Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 531-534.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Ein radikaler Standpunkt zum Frieden

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5786 vom 8. November 1859]

<531> Paris, 20. Oktober 1859

Der in Zürich von den Bevollmächtigten Frankreichs und Österreichs abgeschlossene Friedensvertrag stellt in seinen Hauptpunkten eine einfache Wiederholung der in Villafranca vereinbarten Grundsätze dar. Die Verhandlungen über den endgültigen Frieden nahmen doppelt so viel Zeit in Anspruch wie die Kriegshandlungen, die vor den Mauern Mantuas beendet wurden. Es gab sehr viele zuversichtliche Leute, die in dem schwerfälligen Vorgehen der Friedensstifter einen tiefgründigen Plan Louis Bonapartes sehen wollten. Sie behaupteten, er wolle den Italienern Handlungsfreiheit verschaffen, damit sie ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen können und so dem französischen Befreier Gelegenheit geben, nach der Festigung der Einheit Italiens mit Anstand von den an Franz Joseph gemachten unangenehmen Konzessionen und den eingegangenen Verpflichtungen zurückzutreten und sich dabei auf die höhere Gewalt eines fait accompli zu berufen. Politische Verträge sind von den Zufällen nicht ausgeschlossen, die Privatverträge treffen können; diese werden nach dem Code Napoléon durch das Auftreten einer force majeure ungültig. Die Leute, die so argumentieren, haben erneut ihre traurige Unwissenheit offenbart, nicht nur über den Charakter ihres Lieblingshelden, sondern auch über die traditionelle Diplomatie Frankreichs, vom roten Kardinal <Richelieu> bis herab zum Mann des Dezember und von den Bösewichtern des Direktoriums bis zu den Blauen von 1848. Der erste Grundsatz dieser traditionellen Diplomatie lautet: Es ist die vornehmste Pflicht Frankreichs, die Bildung mächtiger Staaten an seinen Grenzen zu verhindern und infolge- <532> dessen die gegen die Einheit gerichteten Verfassungen Italiens und Deutschlands unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Dies ist die gleiche Politik, die den Frieden von Münster und den Frieden von Campoformio diktierte. Das Ziel, das durch die zeitraubenden Züricher Transaktionen wirklich erreicht werden soll, ist sonnenklar. Wenn Louis Bonaparte Anfang Juli versucht hätte, die Bedingungen von Villafranca durchzuführen, zu einer Zeit, als seine eigene Armee siegestrunken war, als im italienischen Volk die Leidenschaft hohe Wellen schlug und als Frankreich seinen verwundeten Stolz durch die törichte Vorstellung beschwichtigte, es ertrage die eigene Sklaverei, um im Ausland die Freiheit zu bringen, so wären dem holländischen Usurpator wütende Gegner entstanden, mit denen schwerer fertig zu werden gewesen wäre als selbst mit dem widerspenstigen Festungsviereck zwischen Mincio und Etsch. Er hätte sich auf seine eigene Armee nicht verlassen können, Italien zum Kampf herausgefordert und vielleicht das Zeichen für eine Insurrektion in Paris gegeben. Um von der bei dieser Gelegenheit zur Schau getragenen melodramatischen Erhabenheit auf die tatsächliche Gemeinheit eines vorher verabredeten Betruges überzuleiten, brauchte er nichts als Zeit. Immer noch steht eine französische Armee auf italienischem Boden, aber sie verwandelte sich aus einer Befreiungsarmee in eine Besatzungsarmee, deren täglicher Verkehr mit den Einheimischen alles andere als liebenswürdig ist, da Vertraulichkeit wie gewöhnlich Verachtung erzeugte. Frankreich seinerseits ist aus seinem kurzen Traum erwacht, schaudert angesichts der Gefahr einer europäischen Koalition, grübelt über die verlorengegangene alte Armee und über die entstandene neue Staatsschuld und mißtraut mehr denn je den "idées napoléoniennes". Was Italien betrifft, so müssen wir nach den Tatsachen urteilen, nicht nach den Proklamationen. Da ist Garibaldi, der nicht das notwendige Geld zur Bewaffnung seiner Freiwilligenarmee erhält, obwohl die Stärke dieser Armee geradezu lächerlich wirkt, im Vergleich zu den Massen, die während des Befreiungskrieges in Preußen zu den Fahnen strömten; dabei war Preußen damals noch kleiner als die Lombardei.

