Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 525-530.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Wahlkorruption in England

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5783 vom 4. November 1859]

<525> London, 18. Oktober 1859

Die Kommissionen, die gebildet wurden, um den Zustand in den Parlamentswahlbezirken Gloucester und Wakefield zu untersuchen, bestätigen erneut durch ihre täglichen Enthüllungen den Ausspruch des alten Coppock, ehemaliger Wahlagent des Reformklubs, daß die wirkliche Beschaffenheit des britischen Unterhauses in dem Worte Korruption zusammengefaßt werden kann. Die gegenwärtige Untersuchung erhält ein besonderes Interesse durch den Umstand, daß Gloucester ein rotten borough ist, der schon lange besteht, während Wakefield ein Wahlbezirk ist, der durch die Reformbill geschaffen wurde, und daß der Bestecher von Gloucester, Sir Robert Carden, ein fanatischer Tory vom Schlag eines Dogberry ist, dagegen der Bestecher von Wakefield, Herr Leatham, der Schwager von Herrn Bright, ein Radikaler. In beiden Fällen ist die kindliche Unschuld der Parlamentskandidaten etwa Erfrischendes in diesem verruchten Zeitalter des Skeptizismus. Beide Kandidaten beschaffen das Geld zum Kauf von Stimmen, aber beide achten sorgfältig darauf, nicht zu wissen, wohin das Geld geht. Vom Beginn der Wahl an bis zu deren Ende steigen die Rechnungen ihrer Anwälte in geometrischer Progression an, aber in demselben Maße wächst ihr Glaube an die unbefleckte Lauterkeit der Wählerschaft, die im Parlament zu vertreten - wie sie gestehen - das höchste Ziel ihres weltlichen Ehrgeizes ist. Nehmen wir zuerst dieses Vorbild eines Quäkers, den ehrenwerten Herrn Leatham. Er kandidierte 1857 für Wakefield und beschäftigte einen Anwalt namens Wainwright als seinen "juristischen Freund". Dieser Wainwright nimmt in einem Anfall von Offenherzigkeit seinen Freund, den Quäker, beiseite und überrascht den <526> unschuldigen Leatham der sich für l'homme qu'on aime paur lui-même <ein Mann, den man um seiner selbst willen liebt> gehalten hatte und für einen Kandidaten, der pour le roi de Prusse <wörtlich: für den König von Preußen, hier: um seiner schönen Augen willen> gewählt wird, durch die erschütternd scharfsinnige Bemerkung, daß eine Wahl eine Frage von soundsoviel Pfund Sterling sei und daß infolgedessen das "Nötige" gefunden werden müsse. Wainwright sagte, es seien 1.000 Pfd.St. in bar erforderlich. Leatham ruft aus: "Soviel habe ich nicht, aber ich werde es mir borgen", und seinem Worte getreu sandte er an Wainwright 1.000 Pfd.St. durch Overend & Gurney, die Quäker-Bankiers der Lombard Street in London. Kurz danach nimmt Wainwright, der zu vertraulichen pourparlers <Unterhandlungen> zu neigen scheint, Leatham wieder "beiseite", flüstert ihm ins Ohr, daß er festgestellt habe, die Wahl würde kostspieliger werden als zuerst erwartet, und besteht auf abermals 500 Pfd.St. Der unschuldige Leatham "hält das für ziemlich merkwürdig", aber bei näherer Überlegung und sich erinnernd, daß die Wahl von 1852 1.600 Pfd.St. gekostet hat, dehnt er den Kredit auf weitere 500 Pfd.St. aus, aber das Merkwürdigste ist, daß er nicht ganz sicher ist, aus welcher Quelle diese 500 Pfd.St. flossen. Wiederum zwei Wochen später besteht der strenge Wainwright auf einen weiteren Zuschuß von 1.000 Pfd.St., und nun wird Lauterkeits-Leatham ganz melodramatisch.

"Ich war", sagt er, "sehr verärgert darüber und sagte ihm das, und ich sagte ihm auch, daß es eine Reihe von Dingen in seinem Büro gäbe, die mir nicht gefielen. Ich hatte eine große Anzahl seltsamer Leute in seinem Büro bemerkt und hoffte, daß da nichts Unrechtes vor sich ginge. Er sagte: 'Sie müssen das mir überlassen und keine Fragen stellen. Sie müssen mir das Verfügungsrecht über weitere 1.000 Pfd.St. geben, obwohl ich nicht annehme, daß ich sie brauchen werde.' Ich war töricht genug einzuwilligen, und ich glaube, das Geld wurde aus derselben Quelle beschafft wie vorher."

Der geheimnisvolle Fremde, der "das Geld beschaffte", ist Herrn Leathams Teilhaber, der während der angestellten Untersuchungen nicht anwesend war, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, zu dieser ziemlich ungelegenen Jahreszeit eine Reise nach dem Kontinent zu unternehmen.

