der vorgeschriebenen Menge Pulver, die für das Laden notwendige Zeitspanne und sicherte durch die so erreichte größere Gleichmäßigkeit der Ladung eine größere Präzision des Feuers. Um diese Zeit wurde noch eine andere wichtige Erfindung gemacht, die des Traubengeschosses und der Kartätsche. Auch der Bau von Feldkanonen für Hohlgeschosse gehört in diese Periode.

Die zahlreichen Belagerungen, die während des Krieges Spaniens gegen die Niederlande stattfanden, trugen sehr viel zur Verbesserung der zur Verteidigung und beim Angriff von Ortschaften verwandten Artillerie bei, besonders in bezug auf die Verwendung von Mörsern und Haubitzen, von Granaten, Brandgeschossen und rotglühenden Kugeln, sowie auf die Zusammensetzung von Zündern und anderen militärischen Feuerwerkskörpern. Die zu Beginn des 17. Jahrhunderts benutzten Kaliber hatten noch immer alle möglichen Größen, vom Achtundvierzigpfünder bis zu den kleinsten Falkonetten für halbpfündige Kugeln.

Trotz aller Verbesserungen war die Feldartillerie noch so unvollkommen, <193> daß diese ganze Vielfalt von Kalibern nötig war, um ungefähr die Wirkung hervorzubringen, die wir heute mit ein paar mittelgroßen Kanonen, zwischen dem Sechs- und Zwölfpfünder, erzielen. Die leichten Kaliber hatten zu jener Zeit Beweglichkeit, aber keine Wirkung; die schweren Kaliber hatten Wirkung, aber keine Beweglichkeit; die dazwischenliegenden hatten weder das eine noch das andere in einem für alle Zwecke ausreichenden Maße. Dementsprechend wurden alle Kaliber beibehalten und waren bunt durcheinandergewürfelt, wobei jede Batterie gewöhnlich aus einem regelrechten Sortiment von Kanonen bestand.

Die Elevation wurde dem Geschütz durch einen Richtkeil gegeben. Die Lafetten waren noch plump, und natürlich war für jedes Kaliber ein eigenes Modell nötig, so daß es nahezu unmöglich war, Ersatzräder und -lafetten ins Feld mitzunehmen. Die Achsen bestanden aus Holz, und es gab unterschiedliche Größen für jedes Kaliber. Dazu kam, daß die Maße der Kanonen und Lafetten nicht einmal für ein einziges Kaliber die gleichen waren; überall gab es eine Menge Stücke alter Bauart und viele Unterschiede der Konstruktion in den verschiedenen Werkstätten eines Landes.

Kartuschen waren noch auf Kanonen in Festungen beschränkt; im Felde wurde die Kanone mit losem Pulver geladen, welches man mittels einer Ladeschaufel einführte, worauf ein Ladepfropfen und danach das Geschoß fest angesetzt wurden. Gleichermaßen wurde loses Pulver in das Zündloch hineingestopft, und der ganze Vorgang vollzog sich außerordentlich langsam.

Die Kanoniere wurden nicht als reguläre Soldaten betrachtet, sondern bildeten eine eigene Gilde, die sich aus Lehrlingen ergänzte. Sie mußten einen Schwur ablegen, die Mysterien und die Geheimniskrämerei ihres Handwerks nicht zu enthüllen. Bei Kriegsausbruch nahmen die Kriegführenden so viele von ihnen in ihre Dienste, wie sie über ihren Friedensbestand hinaus bekommen konnten. Jeder dieser Kanoniere oder Bombardiere erhielt das Kommando über ein Geschütz, hatte ein Reitpferd, Lehrlinge und so viele Berufsgehilfen, wie er brauchte, neben der erforderlichen Anzahl Leute, um schwere Stücke zu transportieren. Die Kanoniere oder Bombardiere erhielten die vierfache Löhnung eines Soldaten. Wenn ein Krieg ausbrach, mietete man die Pferde für die Artillerie bei einem Unternehmer, der auch das Geschirr und die Kutscher stellte.

In der Schlacht wurden die Geschütze in einer Reihe vor der Linie aufgestellt und abgeprotzt, die Pferde ausgespannt. War ein Vormarsch befohlen, so bespannte man die Protzen und protzte die Kanonen auf; manchmal, bei kleinen Entfernungen, wurden die leichteren Kaliber von <194> den Mannschaften transportiert. Pulver und Kugeln führte man in besonderen Wagen mit, die Protzen hatten noch keine Munitionskästen. Manövrieren, Laden, Zündpulveraufschütten, Richten und Feuern waren nach unseren heutigen Begriffen sehr langwierige Operationen; mit einer so unvollkommenen Maschinerie und dem niedrigen Entwicklungsstand der Artilleriewissenschaft muß die Anzahl der Treffer wirklich sehr gering gewesen sein.

Das Erscheinen Gustav Adolfs in Deutschland während des Dreißigjährigen Krieges kennzeichnet einen gewaltigen Fortschritt in der Artillerie. Dieser große Kriegsmann schaffte die besonders kleinen Kaliber ab, die er zuerst durch seine sogenannten Lederkanonen, d.h. leichte schmiedeeiserne Rohre, mit Stricken und Leder verkleidet, ersetzte. Diese waren nur für Kartätschenfeuer vorgesehen, das damit erstmalig im Feldkrieg benutzt wurde. Bis dahin war seine Verwendung auf die Verteidigung des Grabens in Festungen beschränkt gewesen. Gleichzeitig mit der Traubenschußladung und den Kartätschen führte er auch Kartuschen in seine Feldartillerie ein. Da sich die Lederkanonen als nicht sehr dauerhaft erwiesen, ersetzte man sie durch leichte gußeiserne Vierpfünder von 16 Kalibern Länge, die mit Lafette 6 Zentner wogen und von 2 Pferden gezogen wurden. Jedem Infanterieregiment waren 2 dieser Kanonen zugeteilt. So entstand die Regimentsartillerie, die man in vielen Armeen bis zum Beginn dieses Jahrhunderts beibehielt, und verdrängte die alten kleinkalibrigen, aber verhältnismäßig plumpen Kanonen. Ursprünglich nur für Kartätschenfeuer bestimmt, diente sie jedoch auch sehr bald zum Feuern von Vollkugeln. Die schweren Geschütze wurden gesondert gehalten und zu machtvollen Batterien formiert, die an den Flügeln oder vor dem Zentrum der Armee eine für sie vorteilhafte Position einnahmen.

So wurde durch die Trennung der leichten von der schweren Artillerie und durch die Aufstellung der Batterien die Taktik der Feldartillerie begründet. Es war General Torstenson, Generalinspekteur der schwedischen Artillerie, der hauptsächlich zu diesen Ergebnissen beitrug. Dadurch wurde die Feldartillerie zum erstenmal eine unabhängige, bestimmten eigenen Regeln für ihre Verwendung in der Schlacht unterworfene Waffengattung.

Zwei weitere wichtige Erfindungen wurden um diese Zeit gemacht: um 1650 die horizontale Richtschraube, wie sie bis zu Gribeauvals Zeiten im Gebrauch war, und um 1697 Schlagröhren, gefüllt mit Pulver für die Zündung, an Stelle der Methode, Pulver in das Zündloch zu stoßen. Dadurch wurde das Zielen und Laden sehr erleichtert. Eine andere große Verbess- <195> rung war die Erfindung des Zugtaues für das Manövrieren bei kurzen Entfernungen.

Die Anzahl der während des 17. Jahrhunderts ins Feld mitgeführten Geschütze war sehr groß. Zu Greifenhagen hatte Gustav Adolf 80 Stücke bei 20.000 Mann, zu Frankfurt an der Oder 200 Stücke bei 18.000 Mann. Artillerietrains von 100 bis 200 Geschützen waren während der Kriege Ludwigs XIV. eine sehr alltägliche Erscheinung. Bei Malplaquet wurden auf beiden Seiten nahezu 300 Geschütze eingesetzt, das war die größte Menge Artillerie, die bis dahin auf einem einzigen Schlachtfeld konzentriert worden war. Zu dieser Zeit wurden gewöhnlich auch Mörser mit ins Feld genommen.

