Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 444-446.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Invasion!


["Das Volk" Nr. 13 vom 30. Juli 1859]

<444> Von allen Dogmen der bigotten Politik unserer Tage hat keine mehr Unheil angerichtet, als die, daß "um Frieden zu haben, man sich zum Kriege rüsten muß". Diese große Wahrheit, die sich hauptsächlich dadurch auszeichnet, daß sie eine große Lüge enthält, ist der Schlachtruf, welcher ganz Europa zu den Waffen gerufen und einen solchen Landsknechtsfanatismus erzeugt hat, daß jeder neue Friedensschluß als neue Kriegserklärung betrachtet und gierig ausgebeutet wird. Während so die Staaten Europas ebensoviele Heerlager geworden sind, deren Söldner vor Begierde brennen, aufeinander loszustürzen und sich zu Ehren des Friedens gegenseitig die Gurgeln abzuschneiden, handelt es sich vor jedem neuen Ausbruche nur um die unbedeutende Kleinigkeit, zu wissen, auf welche Seite man sich stellen soll. Sobald diese nebensächliche Erwägung von den diplomatischen Parlementairs <Unterhändlern> mit Hülfe des bewährten: "si vis pacem, para bellum <"willst du Frieden, rüste zum Krieg"> befriedigend erledigt ist, beginnt einer jener Zivilisationskriege, deren frivole Barbarei der besten Zeit des Raubrittertums, deren raffinierte Perfidie jedoch ausschließlich der modernsten Periode des imperialistischen Bürgertums angehört.

Unter solchen Umständen dürfen wir uns nicht wundern, wenn die allgemeine Disposition zur Barbarei eine gewisse Methode annimmt, die Unsittlichkeit zum System wird, die Gesetzlosigkeit ihre Gesetzgeber und das Faustrecht seine Gesetzbücher erhält. Wenn man daher so oft auf die "idées napoléoniennes" zurückkommt, so geschieht dieses, weil diese unsinnigen Phantasien des Gefangenen von Ham der Pentateuch der modernen Gaunerreligion und die Offenbarung des kaiserlichen Kriegs- und Börsenschwindel geworden sind.

<445> L[ouis]-Napoleon erklärte in Ham:

"Selten gelingt ein großes Unternehmen auf den ersten Schlag."

Von dieser Wahrheit überzeugt, versteht er die Kunst, sich zu gelegener Zeit zurückzuziehen, um bald darauf einen neuen Anlauf zu nehmen, und dieses Manoeuvre so lange zu wiederholen, bis sein Gegner sorglos, die ausgeteilten mots d'ordre <Losungen> trivial, lächerlich und hierdurch eben gefährlich geworden sind. Diese Kunst, zu temporisieren, um die öffentliche Meinung zu täuschen, zu retirieren, um desto ungehinderter zu avancieren, mit einem Worte, das Geheimnis des: ordre, contre-ordre, désordre <Befehl, Gegenbefehl, Verwirrung> war sein mächtigster Bundesgenosse beim Staatsstreich.

Mit Bezug auf die napoleonische Idee der Invasion Englands scheint er dieselbe Taktik befolgen zu wollen. Dieses Wort, so oft desavouiert, so oft lächerlich gemacht, so oft durch Compiègneschen Champagner hinuntergeschwemmt, wird trotz aller scheinbaren Niederlagen, die es erlitten, immer wieder und wieder auf die Tagesordnung des europäischen Klatsches gesetzt. Niemand weiß, wo es plötzlich herkommt, aber jeder fühlt, daß die bloße Existenz desselben eine noch unbesiegte Macht ist. Ernste Männer, wie der 84jährige Lord Lyndhurst und der gewiß nicht mutlose Ellenborough, schrecken vor der geheimnisvollen Gewalt dieses Wortes zurück. Wenn eine bloße Phrase imstande ist, einen so mächtigen Eindruck auf Regierung, Parlament und Volk zu machen, so beweist dies nur, wie man instinktmäßig fühlt und weiß, daß eine Armee von 400.000 Mann hinter derselben hermarschiert, mit der man auf Tod und Leben kämpfen muß, oder man wird das unheimliche Wort nicht los.

Der "Moniteur"-Artikel, welcher durch eine Vergleichung des englischen Flottenbudgets mit dem französischen England als den verantwortlichen Urheber der kostspieligen Rüstungen darstellt, der gereizte Ton des von allerhöchster Hand herrührenden Einganges und Schlusses zu diesem Aktenstücke, der offiziöse Kommentar der "Patrie", welcher geradezu eine ungeduldige Drohung enthält, der unmittelbar darauf folgende Befehl, die französischen Streitkräfte auf den Friedensfuß zu setzen, - alles das sind so charakteristische Momente der bonapartistischen Taktik, daß man wohl die ernsteste Aufmerksamkeit begreifen kann, welche die englische Presse und öffentliche Meinung der Invasionsfrage widmet. Wenn Frankreich "nicht waffnet", wie uns Herr Walewski im Bewußtsein seiner verkannten Unschuld emphatisch vor dem Ausbruche des italienischen <446> Krieges erklärte, so entsteht daraus eine dreimonatliche Freiheitskampagne; wenn es aber nun gar die nicht gewaffnete Armee entwaffnet, so dürfen wir uns auf einen außerordentlichen Coup gefaßt machen.

Ohne Zweifel könnte Herr Bonaparte seine Pratorianerhorden zu keinem Unternehmen führen, das in Frankreich und auf einem großen Teile des europäischen Kontinents populärer wäre, als eine Invasion Englands. Als Blücher bei seinem Besuche in England durch die Straßen Londons ritt, rief er in der unwillkürlichen Freude seines Soldatenhewußtseins aus: Mein Gott, welch' eine Stadt zum Plündern! - ein Ausruf, dessen verführerische Gewalt die kaiserlichen Prätorianer zu würdigen wissen werden. Aber die Invasion würde auch populär bei der herrschenden Bourgeoisie sein, und zwar gerade aus den Gründen, welche die "Times" für Aufrechterhaltung der entente cordiale angibt, indem sie sagt:

"Wir freuen uns, Frankreich mächtig zu sehen. So lange wir als Beschützer der Ordnung und Freund der Zivilisation zusammenwirken, ist seine Kraft unsere Kraft und seine Prosperität unsere Stärke."

Mit einer Flotte von 449 Schiffen, von denen 265 Kriegsdampfer sind, mit einer Armee von 400.000 Mann, die in Italien Blut und Gloire gekostet hat, mit dem Testament von St. Helena in der Tasche und dem unausbleiblichen Ruine vor den Augen, ist Herr Bonaparte gerade der Mann, sein alles auf die Invasion zu setzen. Er muß va banque spielen; ob früher oder später, aber spielen muß er.