Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 405-409.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Friedrich Engels

Historische Gerechtigkeit

Geschrieben um den 6. Juli 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5692 vom 21. Juli 1859, Leitartikel]

<405> Nachdem wir jeden bei uns eingegangenen offiziellen Bericht über die Schlacht von Solferino veröffentlicht haben, darunter viele Briefe aus den beiden Hauptquartieren, einschließlich der ausgezeichneten Sonderkorrespondenz der Londoner "Times", und unsere Leser mit diesen Dokumenten bekannt gemacht haben, ist es wohl an der Zeit, die wirklichen Ursachen klarzulegen, weshalb die Schlacht von Franz Joseph verloren und von Napoleon III. gewonnen wurde.

Als der österreichische Kaiser den Mincio wieder überschritt, um anzugreifen, hatte er neun Armeekorps zu seiner Verfügung, die nach Abzug der Festungsbesatzungen mit einer Durchschnittsstärke von je vier Infanteriebrigaden oder insgesamt sechsunddreißig Brigaden - jede Brigade mit durchschnittlich 5.000 bis 6.000 Mann - auf dem Schlachtfeld erschienen. Seine Kräfte für den Angriff zählten also ungefähr 200.000 Mann Infanterie. Diese Stärke, obwohl völlig ausreichend, die Truppenbewegung zu rechtfertigen, war der des Feindes doch unterlegen oder nur annähernd gleich, denn dieser zählte zehn piemontesische und sechsundzwanzig französische Infanteriebrigaden. Seit Magenta haben die Franzosen große Verstärkungen durch Beurlaubte und ausgebildete Rekruten erhalten, die in ihre Regimenter eingereiht wurden. Ihre Brigaden waren sicherlich stärker als die der Österreicher, deren Verstärkungen aus zwei frischen Armeekorps (das zehnte und elfte) bestanden, wodurch zwar die Anzahl, aber nicht die Stärke der Brigaden erhöht worden war. Die Infanterie der alliierten Armee kann, ausgehend vom vollen Bestand (170.000 Franzosen, 75.000 Sardinier), abzüglich der Verluste von ca. 30.000 Mann seit dem Beginn des Feldzuges, zu diesem Zeitpunkt auf ungefähr 215.000 Mann geschätzt <406> werden. Bei ihrem Angriff bauten die Österreicher auf die Schnelligkeit des Manövers und das Überraschungsmoment, auf das brennende Verlangen ihrer Truppen, die Niederlage von Magenta zu rächen und zu beweisen, daß sie ihren Gegnern nicht nachstehen, sowie auf die Stärke der Positionen, die sie durch einen schnellen Vormarsch auf die Höhen hinter Castiglione wieder in ihren Besitz bringen könnten. Dies war gewiß gerechtfertigt, jedoch nur dann, wenn sie ihre Truppen so eng wie möglich zusammenhielten und schnell und energisch vormarschierten. Keine dieser Bedingungen wurde erfüllt.

Anstatt mit ihrer gesamten Streitkraft zwischen Peschiera und Volta vorzugehen, um den ganzen Höhenzug bis nach Lonato und Castiglione zu sichern, und den Schutz der Ebene von Guidizzolo der Kavallerie und vielleicht einem Infanteriekorps zu überlassen, ließen sie ein Korps, das zweite, in Mantua, um dieses vor einem etwaigen Überfall durch das Korps des Prinzen Napoleon zu beschützen, das man in der Nähe vermutete. Wenn jedoch die Besatzung von Mantua nicht ausreichte, um die stärkste Festung Europas ohne die Hilfe eines zusätzlichen Korps gegen einen irregulären Angriff zu halten, muß es wirklich eine sehr merkwürdige Art von Besatzung gewesen sein. Aber das war anscheinend nicht der Grund, der das zweite Korps an Mantua fesselte. Tatsächlich sind zwei andere Korps, das elfte und das zehnte, detachiert worden, um die rechte Flanke der Alliierten bei Asola zu umgehen, einer Stadt am Chiese, etwa 6 Meilen südwestlich von Castelgoffredo und so weit vom Schlachtfeld entfernt, daß sie es unter allen Umständen zu spät erreichen mußten. Das zweite Korps, so scheint es, war dazu bestimmt, die Flanken und den Rücken dieser Umgehungskolonne gegen das mögliche Eintreffen des Prinzen Napoleon zu decken und so zu verhindern, daß sie selbst umgangen wird. Der ganze Plan ist so durch und durch alte österreichische Schule, so kompliziert, so lächerlich für jeden, der es gewöhnt ist, Schlachtenpläne zu entwerfen, daß der österreichische Stab gewiß von aller Verantwortlichkeit für diese Erfindung freigesprochen werden muß. Niemand anders als Franz Joseph und sein Adjutant Graf Grünne konnten sich einen solchen Anachronismus ausdenken. So wurden erfolgreich drei Korps vom Kampf ferngehalten. Die verbleibenden sechs wurden wie folgt eingesetzt: Das achte (Benedek) zwischen Pozzolengo und dem Gardasee, um eine Hügelposition zu halten, deren Zentrum und Schlüssel San Martino war; das fünfte (Stadion) besetzte Solferino; das siebente (Zobel) San Cassiano; das erste (Clam-Gallas) Cavriana. Im Süden, in der Ebene, marschierte das dritte (Schwarzenberg) auf der Hauptstraße von Goito nach Castiglione über Guidizzolo vor und <407> das neunte (Schaffgotsch) weiter südlich gegen Medole. Dieser Flügel wurde nach vorn geworfen, um die alliierte Rechte zurückzudrängen und dem zehnten und elften Korps eine Unterstützung zu bieten, wann immer und falls sie je ankommen sollten.