Die Franzosen behaupteten noch immer ihre Überlegenheit in der Artillerie. Sie waren die ersten, die das alte Gildensystem abschafften und die Kanoniere als reguläre Soldaten führten, indem sie 1671 ein Artillerieregiment formierten und die verschiedenen Pflichten sowie die Rangordnung der Offiziere regelten. So wurde diese Dienstart als eine unabhängige Waffengattung anerkannt und die Ausbildung der Offiziere und Mannschaften vom Staat übernommen. Eine Artillerieschule, die mindestens 50 Jahre als einzige bestand, wurde im Jahre 1690 in Frankreich gegründet. Ein für diese Zeit sehr gutes Handbuch der Artilleriewissenschaft wurde von Saint-Remy 1697 herausgegeben. Aber noch war die Geheimniskrämerei, die das "Rätsel" der Geschützkunst umgab, so groß, daß viele Verbesserungen, die in anderen Ländern angewandt wurden, bis dato in Frankreich unbekannt waren und der Aufbau sowie die Zusammensetzung der Artillerie in den europäischen Ländern sich stark voneinander unterschied. So hatten die Franzosen noch nicht die in Holland erfundene Haubitze übernommen, die vor 1700 in die meisten Armeen eingegangen war. Protzkästen für Munition, zuerst durch Moritz von Nassau eingeführt, waren in Frankreich unbekannt und wurden überhaupt nur wenig angewandt, denn das Rohr, die Lafette und die Protze waren zu schwer, als daß das Geschütz noch zusätzlich mit dem Gewicht der Munition hätte belastet werden können. Man hatte wohl die sehr kleinen Kaliber bis 3 Pfund einschließlich beseitigt, aber die leichte Regimentsartillerie blieb in Frankreich unbekannt.

Die Ladungen, die in der bisher betrachteten Zeit in der Artillerie für Kanonen verwandt wurden, waren allgemein sehr schwer, ursprünglich ebensoschwer wie die Kugeln. Deshalb waren sie trotz geringer Qualität des Pulvers doch weitaus stärker in der Wirkung als die jetzt gebräuchlichen und eine der Hauptursachen für das gewaltige Gewicht der Kanonen. Um <196> solchen Ladungen standzuhalten, war das Gewicht einer Bronzekanone oft 250- bis 400mal so groß wie das des Geschosses. Jedoch erzwang die Notwendigkeit der Verminderung des Gewichts der Geschütze allmählich eine Verminderung der Ladung, und etwa zu Beginn des 18. Jahrhunderts wog die Ladung gewöhnlich nur halb soviel wie das Geschoß. Für Mörser und Haubitzen wurde die Ladung nach der Entfernung bestimmt und war gewöhnlich sehr klein.

Das Ende des 17. und der Beginn des 18. Jahrhunderts stellten die Periode dar, in welcher die Artillerie, ihres mittelalterlichen Charakters einer Gilde entkleidet, in den meisten Ländern endgültig in die Armee eingegliedert als eine Waffengattung anerkannt und dadurch in die Lage versetzt wurde, sich gleichmäßiger und schneller zu entwickeln. Das Ergebnis war ein fast unmittelbar einsetzender und sehr bedeutender Fortschritt. Die Regellosigkeit und Verschiedenartigkeit der Kaliber und Modelle, die Unzuverlässigkeit aller empirischen Regeln, das völlige Fehlen von gut fundierten Grundsätzen wurde nun offensichtlich und unerträglich. Deshalb wurden überall in großem Maßstab Versuche unternommen, um die Wirkung der Kaliber, das Verhältnis des Kalibers zur Ladung, zum Gewicht und zur Länge der Kanone, die Metallstärke der Kanone, die Schußweite die Wirkung des Rückschlages auf die Lafetten etc. festzustellen. Zwischen 1730 und 1740 leitete Belidor solche Experimente zu La Fère in Frankreich, Robins in England und Papacino d'Antoni zu Turin. Das Ergebnis war eine starke Verringerung der Kaliber, eine zweckmäßigere Metallstärke der Kanone und eine sehr weitgehende Herabsetzung der Ladungen, deren Gewicht jetzt zwischen einem Drittel und der Hälfte des Geschoßgewicht lag.

Hand in Hand mit diesen Verbesserungen ging der Fortschritt in der Artilleriewissenschaft vor sich. Galilei hatte die Parabeltheorie aufgestellt, sein Schüler Torricelli sowie Anderson, Newton, Blondel, Bernoulli, Wolff und Euler beschäftigten sich mit der weiteren Bestimmung der Flugbahn der Geschosse, des Luftwiderstandes und der Ursachen ihrer Abweichungen. Die obengenannten Theoretiker der Artilleriewissenschaft trugen auch wesentlich zur Weiterentwicklung des mathematischen Teils der Geschützkunst bei.

Unter Friedrich dem Großen wurde die preußische Feldartillerie erneut erheblich leichter. Wie sich herausstellte, hatten die kurzen, leichten Regimentsgeschütze mit nicht mehr als 14, 16 oder 18 Kalibern Länge und mit einem 80- bis 150fachen Gewicht des Geschosses die genügende Schußweite für die Schlachten dieser Tage, die hauptsächlich vom Infanteri- <197> feuer entschieden wurden. Demzufolge hatte Friedrich II. alle seine Zwölfpfünder in derselben Länge und im selben Gewicht gießen lassen. Im Jahr 1753 folgten die Österreicher ebenso wie auch die meisten anderen Staaten diesem Beispiel. Friedrich selbst rüstete seine Reserveartillerie im letzten Teil seiner Regierungszeit aber wieder mit langen, mächtigen Kanonen aus, da ihn seine Erfahrung bei Leuthen von ihrer überlegenen Wirkung überzeugt hatte. Friedrich der Große führte eine neue Waffengattung ein, indem er die Kanoniere einiger seiner Batterien beritten machte und so die reitende Artillerie schuf, dazu bestimmt, der Kavallerie die gleiche Unterstützung zu bieten, die die Fußartillerie der Infanterie bot. Die neue Waffengattung erwies sich als außerordentlich wirksam und wurde sehr bald von den meisten Armeen übernommen. Einige Armeen, wie z.B. die österreichische, ließen statt dessen die Kanoniere auf besonderen Wagen aufsitzen.

In den Armeen des 18. Jahrhunderts war der Anteil der Geschütze noch immer sehr groß. Friedrich der Große hatte im Jahre 1756 für 70.000 Mann 206 Kanonen, 1762 für 67.000 Mann 275 und 1778 für 180.000 Mann 811 Kanonen. Diese waren, mit Ausnahme der Regimentsgeschütze, welche ihren Bataillonen folgten, in Batterien von verschiedener Größe, je 6 bis 20 Geschütze, formiert. Die Regimentsgeschütze rückten mit der Infanterie vor, während die Batterien aus den gewählten Stellungen feuerten und manchmal in eine zweite Stellung vorrückten, aber hier gewöhnlich bis zum Ausgang der Schlacht verblieben. In ihrer Beweglichkeit ließen die Geschütze noch sehr viel zu wünschen übrig, und der Verlust der Schlacht bei Kunersdorf wurde dadurch verschuldet, daß es unmöglich war, im entscheidenden Moment Artillerie heranzubringen. Der preußische General Tempelhoff führte auch Feldmörserbatterien ein, bei denen die leichten Mörser auf dem Rücken von Maultieren transportiert wurden; man schaffte diese jedoch bald wieder ab, als sich ihre Unbrauchbarkeit im Kriege von 179211793 erwies.