Während der Quäker Leatham trotz seiner Leichtgläubigkeit Befürchtungen hegt, aber sein Gewissen zu beruhigen sucht, indem er "keine Fragen stellt", fühlte sich andererseits Sir R. Carden, "der Reine, dem alles rein ist", durch seine Gloucester-Wahlexperimente im Jahre 1857 so sehr erbaut, daß er 1859 wieder für denselben Wahlbezirk kandidierte, obgleich <527> diesmal ohne Erfolg. Warum er versuchte, auf den Schultern von Gloucester in St. Stephen's Einzug zu halten, lag allein darin begründet, daß er Gloucester für so lauter hielt, daß es eine Ehre und Auszeichnung sein würde, es im Parlament zu vertreten, "wohingegen Coppock und seine Helfershelfer Gloucester als Käse zu bezeichnen pflegten", weil es "so köstlich verrottet" oder, mit anderen Worten, ein derart stinkender Korruptionssumpf war. Die notwendigen Wahlunkosten, die zuerst auf 500 Pfd.St. festgesetzt waren, schwollen plötzlich auf etwa 6.000 Pfd.St. an, aber ungeachtet dessen und auch des Berichtes des Rechnungsprüfers, der die rechtmäßigen Ausgaben auf 616 Pfd.St. 8 sh. 1 d. taxierte, bleibt Sir Cardens Überzeugung von der Lauterkeit der Vorgänge in Gloucester noch immer unerschüttert.

"Er hatte die Wahl für sauber gehalten bis vor ein oder zwei Tagen, als er aufs tiefste erschüttert von den schrecklichen Enthüllungen erfuhr, die gemacht worden waren. Diese Enthüllungen hatten ihn vollständig überrascht."

Die Wahlphilosophie der Parlamentskandidaten besteht demnach einfach darin, daß sie ihrer linken Hand erlauben, nicht zu wissen, was ihre rechte Hand tut, und so waschen sie beide Hände in Unschuld. Ihre Hosentaschen zu öffnen, keine Fragen zu stellen und an die allgemeine Tugend der Menschheit zu glauben - das dient ihren Absichten am allerbesten.

Was die juristischen Herrschaften, die Advokaten, Agenten und Rechtsanwälte angeht, die im Wahlgeschäft tätig sind, so haben sie natürlich einen rechtmäßigen Anspruch auf ihre Berufshonorare. Es kann von ihnen nicht erwartet werden daß sie umsonst ihre Zeit hingeben und die Sache "managen".

"Warum", rief einer der Parlamentsmitglieder-Macher von Gloucester aus, "sollte ich denen meine Stimme für umsonst geben? Schaut die 24 Rechtsanwälte an, von denen jeder durchweg seine 25 Pfd.St. in bar und täglich fünf Guineen erhält; ich geb' deshalb meine nicht umsonst!"

Und Herr George Buchanan, ein Gentleman, der gemeinsam mit Sir R. Carden um Stimmen warb, sagt:

"In der Tat gab es ein allgemeines Gedränge nach Geld, und mir gefällt es nicht, daß den armen Männern so viele Vorwürfe gemacht werden, die 3 sh. 6 d. für den Tag nahmen, während die Leute vom Fach, die fürs Nichtstun viel Geld in Rechnung stellten, davonkamen."

Nun, was diese Macher von Parlamentsmitgliedern betrifft, so werden einige Beispiele genügen, um sie zu charakterisieren. Herr W. Clutterbuck, <528> ein Anwalt und Stimmenwerber für Sir R. Carden, lacht sich ins Fäustchen, während er erklärt:

"Gloucester ist ein so korrupter Ort wie jeder andere in England."

Er hatte sein Auge auf "die Coopeys" geworfen. Es gibt acht oder neun Coopeys, alle aus einer Familie, die seit undenklichen Zeiten bei allen Wahlen eine prominente Rolle gespielt hat. Sie sind, wie Clutterbuck sagt, "Leute, die man bei guter Laune halten muß"; folglich ging er zu den Coopeys und rauchte eine Pfeife mit den Coopeys und plauderte mit den Coopeys und machte ihnen keine direkten Versprechungen, oh nein, aber er "beeinflußte sie, so und so zu denken". Seinen Spuren folgte Herr John Ward, ein Baumeister, der den Coopeys je 5 Pfd.St. anbot. Zwei von den Coopeys, sagt er, wurden bestochen. Einer von ihnen war tot, aber irgendein anderer stimmte an seiner Stelle.

"Ich", sagt Baumeister Ward, "gab neun von ihnen je 5 Pfd.St. und dem Toten 3 Pfd.St. Der Mann war zu den Wahlen 1857 nicht mehr am Leben, aber er stimmte für Sir R. Carden."

Dann kommt Herr Maysey.

"Ich", sagt er, "habe einen Kramladen und bin Friseur."

