Inhaltsverzeichnis Aufsätze für "The New American Cyclopædia"

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 14, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 91-94.

1. Korrektur.
Erstellt am 22.08.1998.

Karl Marx

Berthier

Geschrieben um den 15. September 1857.
Aus dem Englischen.


["The New American Cyclopædia", Band III]

<91> Berthier, Louis-Alexandre, Marschall von Frankreich, Fürst und Herzog von Neuchâtel und Valengin, Fürst von Wagram, geboren am 20. November 1753 zu Versailles, am 1. Juni 1815 zu Bamberg ermordet. Er wurde von seinem Vater, dem Chef des Topographenkorps unter Ludwig XVI., zum Soldaten erzogen. Vom königlichen topographischen Büro ging er in den aktiven Dienst über, zuerst als Leutnant in den Generalstab und anschließend als Hauptmann der Dragoner. Während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges diente er unter Lafayette. 1789 ernannte ihn Ludwig XVI. zum Generalmajor der Nationalgarde von Versailles, und am 5. und 6. Oktober 1789 sowie auch am 19. Februar 1791 leistete er der königlichen Familie gute Dienste. Er erkannte jedoch, daß die Revolution militärischen Talenten große Möglichkeiten bot, und so finden wir ihn abwechselnd als Chef des Generalstabs unter Lafayette, Luckner und Custine. Während der Schreckensherrschaft vermied er es, Verdacht zu erregen, indem er Eifer im Krieg der Vendée an den Tag legte. Sein persönlicher Mut bei der Verteidigung von Saumur am 12. Juni 1793 sicherte ihm eine ehrenvolle Erwähnung in den Berichten der Kommissare des Konvents. Nach dem 9. Thermidor wurde er zum Chef des Generalstabs Kellermanns ernannt und trug, indem er auf die Besetzung der Linie bei Borghetto durch die französische Armee bestand, dazu bei, daß der Vormarsch des Gegners zum Stillstand kam. So war sein Ruf als Chef des Generalstabs schon begründet, bevor Bonaparte ihn für diesen Posten auserwählte. Er bewährte sich auch als guter Divisionsgeneral in den Schlachten bei Mondovi (22. April 1796), Lodi (10. Mai 1796), Codogno (9. Mai 1796) und Rivoli (14. Januar 1797) während der Kampagne von 1796 bis 1797.

Er war von schwachem Charakter, aber zäh und energisch und mit der Konstitution eines Herkules, die es ihm gestattete, 8 Nächte hintereinander <92> durchzuarbeiten. Er hatte ein erstaunliches Gedächtnis für alles, was die Details militärischer Operationen betraf, wie z.B. Bewegung der Korps, Truppenstärke, Einquartierungen und Kommandobestand. Er war von einer Promptheit, auf die man sich immer verlassen konnte, ordentlich und exakt, gut bewandert in der Kartenkunde und besaß im besondern Maße die Fähigkeit, die Eigentümlichkeiten des Geländes einzuschätzen. Geübt, in einfacher und klarer Sprache über die kompliziertesten militärischen Bewegungen zu berichten, war er genügend erfahren und scharfsichtig, um während der Kampfhandlungen zu wissen, wohin die erhaltenen Befehle weiterzuleiten sind, wobei er deren Ausführung selbst überwachte. Er war der lebende Telegraph seines Vorgesetzten auf dem Schlachtfeld und dessen unermüdlicher Schreibautomat am Schreibpult des Stabes. Er war das Urbild eines Stabsoffiziers für einen General, der sich alle höheren Stabsfunktionen vorbehält. Trotz seiner Einwände stellte Bonaparte ihn 1798 an die Spitze der Armee, die Rom besetzen, dort die Republik ausrufen und den Papst gefangennehmen sollte. Außerstande, die in Rom durch französische Generale, Kommissare und Lieferanten begangenen Räubereien zu verhindern und die Meuterei unter den französischen Soldaten aufzuhalten, legte er die Befehlsgewalt in die Hände von Masséna und begab sich nach Mailand, wo er sich in die schöne Madame Visconti verliebte; seine extravagante und andauernde Leidenschaft, die ihm während seiner Ägyptenexpedition den Spitznamen Führer der faction des amoureux <Partei der Verliebten> einbrachte, kostete ihn den größten Teil der 40.000.000 Francs, die ihm von seinem kaiserlichen Gebieter nacheinander geschenkt wurden.