Mazzini gesteht in seinem Appell an Viktor Emanuel, daß der Strom des nationalen Enthusiasmus rasch in den provinziellen Teichen versickert und daß die Voraussetzungen für eine Rückkehr in den alten Zustand schnell heranreifen. Es trifft zu, daß das langweilige Intermezzo zwischen dem Vertrag von Villafranca und dem Frieden von Zürich in den Herzogtümern und der Romagna von einigen großen Staatsaktionen unter der Leitung piemontesischer Regisseure ausgefüllt war; doch spielten diese politischen Gaukler trotz des lauten Beifalls von allen Galerien Europas <533> nur ihren heimlichen Feinden in die Hände. Es wurde den Toskanern, Modenensern, Parmesanern und Romagnolen gerne gestattet, provisorische Regierungen zu bilden, ihre abwesenden Fürsten ihrer winzigen Throne zu entheben und Viktor Emanuel als re eletto <erwählten König> zu proklamieren; sie waren jedoch zugleich ausdrücklich verpflichtet, sich mit diesen Formalitäten zufriedenzugeben, Ruhe zu bewahren und alles übrige der französischen Vorsehung zu überlassen, die gerade dabei sei, ihr Schicksal in Zürich festzulegen, und die allen Aufwallungen der Begeisterung, Ausbrüchen volkstümlicher Leidenschaften und allures révolutionaires <revolutionären Allüren> besonders abgeneigt ist. Sie sollten ihre ganzen Hoffnungen nicht auf wirksame Aktionen, sondern auf zurückhaltendes Betragen setzen, nichts von ihrer eigenen Kraft, sondern alles von der Gnade eines ausländischen Despoten erwarten. Kein Landgut könnte ruhiger von einem Besitzer auf einen anderen übergehen als Mittelitalien vom ausländischen Joch zu einer eigenen Nationalregierung. In der inneren Verwaltung wurde nichts verändert, alle volkstümliche Agitation zum Schweigen gebracht, die Freiheit der Presse erstickt, und vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte Europas schienen die Früchte der Revolution ohne die Prüfungen geerntet zu werden, die eine Revolution mit sich bringt. All das hatte die politische Atmosphäre Italiens so weit abgekühlt, um Louis Bonaparte zu erlauben, mit seinen vorgefaßten Beschlüssen herauszurücken und die Italiener ihrer wütenden Ohnmacht zu überlassen. Angesichts einer französischen Armee in Rom, einer weiteren französischen Armee in der Lombardei, einer österreichischen Armee, die von Tirol herabdroht, einer weiteren österreichischen Armee, die das Festungsviereck besetzt hält, und vor allem dank der erfolgreichen Bemühungen der piemontesischen Führer, die der Volksbegeisterung einen Dämpfer aufsetzten, bleibt gegenwärtig wenig Hoffnung für Italien. Was den Züricher Frieden betrifft, so weisen wir besonders auf zwei Artikel hin, die in der ersten Fassung des Vertrages nicht zu finden sind. Durch einen dieser Artikel wird Sardinien eine Schuld von 250 Millionen frs. auferlegt, die teilweise an Franz Joseph zu zahlen ist und teilweise aus der Verantwortlichkeit herrührt, die Sardinien für drei Fünftel der Verpflichtungen der Lombardo-Venetianischen Bank auferlegt wurde. Mit diesen neuen Schulden von 250 Millionen frs., die zu den Schulden hinzukommen, die während des Krimkrieges und des letzten italienischen Feldzuges gemacht wurden, nebst einer kleinen Rechnung, die Louis Bonaparte einige Tage vorher für seinen bewaffneten Schutz präsentiert hatte, wird <534> sich Sardinien bald auf demselben Stand der finanziellen Prosperität befinden wie sein verhaßter Gegner. Der andere Artikel legt fest,

"daß die Territorialgrenzen der unabhängigen Staaten Italiens, welche am jüngsten Krieg keinen Teil genommen haben, nur mit Einwilligung der anderen Mächte Europas, die zur Bildung dieser Staaten beigetragen und die Bürgschaft für deren Existenz mitübernommen haben, verändert werden können". Zur gleichen Zeit "werden die Rechte der Fürsten von Toskana, Modena und Parma von den hohen vertragschließenden Mächten ausdrücklich reserviert".

So werden die provisorischen italienischen Regierungen, nachdem sie die ihnen zugeteilte Rolle gespielt haben, auf verächtlichste Weise ignoriert; und die Bevölkerung, die sie im gewohnten Zustand der Passivität zu halten verstanden, kann, wenn sie will, an den Türen der Väter des Wiener Vertrages betteln gehen.