Er fand, daß "Bestechung in jedem Ausmaße vor sich ging", und demzufolge kaufte er Wähler für 2 Pfd.St. bis 12 Pfd.St. pro Stück. Der glückliche Sterbliche, der 12 Pfd.St. davontrug, war ein gewisser Evans.

"Der Mann", sagt unser ehrenwerter Friseur, "war mit all den unteren Wählern gut bekannt. Evans war 20 Pfd.St. wert, sowohl als Wähler als auch als Zuträger."

Es scheint, daß Maysey, der heroische Friseur, eine Anzahl Rowdies mit einem gewissen Clements an der Spitze anwies, am Wahltage einen alten Wähler namens Worthen gewaltsam aus dem "Weißen Löwen" fortzuschleppen, aber er (Maysey) sah nicht, daß diesem Löwen "das Feil von seinem Rücken abgerissen wurde".

"Der Mann", sagte er im Laufe der Untersuchung, "war zu alt und blind, um Widerstand zu leisten, und war obendrein betrunken."

In Wakefield wurden höhere Preise gezahlt als in Gloucester, eine Stimme kostete zwischen 5 Pfd.St. und 70 Pfd.St. Gleichzeitig wird hier von gewalttätigeren Methoden der konkurrierenden Parteien berichtet. Ein Herr Smith, dessen Erfahrungen sich auf sehr viele Jahre erstrecken, gab eine Meinung kund, daß Wakefield der korrupteste Wahlbezirk in Europa wäre und daß Geld und Bier hier jede Wahl durchsetzen würden. Im letzten <529> Stadium des Kampfes, der zwischen Quäker Leatham, dem Radikalen, und Herrn Charlesworth, dem Konservativen, ausgetragen wurde, "war es in der ganzen Stadt bekannt, daß im Büro von Wainwright", dem Vertreter des unbefleckten Quäkers, "sehr viel Geld zu holen wäre". Der einzige nennenswerte Faktor, der die Konservativen von den Liberalen unterschied, war der, daß letztere gelegentlich nicht davor zurückschreckten, "Blüten" auszugeben, während die ersteren mit echtem Geld bezahlten. Etwa ein halbes Dutzend Wakefielder Wähler bildeten einen Klub in der Absicht, den Wahlausgang zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Ein Barbier namens T. F. Tower stimmte für Herrn Leatham, weil einer von dessen Stimmenwerbern ihm 40 Pfd.St. für eine Haarbürste gab. John Wilcox, ein besonders gewissenhafter Bursche, ging überhaupt nicht zur Wahl, weil er 25 Pfd.St. bekommen hatte, um Leatham zu wählen, und 30 Pfd.St., um Leathams Rivalen zu wählen. Dies glich er aus, "indem er überhaupt wegblieb". Ein gewisser Benjamin Ingham, der für Leatham stimmte, konnte nicht sagen, wieviel Geld er erhalten hatte, da er "damals völlig betrunken war". Die Tories lockten James Clark, einen Wahrsager und Astrologen, in ein Gasthaus, wo sie ihn betrunken machten und "ihn einige Tage in einem Zimmer des Hotels festhielten, mit einer Menge zu essen und zu trinken". Trotzdem versuchte er zu entkommen und stimmte schließlich für Leatham, "teils aus dem Verlangen, den Blauen eins auszuwischen, weil sie ihn eingeschlossen hatten, und teils, um 50 Pfd.St zu bekommen". Da war außerdem noch ein gewisser William Dickson, von Beruf Klempner, der am Morgen in Herrn Teals Bleichfabriken arbeitete.

"Als er in einen oberen Raum ging, um noch einige Rohre zu holen, damit er den Auftrag fertigstellen konnte, wurde die Tür plötzlich von außen zugeschlagen, verschlossen und vernagelt. Es waren drei Mann und ein Knabe im Raum, um ihn zur Ruhe zu bringen, und sie hatten einen Strick, um ihn zu binden, falls es notwendig wäre."

Alles in allem, wenn die Liberalen sich durch ihre "Blüten" auszeichneten, so war bei den Konservativen bemerkenswert, daß sie zur Gewalttätigkeit ihre Zuflucht nahmen.

Angesichts dieser widerlichen Enthüllungen über das englische Wahlsystem hielt es der alte Lord Brougham für passend, in Bradford eine lange Rede zu halten, worin er gestand, daß das Verbrechen der Bestechung immer mehr anwächst, daß es vor 1832 verhältnismäßig selten war, aber seit der Reformbill jenes Jahres, die bezweckte, es zu verringern, rasch zugenommen hat. Und welches ist das seltsame Heilmittel, das Lord <530> Brougham empfiehlt? Den arbeitenden Klassen das Wahlrecht vorzuenthalten, bis sich die untere Mittelklasse, die bestochen wird, und die höheren Klassen, die sie bestechen, gebessert haben werden. Allein die Schwächung des Verstandes durch hohes Alter kann ein solches Paradoxon erklärlich machen.