Der wissenschaftliche Zweig der Artillerie wurde in dieser Zeit besonders in Deutschland gepflegt. Struensee und Tempelhoff schrieben über dieses Thema brauchbare Werke, der führende Artilleriefachmann seiner Zeit war jedoch Scharnhorst. Sein Handbuch der Artillerie ist die erste wirklich umfassende Abhandlung über diesen Gegenstand, während sein schon 1787 herausgegebenes Handbuch für Offiziere die erste wissenschaftliche Entwicklung der Taktik der Feldartillerie enthält. Seine Werke, obwohl in vieler Hinsicht veraltet, sind immer noch klassisch. Im österreichischen Dienst lieferten General Vega, im spanischen General Morla, im <198> preußischen Hoyer und Rouvroy wertvolle Beiträge zur Literatur über die Artillerie.

Die Franzosen hatten 1732 ihre Artillerie nach dem System von Vallière reorganisiert. Sie behielten Vierundzwanzig-, Sechzehn-, Zwölf-, Acht und Vierpfünder und übernahmen die Achtzollhaubitze. Immer noch waren die Konstruktionsmodelle sehr verschiedenartig; die Kanonen waren 22-26 Kaliber lang und wogen ungefähr 250mal soviel wie das entsprechende Geschoß. Schließlich setzte 1774 General Gribeauval, der im Siebenjährigen Krieg bei den Österreichern gedient hatte und die Überlegenheit der neuen preußischen und österreichischen Artillerie kannte, die Einführung seines neuen Systems durch. Man trennte endgültig die Belagerungsartillerie von der Feldartillerie. Erstere wurde aus allen Geschützen, die schwerer als Zwölfpfünder waren, und allen alten schweren Zwölfpfündern formiert. Die Feldartillerie setzte sich aus der Sechszollhaubitze zusammen und aus Zwölfpfündern, Achtpfündern und Vierpfündern, alle 18 Kaliber lang und 150mal so schwer wie das Geschoß. Die Ladung der Kanonen wurde endgültig auf ein Drittel des Geschoßgewichts festgelegt, die vertikale Richtschraube wurde eingeführt und jedes Teil eines Geschützes oder eine Lafette nach einem bestimmten Modell hergestellt, so daß es leicht aus den Magazinen ersetzt werden konnte. Sieben Modelle von Rädern und drei Modelle von Achsen genügten für all die verschiedenen Fahrzeuge, die bei der französischen Artillerie im Gebrauch waren. Obwohl die Verwendung von Protzkästen zur Beförderung eines Munitionsvorrats den meiste Artilleristen bekannt war, führte sie Gribeauval in Frankreich nicht ein. Die Vierpfünder wurden auf die Infanterie verteilt, wobei jedes Bataillon zwei erhielt; die Acht- und Zwölfpfünder teilte man in getrennte Batterien als Reserveartillerie ein, mit einer Feldschmiede für jede Batterie. Train- und Handwerkerkompanien wurden organisiert, und alles zusammengenommen war diese Artillerie Gribeauvals die erste ihrer Art, die auf einer moderne Grundlage aufgebaut war. Diese Artillerie erwies sich jeder anderen dieser Zeit in den die Konstruktion der Geschütze bestimmenden Proportionen in ihrem Material und in ihrer Organisation überlegen und diente viele Jahre lang als Vorbild.

Dank der Verbesserungen Gribeauvals übertraf die französische Artillerie während der Revolutionskriege jede andere und entwickelte sich in den Händen Napoleons bald zu einer Waffe von bisher unbekannter Wirksamkeit. Es wurde keine Veränderung vorgenommen, außer daß man 1799 endgültig mit dem System der Regimentsgeschütze Schluß machte und daß mit der gewaltigen Anzahl von Sechs- und Dreipfündern, die Napoleon in <199> allen Teilen Europas erobert hatte, auch diese Kaliber in der Armee Eingang fanden. Die gesamte Feldartillerie wurde in Batterien zu je 6 Geschützen formiert; davon war eins gewöhnlich eine Haubitze, die übrigen waren Kanonen. Aber wenn es auch nur wenige oder gar keine Änderungen im Material der Artillerie gab, so gab es doch eine gewaltige Änderung in ihrer Taktik. Obwohl die Anzahl der Kanonen durch den Wegfall der Regimentsgeschütze etwas herabgesetzt war, wurde die Wirkung der Artillerie in der Schlacht durch ihre meisterhafte Anwendung erhöht. Napoleon verwandte eine Anzahl leichter Kanonen, die den Infanteriedivisionen zugeteilt wurden, um eine Schlacht zu beginnen, um den Feind zu zwingen, seine Stärke zu zeigen etc., während die Masse der Artillerie in Reserve gehalten wurde, bis der entscheidende Angriffspunkt bestimmt war. Dann wurden plötzlich riesige Batterien formiert, die sich alle auf diesen Punkt konzentrierten und durch eine gewaltige Kanonade den endgültigen Angriff der Infanteriereserven vorbereiteten. Bei Friedland formierte man auf diese Weise 70 Kanonen, bei Wagram 100 Kanonen in Linie, bei Borodino bereitete eine Batterie von 80 Kanonen den Angriff Neys auf Semenowskoje vor. Andererseits erforderten die von Napoleon gebildeten großen Massen der Reservekavallerie eine entsprechende Streitkraft reitende Artillerie zu ihrer Unterstützung. Diese Waffengattung fand wieder die vollste Aufmerksamkeit und war sehr zahlreich in den französischen Armeen vertreten, in denen ihre richtige taktische Verwendung zuerst praktisch begründet wurde. Ohne Gribeauvals Verbesserungen wäre diese neue Verwendung der Artillerie unmöglich gewesen, und da eine Veränderung der Taktik notwendig geworden war, fanden diese Verbesserungen allmählich und mit geringen Abwandlungen ihren Weg in alle europäischen Armeen.

Die britische Artillerie war zu Beginn des französischen Revolutionskrieges äußerst vernachlässigt und hinter anderen Nationen sehr zurückgeblieben. Sie hatte 2 Regimentsgeschütze für jedes Bataillon, aber keine Reserveartillerie. Die Geschütze hatten ein Einzelgespann, die Kutscher gingen mit langen Peitschen nebenher. Pferde und Kutscher waren gemietet. Das matériel war von sehr altmodischer Bauart, und mit Ausnahme von sehr kurzen Entfernungen konnten die Geschütze nur im Schritt-Tempo fortbewegt werden. Reitende Artillerie war unbekannt. Aber nach 1800, als durch die Erfahrung die Unzulänglichkeit dieses Systems offenbar wurde, reorganisierte Major Spearman die Artillerie von Grund auf. Die Protzen wurden für ein Doppelgespann eingerichtet, je 6 Geschütze zu einer Batterie <200> zusammengestellt und im allgemeinen jene Verbesserungen eingeführt, die bereits seit einiger Zeit auf dem europäischen Kontinent in Gebrauch waren. Da keine Kosten gescheut wurden, war die britische Artillerie bald die ordentlichste, am solidesten und großzügigsten ausgestattete ihrer Art. Große Aufmerksamkeit schenkte man der neuaufgestellten reitenden Artillerie, die sich bald durch Kühnheit, Schnelligkeit und Präzision ihrer Manöver auszeichnete. Was die neuen Verbesserungen am matériel anbelangt, so waren sie auf die Bauart der Fahrzeuge beschränkt. Seitdem wurden die Blocklafette und der Munitionswagen mit Protze von den meisten Ländern Europas übernommen.