Nach seiner Rückkehr aus Ägypten unterstützte er in den Tagen des 18. und 19. Brumaire die Intrigen Bonapartes und wurde zum Kriegsminister ernannt; diesen Posten bekleidete er bis zum 2. April 1800. Während des zweiten Feldzugs in Italien war er wiederum Chef des Generalstabs und trug in bestimmtem Maße dazu bei, daß Napoleon in eine sichtlich schwierige Lage bei Marengo geriet, weil er falschen Berichten über die Route und Position der österreichischen Armee Glauben geschenkt hatte. Als er nach dem Sieg einen Waffenstillstand mit General Mélas abgeschlossen hatte, wurde er mit verschiedenen diplomatischen Aufträgen betraut und kehrte anschließend wieder ins Kriegsministerium zurück, das er bis zur Proklamierung des Kaiserreichs leitete. Von nun an stellte er sich völlig in den Dienst der Person des Kaisers, den er als Chef des Generalstabs im Range eines Generalmajors der Großen Armee auf allen seinen <93> Feldzügen begleitete. Napoleon überschüttete ihn mit Titeln, Würden, Nebeneinkünften, Pensionen und Schenkungen. Am 19. Mai 1804 wurde er zum Marschall des Kaiserreichs, Inhaber des Großordens der Ehrenlegion und Großjägermeister von Frankreich ernannt. Am 17. Oktober 1805 hatte er die Ehre, mit Mack die Kapitulationsbedingungen von Ulm festzulegen.

Aus dem preußischen Feldzug 1806 kam er mit der Würde eines souveränen Fürsten von Neuchâtel und Valengin nach Hause. Im Jahre 1808 wurde ihm befohlen, die Prinzessin Marie Elisabeth von Bayern-Birkenfeld zu heiraten, die Nichte des Königs von Bayern <Maximilian I. Joseph>, und er wurde zum Viceconnétable von Frankreich ernannt. Im Jahre 1809 stellte ihn Napoleon als Oberbefehlshaber an die Spitze der Großen Armee, die von Bayern aus gegen Österreich operieren sollte. Am 6. April erklärte Berthier den Krieg, aber bereits am 15. April hatte er es fertiggebracht, den ganzen Feldzug zu gefährden. Er teilte die Armee in 3 Teile. Davout setzte er mit der Hälfte der französischen Streitkräfte bei Regensburg, Masséna mit der anderen Hälfte bei Augsburg und zwischen beide die Bayern bei Abensberg ein, so daß Erzherzog Karl bei schnellem Vormarsch alle drei Korps hätte einzeln besiegen können. Die Langsamkeit der Österreicher und die Ankunft Napoleons retteten die französische Armee. Unter den Augen seines Gebieters jedoch und auf Posten, die seinen Fähigkeiten mehr entsprachen, leistete er in dem gleichen Feldzug ausgezeichnete Dienste, und zu seiner langen Liste von Titeln kam noch der des Fürsten von Wagram hinzu.

Während des Feldzuges in Rußland versagte er auch als Chef des Generalstabs. Nach dem Brand von Moskau erwies er sich sogar als unfähig, die Befehle seines Gebieters richtig zu erläutern; aber trotz seines dringenden Ersuchens, mit Napoleon nach Frankreich zurückkehren zu dürfen, befahl dieser ihm, bei der Armee in Rußland zu bleiben. Seine Engstirnigkeit und sein Hang zur Routine traten jetzt, inmitten der furchtbaren Übermacht, gegen die die Franzosen zu kämpfen hatten, besonders deutlich zutage. Getreu seiner Tradition gab er einem Bataillon, manchmal einer Kompanie der Nachhut dieselben Befehle, als ob diese Nachhut sich noch wie ehedem aus 30.000 Mann zusammensetzte; er wies Regimentern und Divisionen Stellungen an, die schon lange aufgehört hatten zu existieren; und um sein eigenes Verlangen nach Betätigung zu befriedigen, setzte er immer mehr Kuriere ein und gab eine Anordnung nach der andern heraus. In den Jahren 1813/1814 finden wir ihn wieder auf seinem gewohnten Posten.

<94> Nachdem der Senat die Absetzung Napoleons proklamiert hatte, schlich sich Berthier unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, von seinem Gönner hinweg und sandte noch vor Napoleons Abdankung dem Senat und der provisorischen Regierung eine Treueerklärung; dann ging er an der Spitze der Marschälle des Kaiserreichs nach Compiègne, um dort Louis XVIII. äußerst unterwürfig zu begrüßen. Am 4. Juni 1814 ernannte ihn Ludwig XVIII. zum Pair von Frankreich und zum Hauptmann einer Kompanie der neugeschaffenen Königlichen Garde. Sein Fürstentum Neuchâtel trat er an den König von Preußen gegen eine Pension von 34.000 Florins ab. Nach Napoleons Rückkehr von Elba folgte er Ludwig XVIII. nach Gent. Als er jedoch wegen der Geheimhaltung eines von Napoleon erhaltenen Briefes beim König in Ungnade fiel, zog er sich nach Bamberg zurück, wo er am 1. Juni 1815 von sechs maskierten Männern getötet wurde, die ihn aus einem Fenster des Palastes seines Schwiegervaters warfen. Seine Memoiren wurden 1826 in Paris veröffentlicht.