Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 414-416.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Die Erfurterei im Jahre 1859


["Das Volk" Nr. 10 vom 9. Juli 1859]

<414> Die Reaktion exekutiert das Programm der Revolution. In diesem scheinbaren Widerspruche beruht die Stärke des Napoleonismus, der sich noch heute als Mandatar der Revolution von 1789 betrachtet, der Erfolg der Schwarzenbergschen Politik in Österreich, welche den unklaren Einheitsdusel von 1848 in einer klaren, positiven Konzentration zusammenfaßte, und der Spuk der parlamentarischen Bundesreform, der jetzt mit der preußischen Initiative in Kleindeutschland umgebt und auf den Gräbern der 48ger Revolution mit den Bürgern Jacobus Venedey und Zais einen burlesken Gespenstertanz aufführt. Freilich wird dieses Programm der Revolution in den Händen der Reaktion zur Satire auf die bezüglichen revolutionären Bestrebungen und somit zur tödlichsten Waffe in den Händen eines unversöhnlichen Feindes. Die Reaktion erfüllt eben die Forderungen der Revolution, wie Louis Bonaparte diejenigen der italienischen Nationalpartei erfüllt. Das Tragikomische bei diesem Prozesse ist, daß die armen Sünder, welche da an ihren eigenen Phrasen und Dummheiten aufgehängt werden sollen, aus Leibeskräften Bravo! schreien, während ihnen vom Exekutor der Strick um den Hals gelegt wird, und ihrer eigenen Hinrichtung rasenden Beifall klatschen.

So wie im Jahre 1848 die bekannten Märzforderungen, die von der damals "revolutionär" genannten Partei formuliert und vermittelst sehr geschickter Organisation vertrieben wurden, ihre Runde machten von Landtag zu Landtag, von Krawall zu Krawall, so feiert jetzt eine "Erklärung" in Mittel- und Süddeutschland ihren Triumphzug, welche das regentschaftliche mot d'ordre <Losungswort> für die zum Behufe der bewaffneten Vermittelung gewünschte "Volksbewegung" zu sein scheint. Dieses Regentschafts- <415> proramm, welches den sehr charakteristischen Namen der "nassauischen Erklärung" führt, da es von den nassauischen Vätern des Vaterlandes unter Vortritt unseres alten Freundes Herrn Zais zuerst adoptiert wurde, proklamiert:

"Österreich dürfe im gegenwärtigen Kriege nicht allein gelassen werden, da derselbe eventuell deutsche Interessen bedrohe. Dagegen sei es die Pflicht Deutschlands" (Beruf - würde sich Herr v. Schleinitz ausdrücken), "von Österreich Reformen, namentlich auch die Gewährung eines den begründeten Forderungen der Zeit entsprechenden Zustandes in Italien zu verlangen. Die militärische und politische Leitung im bevorstehenden Kampfe müsse Preußen übertragen werden. Mit dieser Führung sei aber dem dauernden Bedürfnis einer kräftigen Bundesregierung noch nicht (!) entsprochen, eine Neugestaltung der deutschen Zentralgewalt auf der einen sowie die Herstellung einer Verfassung auf der andern Seite, welche in einer deutschen Volksvertretung ihren Abschluß" (Spitze - pflegte sich Herr von Gagern auszudrücken) "finde, könne dem deutschen Volke nicht vorenthalten bleiben."

Diese nassauische Erklärung, auch "Kundgebung" genannt, ist bereits von den konstitutionellen und demokratischen Notabeln Darmstadts, Frankfurts, Württembergs - hier von Reyscher, Schott, Vischer, Duvernoy, Ziegler usw. in harmonischer Konfusion gezeichnet - angenommen worden und wird von der "liberalen" Presse des südwestlichen Deutschlands, Frankens und Thüringens als das wundertätige Evangelium gepredigt, welches Deutschland retten, das welsche Kaiserreich mit Stumpf und Stiel ausrotten, Herrn Venedey seine Diäten zurückgeben und dem Bürger Zais seine politische Bedeutung begründen soll.

Also das ist des Pudels Kern: Durch einen so kleinlichen Trick, der auf die vollständige Versimpelung kindisch gewordener Reichsspießbürger spekuliert, denkt der preußische Beruf dem Bundestage die so ritterlich erkämpften und teuer bezahlten Lorbeeren von Bronzell hinweg zu eskamotieren! Wir müssen gestehen, daß wir vor einem Berufe, der die Herren der Eschenheimer Gasse, anstatt sie offen zu maulschellieren, wie man gern möchte und nicht zu tun wagt, dadurch insultiert, daß er ihnen aus sicherer Ferne die Herren Schott, Zais und Reyscher an den Kopf wirft, sehr wenig Respekt haben. Wenn die Berliner Staatsweisheit kein anderes Mittel kennt, um "Deutschland zu retten", als den secondhand-Ankauf <Ankauf aus zweiter Hand> der Hinterlassenschaft des seligen Herrn v. Radowitz und seiner unseligen Gothaer, dann mag sie immerhin Frieden machen auf jede Bedingung hin und sich der französisch-russischen Diktatur wider- <416> standslos unterwerfen, denn sie hat keinen Begriff von dem Ernste des Kampfes, der durch die italienische Freiheitskampagne eingeleitet worden ist.

Daß es aber immer noch patriotische Notabilitäten gibt, die in einer "nassauischen Erklärung" einen genügenden Ausdruck ihrer Armseligkeit finden und der bequemen Überzeugung leben, durch einen schwachen Abklatsch der 48ger Reichsparlamenterei eine Volksbewegung hervorrufen zu können, die stark genug sei, um den Kampf mit dem vereinigten Despotismus von Rußland und Frankreich aufzunehmen, beweist nur, wie sehr H. Heine recht hat, wenn er sagt, daß "die wahre Verrücktheit so selten sei, wie die wahre Weisheit". Denn die Verrücktheit der nassauischen Erklärer ist durch und durch unwahr, verlogen und feige, eine Harlekinsmaske, die diese Herren vorbinden, um sich den Anschein unzurechnungsfähiger Tollhäusler zu geben, weil sie sich selbst ihrer kläglichen Rat- und Tatlosigkeit schämen und der Verantwortlichkeit dadurch zu entgehen glauben, daß sie als Lumpen an das öffentliche Mitleid appellieren.

"Neugestaltete Zentralgewalt" mit Volksvertretung - eine herrliche Waffe gegen den wahnsinnig gewordenen Bonapartismus und gegen das zur Verzweiflung getriebene Zarentum, das auf deutschem Boden um seine im eignen Innern bedrohte Existenz kämpfen muß! Ich dächte, wir hätten 1848 und 1849 genug von beidem gehabt, um zur Einsicht gelangt zu sein, daß jede Volksbewegung tot ist, welche ihre revolutionäre Kraft an eine konstituierende Volksvertretung verliert.