Während dieser Zeit wurde das Stärkeverhältnis der Artillerie zu der anderen Bestandteilen einer Armee etwas bestimmter. Den zu jener Zeit größten Anteil Artillerie in einer Armee hatten die Preußen bei Pirmasens - 7 Geschütze auf je 1.000 Mann. Napoleon erachtete 3 Geschütze auf 1.000 Mann als völlig ausreichend, und diese Proportion wurde zur allgemeinen Regel. Auch die Anzahl der Geschosse pro Geschütz wurde fest gelegt und betrug wenigstens 200; davon waren ein Viertel oder ein Fünfte Kartätschen. Im Frieden, nach dem Sturz Napoleons, wurde die Artillerie aller europäischen Mächte allmählich verbessert. Die leichten Kaliber von 3 und 4 Pfund wurden überall abgeschafft und die verbesserten Lafetten und Wagen der englischen Artillerie von den meisten Ländern übernommen. Die Ladung wurde fast überall auf ein Drittel, das Metallgewicht der Kanone auf oder ungefähr auf das 150fache des Geschoßgewichts und die Länge des Geschützes auf 16-18 Kaliber festgesetzt.

Die Franzosen reorganisierten ihre Artillerie 1827. Die Feldkanonen wurden auf ein Kaliber von 8 und 12 Pfund bei 18 Kalibern Länge fest gesetzt, die Ladung auf ein Drittel und das Metallgewicht der Kanone auf das 150fache des Geschoßgewichts. Man übernahm die englischen Lafetten und Wagen, und zum ersten Mal fanden Protzkästen in die französische Armee Eingang. Zwei Arten Haubitzen mit einem Kaliber von 15 und 16 Zentimetern wurden den Acht- bzw. Zwölfpfünderbatterien beigegeben. Dies neue System der Feldartillerie zeichnet sich durch große Einfachheit aus. Es gibt nur zwei Lafetten- und Achsengrößen, eine Protzen- und eine Radgröße bei allen Fahrzeugen der französischen Feldbatterien. Außerdem führte man eine gesonderte Gebirgsartillerie ein, bestehend aus Haubitzen mit einem Kaliber von 12 Zentimetern.

Die englische Feldartillerie hat jetzt fast ausschließlich Neunpfünder von 17 Kalibern Länge mit einem Gewicht von eineinhalb Zentnern auf je ein Pfund Geschoßgewicht und mit einer Ladung, die ein Drittel des <201> Geschoßgewichts beträgt. In jeder Batterie gibt es zwei 24pfündige Fünfeinhalbzollhaubitzen. Sechspfünder und Zwölfpfünder wurden im letzten russischen Krieg <Krimkrieg 1853-1856> überhaupt nicht eingesetzt. Zwei Radgrößen sind im Gebrauch. Sowohl bei der englischen als auch bei der französischen Fußartillerie sitzen die Kanoniere während der taktischen Bewegungen auf den Protzen und Munitionswagen.

Die preußische Armee ist mit Sechs- und Zwölfpfündern von 18 Kalibern Länge ausgerüstet, deren Gewicht das 145fache und deren Ladung ein Drittel des Geschoßgewichts beträgt. Die Haubitzen haben ein Kaliber von fünfeinhalb und sechseinhalb Zoll. Eine Batterie besteht aus 6 Kanonen und 2 Haubitzen. Es gibt zwei Rad- und Achsentypen und einen Protzentyp. Die Lafetten entsprechen der Konstruktion Gribeauvals. Für schnelle taktische Bewegungen sitzen bei der Fußartillerie 5 Kanoniere, die ausreichen, um das Geschütz zu bedienen, auf dem Protzkasten und auf den Pferden an der rechten Seite; die übrigen 3 folgen, so gut sie können. Die Munitionswagen sind deshalb nicht, wie im französischen und britischen Heer, bei den Geschützen, sondern bilden eine Kolonne für sich und werden während des Kampfes außerhalb der Schußweite gehalten. Der verbesserte englische Munitionswagen wurde 1842 übernommen.

Die österreichische Artillerie hat Sechs- und Zwölfpfünder von 16 Kalibern Länge, 135mal so schwer wie das Geschoß und mit einer Ladung, die ein Viertel des Geschoßgewichts beträgt. Die Haubitzen sind denen des preußischen Heeres ähnlich. Sechs Kanonen und zwei Haubitzen bilden eine Batterie.

Die russische Artillerie hat Sechs- und Zwölfpfünder, 18 Kaliber lang, 150mal so schwer wie das Geschoß, mit einer Ladung von einem Drittel des Geschoßgewichts. Die Haubitzen haben ein Kaliber von 5 und 6 Zoll. Dem Kaliber und der Bestimmung entsprechend, bilden entweder 8 oder 12 Geschütze eine Batterie, wovon die eine Hälfte Kanonen und die andere Haubitzen sind.

Die sardinische Armee hat Acht- und Sechzehnpfünder mit entsprechend großen Haubitzen. Die kleineren deutschen Armeen haben alle Sechs- und Zwölfpfünder, die Spanier Acht- und Zwölfpfünder, die Portugiesen, Schweden, Dänen, Belgier, Holländer und Neapolitaner Sechs- und Zwölfpfünder.

Der Vorsprung, den die britische Artillerie durch Major Spearmans Reorganisation gewonnen hatte, trug gemeinsam mit dem dadurch in dieser <202> Armee erweckten Interesse für weitere Verbesserungen und dem weiten Feld, das dem Fortschritt der Artillerie durch die gewaltige Marineartillerie Großbritanniens geboten wurde, zu vielen wichtigen Erfindungen bei. Die bei den Briten üblichen Zündsätze für Feuerwerkskörper sind ebenso wie ihr Schießpulver allen anderen überlegen, und die Genauigkeit ihrer Zeitzünder ist ohnegleichen. Die wichtigste Erfindung, die jüngst in der britischen Artillerie gemacht wurde, ist das Schrapnell (mit Gewehrkugeln gefülltes Hohlgeschoß, das während des Fluges explodiert); dadurch erreichte die Kartätsche die gleiche wirksame Schußweite wie eine Vollkugel. Obwohl die Franzosen meisterhafte Konstrukteure und Organisatoren sind, haben sie beinahe die einzige Armee, welche dieses neue und furchtbare Geschoß noch nicht übernommen hat; sie waren nicht in der Lage, die Art des Zünders herauszufinden, auf die es ankommt.

Ein neues System der Feldartillerie wurde von Louis-Napoleon vor geschlagen, und allem Anschein nach ist man in Frankreich im Begriff, es anzuwenden. Alle jetzt gebräuchlichen 4 Kaliber der Kanonen und Haubitzen sollen von einem leichten Zwölfpfünder ersetzt werden, der 151/2 Kaliber lang ist, das 110fache des Geschosses wiegt und dessen Ladung ein Viertel des Gewichts einer Vollkugel beträgt. Eine Granate mit dem Kaliber von 12 Zentimetern (die gleiche, die jetzt in der Gebirgsartillerie verwand wird), aus derselben Kanone mit einer verringerten Ladung gefeuert, verdrängt auf diese Weise die speziell für Hohlgeschosse verwandten Haubitzen. Die Experimente, die in vier Artillerieschulen Frankreichs gemacht wurden, waren sehr erfolgreich, und man sagt, daß diese Geschütze auf der Krim eine bedeutende Überlegenheit über die russischen, vor allem über die Sechspfünder, gezeigt haben. Die Engländer hingegen sind der Meinung, daß ihr langer Neunpfünder in Schußweite und Präzision dieser neuen Kanone überlegen ist, und es muß bemerkt werden, daß sie die ersten waren, die einen leichten Zwölfpfünder mit einer Ladung von einem Viertel des Geschoßgewichts einführten, aber sehr bald wieder aufgaben; offensichtlich diente er Louis-Napoleon als Vorbild. Das Abfeuern von Granaten aus gewöhnlichen Kanonen ist der preußischen Armee entlehnt, in der bei Belagerungen für bestimmte Zwecke die Vierundzwanzigpfünder zum Feuern von Granaten benutzt wurden. Dennoch muß die Brauchbarkeit der Kanone Louis-Napoleons erst durch die Erfahrung festgestellt werden, und da nichts Besonderes über ihre Wirkung im letzten Krieg publiziert wurde, kann man hier von uns kein endgültiges Urteil über ihre Vorzüge erwarten.

