Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 545-547.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Die Invasionspanik in England

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5813 vom 9. Dezember 1859]

<545> London, 25. November 1859

Paniken scheinen neuerdings so regelmäßige Ereignisse im politischen Leben Englands geworden zu sein, wie sie es seit langer Zeit im englischen Industriesystem sind. Geschickt in Szene gesetzte Paniken sind ein wichtiges Mittel für die Regierungen in sogenannten freien Ländern. Wenn die Menschen in Furcht und Schrecken versetzt werden, lassen sie sich leichter von gefährlichen Grillen ablenken. Nehmen wir z.B. die Reformfrage in England. Zur gleichen Zeit, als England vor der Frage stand, ob es für immer auf die Kontrolle über Nordamerika verzichten sollte, schlug Lord Grey eine durchgreifende Reformbill vor, die vorsah, den ganzen traditionellen Einfluß der Lords auf das Unterhaus zu beseitigen. Im Jahre 1780 brachte der Herzog von Richmond eine Reformbill ein, die tatsächlich so weit ging, jährlich zu erneuernde Parlamente und allgemeines Wahlrecht zu verlangen. Selbst Pitt, dessen hundertster Geburtstag vorübergegangen ist, ohne daß er von seinen Landsleuten beachtet wurde, da sie gerade damit beschäftigt waren, den hundertsten Todestag Händels zu feiern, - dieser selbe Pitt hatte ursprünglich auf sein Banner das Wort "Parlamentsreform" geschrieben. Wie kam es dann, daß die Reformbewegung des 18. Jahrhunderts, die die einsichtsvollsten Vertreter der herrschenden Klassen ergriffen hatte, erlosch, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen? Sie wurde von der Panik vor der Französischen Revolution hinweggefegt, der der Antijakobinerkrieg, die ungeheure Staatsverschuldung und die schändlichen Gagging Acts folgten. Vor einigen Jahren tötete die russische Panik zwei Reformbills, und heutzutage ist wahrscheinlich die Panik vor einer französischen Invasion dazu angetan, den gleichen Dienst zu verrichten. Wir können daher die dunkle Befürchtung der von Herrn Bright <546> geführten englischen Radikalen richtig einschätzen, die erklären, daß sie die Oligarchen und deren Werkzeuge in der Presse für interessierte Panikmacher halten, die darauf aus sind, durch das Gespenst einer französischen Invasion die Reform zu vereiteln und die Mißherrschaft zu verewigen. Die Sache hat in der Tat einige unschöne, verdächtige Seiten. Die Palmerston-Presse ist der Hauptträger der Invasionspanik, während Palmerston offensichtlich der intimste Freund Louis Bonapartes ist. Kann derselbe Mann, der aus einem Kabinett ausscheiden mußte, weil er den coup d'état ohne Zustimmung seiner Kollegen anerkannte, und aus einem anderen Kabinett verjagt wurde, weil er die französische Verschwörungsbill einbrachte, die geeignetste Person sein, um bonapartistische Pläne zu durchkreuzen? Zur gleichen Zeit, da die Palmerston-Presse das englische Volk vor Bonapartes Perfidität warnt, ruft sie die Engländer auf, sich mit demselben Mann in eine neue chinesische Expedition einzulassen.

Trotzdem kann nicht geleugnet werden, daß die gegenwärtige Kriegspanik in England, die sich freilich zugunsten der Politik der aristokratischen Partei auswirken kann, keineswegs unbegründet ist. Wann immer Bonaparte einen neuen Frieden schließt, fragt sich England instinktiv, ob es nunmehr an der Reihe ist, angegriffen zu werden. Somit scheint ein Krieg zwischen Frankreich und England nur eine Frage der Zeit zu sein. Aus Furcht vor der Revolution akzeptierte das offizielle Europa das Regime Louis Bonapartes, aber eine periodische Auslösung von Kriegen ist eine der Lebensnotwendigkeiten dieses Regimes. Es befreit die Kabinette von dem Popanz der Revolution nur unter dem ausdrücklichen Übereinkommen, daß sie gestatten, selber der Reihe nach erobert zu werden. Louis Bonaparte hatte kaum zwei Jahre auf seinem usurpierten Throne gesessen, als der russische Krieg notwendig wurde, damit er sich weiter an der Macht halten konnte. Es waren noch keine zwei Jahre seit dem Abschluß des Friedens mit Rußland vergangen, als allein das italienische Abenteuer ihn vor einer schmählichen Katastrophe bewahrte. Seine Schwierigkeiten haben sich durch eine Reihe von Kriegen bestimmt nicht verringert, deren Ergebnisse nichts als Blendwerk auf der einen Seite, Staatsschulden und die wachsende Unverschämtheit der Prätorianergarde auf der anderen Seite waren, gar nicht zu reden von der Opposition des Klerus, die zu den anderen Elementen der inneren Unsicherheit, die schon bestanden, hinzukam. Nach dem russischen Kriege verstrich einige Zeit, ehe orleanistischer Widerwille seinen Sarkasmus zu äußern und revolutionäre Verzweiflung Bomben zu werfen wagte. Die offensichtliche Enttäuschung, die der letzte Krieg hervorrief, zeigt sich am deutlichsten in dem Stillstand des französischen <547> Geschäftslebens, in dem vollständigen Fehlschlagen der kaiserlichen Amnestie, der erneuten Strenge gegenüber der Presse und den wiederbelebten Hoffnungen der Orleanisten. Während die Masse des französischen Volkes über einen fruchtlosen Krieg murrt, der sie die Ersparnisse des Friedens gekostet hat, schimpft die Masse der Armee über einen Frieden, der sie ihrer Meinung nach um die Früchte des Krieges betrogen hat. Noch einige Monate und die Schwierigkeiten, die Louis Bonaparte bedrängen und aus denen nur ein neuer Krieg einen Ausweg bietet, werden sich in ihrem vollen Ausmaß entwickelt haben. Die aufeinanderfolgenden Kriege, die er auf Grund seiner Lage anzuzetteln gezwungen ist, werden jedoch allmählich immer gefährlicher für ihn und für Europa, als dessen mächtigster Vertreter England angesehen werden kann. Der Krimkrieg wurde kaum auf europäischem Boden ausgetragen. Der Krieg in Italien konnte nur lokalisiert werden durch seine jähe Beendigung. Ein Krieg am Rhein und noch mehr eine Invasion Englands würden schon von Anfang an den Charakter eines allgemeinen europäischen Krieges annehmen. Aber Louis Bonaparte hat nur zwischen Preußen und England als in Frage kommende Objekte für seinen nächsten Angriff zu wählen. In beiden Fällen wird England Partei ergreifen, in dem einen als Hauptakteur, in dem anderen als Hilfeleistender. Die letztere Eventualität ist die wahrscheinlichere, aber es ist unmöglich vorauszusehen, welche unmittelbaren Kollisionen zwischen Frankreich und England aus einem Kriege zwischen Frankreich und Preußen erwachsen können. Wir beabsichtigen, bei einer anderen Gelegenheit die militärischen Vorbereitungen zu untersuchen, die England im Hinblick auf die bevorstehende Auseinandersetzung trifft.