Die Gesetze und die durch Experimente aufgestellten Regeln, um volle, <203> hohle oder andere Geschosse durch ein Geschütz vorwärts zu treiben, die ermittelten Proportionen von Schußweite, Elevation und Ladung, die Auswirkungen des Spielraums und anderer Ursachen der Abweichung, die Wahrscheinlichkeiten, das Ziel zutreffen, und die mannigfaltigen Umstände, die in der Kriegführung eintreten können, machen die Artilleriewissenschaft aus.

Obwohl die Tatsache, daß ein schwerer Körper, der in vacuo in eine andere als die vertikale Richtung geschleudert wird, in seinem Flug eine Parabel beschreibt, das Grundgesetz dieser Wissenschaft ist, so ändert jedoch der Luftwiderstand, der mit der Geschwindigkeit des sich bewegenden Körpers zunimmt, die Anwendung der Parabeltheorie in der Geschützpraxis sehr wesentlich. Daher weicht die Fluglinie bei Kanonen, die ihr Geschoß mit einer Anfangsgeschwindigkeit von 1.400 bis 1.700 Fuß in der Sekunde herausschleudern, beträchtlich von der theoretischen Parabel ab, und zwar so weit, daß mit ihnen die größte Schußweite bei einer Elevation von nur ungefähr 20 Grad erreicht wird, während sie nach der Parabeltheorie bei 45 Grad liegen sollte. Praktische Versuche haben mit ziemlicher Genauigkeit diese Abweichungen festgestellt und damit die richtige Elevation für jede Kategorie von Geschützen bei gegebener Ladung und Schußweite festgelegt. Es gibt aber noch andere Umstände, die den Flug eines Geschosses beeinflussen. Da ist vor allem der Spielraum, das heißt die Differenz, um die der Durchmesser des Geschosses geringer sein muß als der Durchmesser der Bohrung, um das Laden zu erleichtern. Er verursacht erstens ein Entweichen des sich ausdehnenden Gases bei Explosion der Ladung, also eine Verminderung der Treibkraft, und zweitens eine Abweichung in der Schußrichtung, wodurch eine vertikale oder horizontale Streuung eintritt.

Außerdem sind zu berücksichtigen die unvermeidliche Ungleichmäßigkeit des Gewichts der Ladung oder ihrer Verfassung zur Zeit ihrer Verwendung, ferner die Exzentrizität des Geschosses, d.h., daß der Schwerpunkt der Kugel nicht mit ihrem Mittelpunkt zusammenfällt, wodurch Abweichungen entstehen, die entsprechend der Stellung dieser Punkte zueinander im Moment des Feuerns variieren, und viele andere Ursachen, welche unter scheinbar gleichen Bedingungen des Fluges voneinander abweichende Resultate bewirken.

Wir haben gesehen, daß für Feldgeschütze eine Ladung von einem Drittel des Geschoßgewichts und eine Länge von 16 bis 18 Kalibern beinahe überall übernommen wurde. Mit derartigen Ladungen wird beim Kernschuß (die Kanone wird horizontal gerichtet) das Geschoß nach <204> ungefähr 300 Yard den Boden berühren; durch Elevieren der Kanone kann diese Schußweite bis zu 3.000 oder 4.000 Yard erhöht werden, Bei einer solchen Schußweite besteht jedoch nicht die geringste Wahrscheinlichkeit, das Ziel zu treffen, und beim Gebrauchsschießen überschreitet die Schußweite der Feldkanonen nicht 1.400-1.500 Yard; bei dieser Entfernung kann aber kaum erwartet werden, daß von 6 oder 8 Schüssen einer ins Ziel geht. Die wirksamste Schußweite, innerhalb derer die Kanone zum Ausgang der Schlacht beitragen kann, liegt für Vollkugeln und Granaten zwischen 600 und 1.100 Yard, und bei dieser Schußweite ist die Wahrscheinlichkeit, ins Ziel zu treffen, tatsächlich weit größer. So rechnet man, daß bei 700 Yard ungefähr 50 Prozent, bei 900 Yard ungefähr 35 Prozent, bei 1.100 Yard 25 Prozent aller aus einem Sechspfünder abgefeuerten Geschosse ein Ziel treffen werden, das die Front eines Bataillons in Angriffskolonne darstellt (34 Yard lang und 2 Yard hoch). Die Neun- und Zwölfpfünder mögen etwas bessere Resultate ergeben. Bei einigen Experimenten die 1850 in Frankreich durchgeführt wurden, erzielten die damals gebräuchlichen Acht- und Zwölfpfünder gegen ein Ziel von 30 × 3 Metern (eine Truppe Kavallerie darstellend) folgende Resultate:

500 m

600 m

700 m

800 m

900 m

Zwölfpfünder, Treffer

64%

54%

43%

37%

32%

Achtpfünder, Treffer

67%

44%

40%

28%

28%

Obwohl das Ziel um die Hälfte höher war, blieb das Ergebnis hier unter dem oben angegebenen Durchschnitt.

Bei Feldhaubitzen ist die Ladung im Verhältnis zum Gewicht des Geschosses beträchtlich geringer als bei Kanonen. Die Ursachen dafür sind die geringe Lange des Geschützes (7-10 Kaliber) und die Notwendigkeit, es mit großer Elevation abzufeuern. Der Rückschlag einer stark elevierten Haubitze, der sowohl nach unten als auch nach hinten wirkt, würde die Lafette bei einer schweren Ladung so beanspruchen, daß sie nach wenigen Schüssen gebrauchsunfähig wäre. Das ist der Grund, warum bei den meisten Artillerien des europäischen Kontinents für dieselbe Feldhaubitze verschiedene Ladungen verwandt werden; deshalb muß der Kanonier eine gegebene Schußweite durch unterschiedliche Kombinationen der Ladung und Elevation erreichen. Wo dies, wie in der britischen Artillerie, nicht der Fall ist, ist die gewählte Elevation notwendigerweise sehr niedrig und übersteigt kaum die der Kanonen; die Schußweitentabellen der britischen 24pfündigen Haubitzen mit zweieinhalb Pfund Ladung zeigen bei 4 Grad <205> nicht mehr als 1.050 Yard an; der Neunpfünder dagegen erreicht bei gleicher Elevation eine Schußweite von 1.400 Yard. Bei den meisten deutschen Armeen ist eine besonders kurze Haubitze in Gebrauch, die man auf 16 bis 20 Grad elevieren kann und die deshalb ähnlich wie ein Mörser wirkt; ihre Ladung ist notwendigerweise nur klein. Sie hat gegenüber der gewöhnlichen langen Haubitze den Vorteil, daß sie ihre Granaten hinter Bodenwellen etc. in gedeckte Stellungen werfen kann. Wenn auch dieser Vorteil gegenüber beweglichen Objekten, wie Truppen, zweifelhafter Natur ist, so ist er doch dort von großer Bedeutung, wo das vor direktem Feuer geschützte Objekt unbeweglich ist. Für direktes Feuer sind diese Haubitzen wegen ihrer geringen Länge (6-7 Kaliber) und ihrer geringen Schußweite so gut wie nutzlos. Um unterschiedliche Schußweiten bei einer für einen bestimmten Zweck (direktes Feuer oder Bombardieren) festgelegten Elevation zu erreichen, variiert die Ladung notwendigerweise sehr stark; in der preußischen Feldartillerie, in der diese Haubitzen noch verwandt werden, gibt es nicht weniger als zwölf verschiedene Ladungen. Im übrigen ist die Haubitze nur ein sehr unvollkommenes Geschütz, und je früher sie von einem wirksamen Feldgeschütz für Sprenggranaten in den Hintergrund gedrängt wird, desto besser.

Die schweren Geschütze, die in Festungen, bei Belagerungen und zur Kriegsausrüstung der Marine verwandt werden, sind verschiedenartig. Bis zum vergangenen russischen Krieg war es nicht üblich, im Belagerungskrieg schwerere Geschütze als Vierundzwanzigpfünder einzusetzen, oder allerhöchstens ein paar Zweiunddreißigpfünder. Seit der Belagerung von Sewastopol sind jedoch Belagerungs- und Schiffsgeschütze identisch, besser, die Wirkung der schweren Schiffsgeschütze auf Trancheen und Befestigungswerke hat sich als so unerwartet überlegen gegenüber den üblichen leichten Belagerungsgeschützen erwiesen, daß der Belagerungskrieg in Zukunft in großem Maße von solchen schweren Schiffsgeschützen entschieden werden wird.

Sowohl in der Belagerungs- als auch in der Marineartillerie gibt es gewöhnlich verschiedene Geschützmodelle desselben Kalibers. Es gibt sowohl leichte und kurze Geschütze als auch lange und schwere. Da die Beweglichkeit von geringerer Bedeutung ist, werden für besondere Zwecke oft Kanonen von 22 bis 25 Kalibern Länge hergestellt, wovon einige infolge dieser größeren Länge in der Praxis so präzis wie Gewehre sind. Eine der besten dieser Art ist der preußische aus Bronze bestehende Vierundzwanzigpfünder von 10 Fuß, 4 Zoll oder 22 Kalibern Länge und einem Gewicht von 60 Zentnern. Bei einer Belagerung gibt es keine Kanone, die <206> ihm beim Demontieren gleichkommt. Für die meisten Zwecke wird jedoch eine Länge von 16 bis 20 Kalibern als ausreichend befunden, und da ein größeres Kaliber meistens einer äußersten Genauigkeit vorzuziehen ist, so wird eine Masse von 60 Zentner Eisen oder Geschützmetall in der Regel in einem schweren Zweiunddreißigpfünder von 16 bis 17 Kalibern Länge nützlicher verwandt werden. Der neue lange, eiserne Zweiunddreißigpfünder, eine der besten Kanonen in der britischen Kriegsmarine, 9 Fuß lang, 50 Zentner schwer, mißt nur 161/2 Kaliber. Das lange, 112 Zentner schwere 68pfündige Pivotgeschütz aller mit 131 Geschützen bestückte großen Schiffe mit Schraubenantrieb mißt 10 Fuß, 10 Zoll, d.h. ein wenig mehr als 16 Kaliber; eine andere Art von Pivotgeschütz, der lange Sechsundfünfzigpfünder von 98 Zentnern Gewicht, mißt 11 Fuß oder 171/2 Kaliber. Selbst heute noch findet man eine große Anzahl weniger wirksamer Geschütze in der Bestückung der Kriegsschiffe, Kanonen mit einer Seelenlänge von nur 11 oder 12 Kalibern und Karronaden von 7 bis 8 Kalibern Lange.

Es gibt jedoch noch eine andere Art von Schiffsgeschützen, die vor ungefähr 35 Jahren von General Paixhans eingeführt wurde und die seitdem eine gewaltige Bedeutung erlangt hat, die Bombenkanone. Diese Geschützart wurde beträchtlichen Verbesserungen unterzogen, und die in Frankreich verwandte Bombenkanone kommt der vom Erfinder konstruierten noch am nächsten; die zylindrische Kammer für die Ladung wurde beibehalten. Im englischen Heer ist die Kammer entweder ein kurzer, abgestumpfter Kegel, wobei sich der Durchmesser der Bohrung nur sehr wenig verjüngt, oder das Geschütz hat überhaupt keine Kammer. Es mißt in der Länge 10 bis 13 Kaliber und ist ausschließlich für Hohlgeschosse bestimmt, aber die oben erwähnten langen Achtundsechzigpfünder und Sechsundfünfzigpfünder feuern ohne Unterschied Voll- und Hohlgeschosse.

In der US-Kriegsmarine hat Kapitän Dahlgren eine neue Art Bombenkanone vorgeschlagen, die aus kurzen Geschützen sehr großen Kalibers besteht (11 und 9 Zoll) und teilweise in die Bestückung mehrerer neuer Fregatten aufgenommen wurde. Der Wert dieser Geschützart muß noch in der Praxis festgestellt werden, die ergeben muß, ob die ungeheure Wirkung solch gewaltiger Granaten ohne Einbuße an Präzision erreicht werden kann, die unter der bei großen Schußweiten erforderlichen Elevation auf jeden Fall leidet.

Bei Belagerungs- und Schiffsgeschützen sind die Ladungen ebenso verschieden wie die Bauarten der Geschütze und die Zwecke, die erreicht werden sollen. Um eine Bresche in Mauerwerk zu schlagen, werden die schwer- <207> sten Ladungen verwandt, und diese haben bei einigen sehr schweren und massiven Geschützen die Hälfte des Geschoßgewichts. Im ganzen jedoch kann man ein Viertel als eine gute Durchschnittsladung für Belagerungszwecke ansehen, manchmal auf ein Drittel ansteigend, bei anderen auf ein Sechstel absinkend. Auf den Kriegsschiffen gibt es gewöhnlich drei Kategorien von Ladungen für jedes Geschütz: die große Ladung für Gefechtsmanöver auf weite Entfernungen, Verfolgung etc., die mittlere Ladung für Seegefechte bei durchschnittlichen Distanzen, die reduzierte Ladung beim Schießen mit Kettenkugeln und aus nächster Nähe. Für die langen Zweiunddreißigpfünder entsprechen die Ladungen 5/16, 1/4 und 3/10 des Geschoßgewichts. Für kurze, leichte Kanonen und für Bombenkanonen sind diese Proportionen natürlich noch weiter reduziert; aber auch bei den letzteren ist die Ladung für Hohlgeschosse geringer als für Vollkugeln.

Neben Kanonen und Bombenkanonen werden schwere Haubitzen und Mörser in die Belagerungs- und Schiffsartillerie aufgenommen. Haubitzen sind kurze Geschütze auf Lafetten und dazu bestimmt, mit einer Elevation bis zu 12 bzw. 30 Grad Granaten zu feuern. Mörser sind noch kürzere Geschütze, die auf Blöcken befestigt sind und dazu dienen, Bomben mit einer Elevation zu werfen, die gewöhnlich 20 Grad überschreitet und sogar bis zu 60 Grad ansteigt. Beides sind Geschütze mit Kammern; i.e., die Kammer oder der Teil des Rohres, der die Ladung aufnehmen soll, ist im Durchmesser kleiner als der Flug oder die eigentliche Bohrung. Haubitzen haben selten ein Kaliber über 8 Zoll, Mörser jedoch bis zu 13, 15 und mehr Zoll. Die Flugbahn einer Bombe von einem Mörser ist wegen der geringen Ladung (1/20 bis 1/40 des Geschoßgewichts) und seiner beträchtlichen Elevation weniger vom Luftwiderstand beeinträchtigt, und hier kann die Parabeltheorie bei Schußberechnungen ohne wesentliche Abweichung von den praktischen Ergebnissen angewandt werden. Mörserbomben sollen entweder durch die Explosion wirken und als Brandbomben durch den Flammenstrahl der Zünder leicht brennbare Objekte in Brand setzen oder auch durch ihr Gewicht gewölbte und auf andere Weise gesicherte Bedachungen durchschlagen. Im letzteren Fall wird die größere Elevation bevorzugt, weil sie die größte Flughöhe und die höchste Fallgeschwindigkeit ergibt. Haubitzengeschosse sollen erst durch ihren Aufschlag und dann durch die Explosion wirken. Der Mörser wirft durch seine große Elevation sowie durch die geringe Anfangsgeschwindigkeit der Bombe und den dadurch entstehenden geringen Luftwiderstand sein Geschoß weiter als irgendein anderes Geschütz. Da das zu bombardierende Objekt gewöhnlich eine ganze Stadt ist, erfordert das Feuer nur eine geringe Präzision, und deshalb <208> erstreckt sich die wirksame Reichweite der schweren Mörser auf 4.000 Yard und mehr; aus dieser Entfernung wurde Sweaborg von den englisch-französischen Mörserbooten bombardiert.

Die Anwendung dieser verschiedenen Arten von Geschützen, Geschossen und Ladungen während einer Belagerung wird unter dem entsprechenden Titel behandelt werden. Die Anwendung der Schiffsartillerie bildet fast die gesamte Elementartaktik der Kriegsmarine im Seekampf und gehört deshalb nicht zu diesem Thema; so bleibt uns nur noch, einige Bemerkungen über die Anwendung und die Taktik der Feldartillerie machen.

Die Artillerie hat keine Waffen für den Nahkampf, alle ihre Kräfte sind auf die Fernwirkung ihres Feuers konzentriert. Darüber hinaus ist sie nur so lange in Kampfbereitschaft, wie sie sich in Stellung befindet; sobald sie aufprotzt oder das Zugtau für eine Bewegung befestigt, ist sie vorübergehend kampfunfähig. Aus diesen beiden Gründen ist sie von allen drei Waffengattungen die defensivste. Ihre Angriffskraft ist in der Tat sehr begrenzt, da Angriff Vorwärtsbewegung bedeutet und sein Kulminationspunkt der Anprall von Stahl gegen Stahl ist. Das kritische Stadium für die Artillerie ist deshalb das Vorrücken, das Stellungbeziehen und die Vorbereitung zum Kampf unter feindlichem Beschuß. Ihr Deployieren zur Feuerlinie, ihre einleitenden Bewegungen müssen entweder durch Bodenhindernisse oder durch Truppenlinien verschleiert werden. Daher muß sie, um sich nicht einem Flankenfeuer auszusetzen, eine Position parallel zu der Linie erreichen, die eingenommen werden soll, und dann vorrücken, um dem Feind direkt gegenüber in Stellung zu gehen.

Die Wahl der Stellung ist eine Sache von größter Wichtigkeit sowohl in bezug auf die Wirkung des Feuers einer Batterie als auch des auf sie selbst gerichteten Feuers. Die Geschütze so aufzustellen, daß sie auf den Feind so durchschlagend wie möglich wirken, ist erstes Gebot, die Sicherung vor feindlichem Beschuß das zweite. Eine gute Stellung muß einen festen und ebenen Standplatz für die Räder und Lafettenschwänze der Kanonen bieten. Wenn die Räder nicht auf gleicher Ebene stehen, ist kein gutes Schießen möglich, und wenn sich der Lafettenschwanz in den Boden gräbt, wird die Lafette durch den Rückschlag sehr schnell zerbrechen. Die Stellung muß außerdem eine freie Sicht über das vom Feind besetzte Gelände gestatten und so viel Bewegungsfreiheit wie möglich bieten.

Schließlich muß das davorliegende Gelände, zwischen der Batterie und <209> dem Feind, für die Wirkung unserer Waffen günstig sein und, wenn möglich, ungünstig für die Wirkung der Waffen des Feindes. Am günstigsten ist ein festes und ebenes Gelände, das den Vorteil des Rikoschettierens bietet und das kurzgefeuerte Geschoß den Feind nach dem ersten Aufschlag treffen läßt. Es ist erstaunlich, wie die Bodenbeschaffenheit die Wirkung der Artillerie beeinflußt. Auf weichem Boden wird das Geschoß beim Aufschlag abweichen oder regelwidrig abprallen, wenn es nicht sofort steckenbleibt. Die Richtung der Furchen in gepflügtem Land spielt besonders für Kartätschen- und Schrapnellfeuer eine große Rolle; wenn sie quer verlaufen, wühlen sich die meisten Geschoßstücke in sie hinein. Wenn der Boden direkt vor uns weich, wellig oder gebrochen ist, aber weiter zum Feind hin eben und hart, so wird er unsere Feuerwirkung begünstigen und uns vor der feindlichen schützen. Einen Abhang von mehr als 5 Grad Neigung hinab- bzw. hinaufzuschießen oder vom Gipfel eines Hügels auf den eines anderen zu feuern, ist sehr ungünstig.

Unsere Sicherheit vor feindlichem Beschuß wird schon durch sehr kleine Objekte erhöht. Ein dünner Zaun, der kaum unsere Stellung verdeckt, eine Strauchgruppe oder hochstehendes Getreide werden den Gegner daran hindern, richtig zu zielen. Eine kleine steile Bodenerhebung, auf dem unsere Kanonen aufgestellt sind, wird die gefährlichsten Geschosse des Feindes abfangen. Ein Damm gibt eine kapitale Brustwehr, doch der beste Schutz ist der Kamm einer leichten Bodenwelle, hinter der wir unsere Kanonen so weit zurückziehen, daß der Feind nichts als die Mündung sieht. In dieser Position wird jeder Schuß, der den Boden vor uns trifft, nach dem Aufprall hoch über unsere Köpfe hinwegspringen. Noch besser ist es, wenn wir für unsere Kanonen auf dem Kamm eine Stellung ausheben können, ungefähr 2 Fuß tief, nach hinten zum Abhang zu abflachend, um so den ganzen äußeren Abhang des Hügels zu beherrschen. Die Franzosen unter Napoleon waren außerordentlich geschickt im Aufstellen ihrer Kanonen, und von ihnen haben alle anderen Nationen diese Kunst erlernt. In bezug auf den Feind muß die Stellung so gewählt sein, daß sie frei von Flanken- oder Enfilierfeuer ist; in bezug auf unsere eigenen Truppen darf sie deren Bewegungen nicht hemmen. Der gewöhnliche Abstand nebeneinanderstehender Kanonen beträgt 20 Yard, aber es ist nicht nötig, sich streng an eine dieser Regeln des Exerzierplatzes zu halten. Einmal in Stellung, stehen die Protzen dicht hinter ihren Kanonen, während die Wagen bei einigen Armeen in Deckung bleiben. Dort, wo die Wagen zum Aufsitzen der Mannschaften benutzt werden, müssen auch sie sich der Gefahr aussetzen, in den Wirkungsbereich der Geschosse zu gelangen.

<210> Die Batterie richtet ihr Feuer auf den Teil der feindlichen Kräfte, der im Moment unsere Stellung am meisten bedroht. Soll unsere Infanterie angreifen, so feuert die Batterie entweder auf die gegenüberliegende Artillerie, wenn diese noch zum Schweigen gebracht werden muß, oder auf die Massen der Infanterie, falls diese sich zeigen. Wenn jedoch ein Teil des Feindes ernsthaft zum Angriff übergeht, so muß man das Feuer auf ihn richten, ohne Rücksicht auf die feindliche Artillerie, die auf uns schießt. Unser Feuer gegen die feindliche Artillerie wird am wirksamsten sein, wenn diese nicht erwidern kann, i.e., wenn sie aufprotzt, die Stellung wechselt oder abprotzt. In solchen Augenblicken richten ein paar gutgezielte Schüsse die größte Verwirrung an.

Die alte Regel, daß sich Artillerie, abgesehen von dringenden, entscheidenden Momenten, der Infanterie nicht weiter als auf 300 Yard, das heißt dem Bereich der Handfeuerwaffen, nähern soll, wird jetzt bald überholt sein. Mit der wachsenden Schußweite moderner Gewehre kann sich die Feldartillerie, wenn sie wirksam sein soll, nicht länger aus der Gewehrschußweite heraushalten, und eine Kanone mit ihrer Protze, den Pferden und Kanonieren bildet eine Gruppe, groß genug, daß Scharfschützen bei 600 Yard Entfernung mit dem Minié- oder Enfield-Gewehr darauf schießen können. Die althergebrachte Anschauung, daß, wer lange leben will, zur Artillerie gehen soll, ist nicht mehr richtig, da augenscheinlich der Einsatz von Scharfschützen in Zukunft der wirksamste Weg zur Bekämpfung der Artillerie sein wird; und wo ist das Schlachtfeld auf dem man nicht 600 Yard von jeder möglichen Artilleriestellung entfernt eine ausgezeichnete Deckung für Scharfschützen finden könnte?

Gegenüber vorrückenden Linien oder Kolonnen der Infanterie ist die Artillerie bis jetzt immer im Vorteil gewesen. Ein paar wirksame Kartätschensalven oder einige Vollkugeln, die eine tiefe Kolonne durchpflügen, haben eine erschreckend abkühlende Wirkung. Je näher der Angriff kommt, desto wirkungsvoller wird unsere Tätigkeit, und selbst im letzten Augenblick können wir unsere Kanonen einem Gegner von solcher Langsamkeit leicht entziehen, obwohl es noch zweifelhaft bleiben muß, ob nicht eine Linie von chasseurs de Vincennes <französische Jäger zu Fuß>, die im pas gymnastique <Laufschritt> vorrücken, über uns herfallen würde, bevor wir aufgeprotzt haben.

Gegenüber der Kavallerie sichert Kaltblütigkeit der Artillerie den Vorteil. Wenn letztere ihr Kartätschenfeuer bis auf 100 Yard zurückhält und dann eine gutgezielte Ladung abfeuert, so wird die Kavallerie ziemlich <211> weit weg sein, wenn sich der Rauch verzogen hat. Aufzuprotzen und die Flucht zu versuchen wäre auf jeden Fall das schlechteste Verfahren; denn die Kavallerie würde die Geschütze sicherlich überholen.

Bei Artillerie gegen Artillerie entscheiden das Gelände, die Kaliber, das zahlenmäßige Verhältnis der Geschütze und wie diese eingesetzt werden. Es muß jedoch bemerkt werden, daß, obwohl die großen Kaliber bei großen Schußweiten einen unbestrittenen Vorteil haben, sich die kleineren Kaliber in ihrer Wirkung den großen in dem Maße nähern, wie die Schußweiten abnehmen, und bei kurzen Entfernungen ihnen beinahe gleich sind. Bei Borodino bestand die Artillerie Napoleons hauptsächlich aus Drei- und Vierpfündern, während bei den Russen die zahlreichen Zwölfpfünder vorherrschten; doch schnitten die kleinen französischen Kanönchen entschieden am besten ab.

Bei der Unterstützung der Infanterie oder Kavallerie muß die Artillerie immer eine Position an deren Flanke beziehen. Wenn die Infanterie vorrückt, rückt die Artillerie in Halbbatterien oder Abteilungen in einer Höhe mit der Schützenlinie vor, oder vielmehr vor dem Gros der Infanterie. Sobald sich die Infanteriemassen auf den Bajonettangriff vorbereiten, bewegt sich die Artillerie im Trab bis auf 400 Yard an den Feind heran und bereitet den Angriff durch Schnellfeuer mit Kartätschen vor. Falls der Angriff zurückgeschlagen wird, eröffnet die Artillerie wieder ihr Feuer auf den nachfolgenden Feind, bis sie zum Rückzug gezwungen ist; gelingt aber der Angriff, trägt ihr Feuer beträchtlich dazu bei, einen vollen Erfolg zu erzielen, wobei die eine Hälfte der Kanonen feuert, während die andere vorrückt.

Die reitende Artillerie als Unterstützung der Kavallerie verleiht dieser etwas von dem defensiven Element, welches der Kavallerie naturgemäß gänzlich fehlt; sie ist jetzt einer der beliebtesten Dienstzweige und wurde in allen europäischen Armeen in hohem Maße vervollkommnet. Obwohl dafür vorgesehen, auf Kavalleriegelände und gemeinsam mit der Kavallerie zu handeln, so gibt es doch keine reitende Artillerie auf der Welt, die nicht bereit wäre, über ein Gelände zu galoppieren, auf dem ihre eigene Kavallerie nicht folgen kann, ohne Ordnung und Zusammenhalt zu opfern. Die reitende Artillerie eines jeden Landes bringt die kühnsten und geschicktesten Reiter der Armee hervor, die ihren besonderen Stolz dareinsetzen werden, an großen Kampftagen mit den Kanonen und allem Drum und Dran ungeachtet aller Hindernisse vorzupreschen, vor denen die Kavallerie haltmachen müßte.

Die Taktik der reitenden Artillerie besteht in Kühnheit und Kaltblütigkeit. Schnelligkeit, plötzliches Auftreten, rasches Feuern, die Bereitschaft, <212> sich jederzeit in Bewegung zu setzen und jeden Weg zu nehmen, der für die Kavallerie zu schwierig ist -, das sind die Hauptqualitäten einer guten reitenden Artillerie. Bei diesem ständigen Positionswechsel ist eine Wahl der Stellungen selten möglich. Jede Stellung, die nahe am Feind und der Kavallerie nicht im Wege liegt, ist gut. Gerade während der Ebbe und Flut der Kampfhandlungen der Kavallerie hat die Artillerie, die die vorrückenden und zurückflutenden Wellen umgibt, in jedem Augenblick ihre überlegene Reitkunst und Geistesgegenwart zu beweisen, indem sie in diesem wogenden Meer über alle Geländearten hinwegprescht, wo nicht jede Kavallerie folgen kann oder will.

Beim Angriff und bei der Verteidigung von Stellungen ist die Artillerietaktik ähnlich. Die Hauptsache ist immer, jenen Punkt unter Feuer zu nehmen, von dem der Verteidigung unmittelbar Gefahr droht oder von dem aus beim Angriff unser Vorrücken am wirksamsten aufgehalten werden kann. Auch die Zerstörung wesentlicher Hindernisse bildet einen Teil ihrer Pflichten, und hier werden die unterschiedlichen Kaliber und Geschützarten ihrer Beschaffenheit und ihrer Wirkung entsprechend eingesetzt: Haubitzen, um Häuser in Brand zu setzen, schwere Kanonen, um Tore, Mauern und Barrikaden zusammenzuschießen.

All diese Bemerkungen betreffen die Artillerie, die in jeder Armee den Divisionen angeschlossen ist. Aber die bedeutendsten Erfolge werden in großen und entscheidenden Schlachten von der Reserveartillerie erzielt. Fast den ganzen Tag außer Sicht und Schußweite gehalten, wird sie in Massen auf den entscheidenden Punkt vorrücken, sobald die Zeit für den Endkampf gekommen ist. Zu einem Halbmond formiert, eine Meile lang oder länger, konzentriert sie ihr zerstörendes Feuer auf einen verhältnismäßig kleinen Punkt. Wenn dort nicht eine ebenbürtige Massierung von Geschützen vorhanden ist, um ihr entgegenzutreten, so ist die Angelegenheit durch eine halbe Stunde Schnellfeuer erledigt. Unter dem Hagel der heulenden Geschosse schwinden die Kräfte des Feindes dahin; die intakt gebliebenen Reserven der Infanterie gehen vor - ein letzter kurzer, heftiger Kampf, und der Sieg ist errungen. So bereitete Napoleon den Vormarsch Macdonalds bei Wagram vor, und der Widerstand wurde gebrochen, bevor die drei in einer Kolonne vorrückenden Divisionen einen Schuß abfeuert oder ein Bajonett gekreuzt hatten. Erst seit diesen großen Tagen kann man von dem Bestehen einer Taktik der Feldartillerie sprechen.