Auf diese Weise wurden die sechs Korps, die tatsächlich engagiert waren und die im wesentlichen die österreichische Kampfarmee bildeten, auf einer 12 Meilen langen Linie auseinandergezogen, was für jedes Korps im Durchschnitt 2 Meilen oder 3.540 Yard Frontausdehnung ergab. Bei einer so langen Linie konnte es keine Tiefe geben. Doch das war nicht der einzige ernste Fehler. Das dritte und neunte Korps rückten von Goito aus vor, wo auch ihre Rückzugslinie lag; die angrenzenden Korps, das erste und siebente, hatten ihre Rückzugslinie in Valeggio. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß das einen exzentrischen Rückzug ergibt; diesem Umstand ist zweifellos im wesentlichen die geringe Wirkung zuzuschreiben, die von den zwei Korps in der Ebene erzielt wurde.

Diese fehlerhafte Disposition, getroffen für die vierundzwanzig oder, wenn wir annehmen, daß Benedek durch einige Truppen aus der Besatzung von Peschiera verstärkt worden war, fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig österreichischen Brigaden, wurde noch fehlerhafter durch die Trägheit des Vormarsches. Ein Eilmarsch am 23., als der Mincio wieder überschritten wurde, hätte die konzentrierte österreichische Armee mittags an die vorgeschobenen Stellungen der Alliierten bei Desenzano, Lonato und Castiglione herangebracht und sie befähigt, die Alliierten bis Einbruch der Nacht zum Chiese zurückzutreiben und so die Schlacht gleich mit einem Erfolg der Österreicher zu beginnen; doch der vorgeschobenste Punkt, der auf den Hügeln erreicht wurde, war Solferino, nur 6 Meilen vom Mincio entfernt. In der Ebene kamen die vorrückenden Truppen bis nach Castelgoffredo, 10 Meilen vom Mincio; sie hätten jedoch bei entsprechendem Befehl bis zum Chiese kommen können. Dann sollte der Vormarsch am 24., statt bei Tagesanbruch, um 9 Uhr beginnen! So kam es, daß die Alliierten, die um 2 Uhr morgens aufbrachen, zwischen 5 und 6 Uhr über die Österreicher herfielen. Die Folgen waren unvermeidlich. Dreiunddreißig starke Brigaden gegen fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig schwache (sie waren alle vor her im Kampf gewesen und hatten starke Verluste erlitten), das konnte nur eine Niederlage für die Österreicher ergeben. Allein Benedek, mit seinen fünf oder sechs Brigaden, hielt sich den ganzen Tag gegen die piemontesische Armee, deren zehn Brigaden, mit Ausnahme der Garde, alle engagiert waren; und er hätte seine Stellung gehalten, wenn ihn nicht der allgemeine Rückzug des Zentrums und des linken Flügels gezwungen hätte, auch <408> zurückzufallen. Im Zentrum hielten das fünfte und das erste Korps (8 Brigaden) Solferino gegen das Korps von Baraguay d'Hilliers (6 Brigaden) und die Garde (4 Brigaden) bis nach 2 Uhr, während das siebente Korps (4 Brigaden) die vier Brigaden Mac-Mahons in Schach hielt. Nachdem Solferino schließlich genommen worden war, rückte die Garde gegen San Cassiano vor und zwang dadurch das österreichische siebente Korps, seine Stellung aufzugeben. Der Fall von Cavriana, ungefähr um 5 Uhr nachmittags, entschied dann das Schicksal der Schlacht im Zentrum und zwang die Österreicher zum Rückzug. Auf der österreichischen Linken führten das dritte und neunte Korps einen planlosen Kampf gegen das Korps von Niel und eine Division (Renault) von Canrobert, bis dann am Nachmittag eine andere Division (Trochu) des letzteren Korps in die Kampflinie rückte und die Österreicher nach Goito zurücktrieb. Obwohl diese acht österreichischen Brigaden von Anfang an einer beinahe gleich starken Streitkraft gegenüberstanden, hätten sie viel mehr tun können als sie wirklich taten. Durch einen resoluten Vormarsch von Guidizzolo gegen Castiglione hätten sie das siebente Korps bei San Cassiano entlasten und so indirekt die Verteidiger von Solferino unterstützen können; da aber ihre Rückzugslinie nach Goito verlief, stellte sie jeder Schritt nach vorn bloß, und so handelten sie mit einer Vorsicht, die in einer solchen Schlacht völlig fehl am Platze war; die Schuld liegt jedoch bei denjenigen, die den Rückzug nach Goito befohlen haben.

Die Alliierten hatten jeden Mann im Kampf, ausgenommen drei Brigaden, zwei von Canroberts Korps und eine der piemontesischen Garde. Wenn jedoch der Einsatz ihrer ganzen Reserven mit Ausnahme dieser drei Brigaden nötig war, um einen schwer erkämpften Sieg zu erringen, nach dem es keine Verfolgung gab, wie hätte sich die Schlacht entwickelt, wenn Franz Joseph in der Lage gewesen wäre, noch seine drei Armeekorps einzusetzen, die weit entfernt im Süden herumirrten? Angenommen, er hätte Benedek ein Korps gegeben, ein anderes hinter Solferino und San Cassiano als Reserve gestellt und eines hinter Cavriana als allgemeine Reserve behalten, was wäre dann das Ergebnis der Schlacht gewesen? Das kann nicht einen Augenblick zweifelhaft sein. Nach wiederholten und vergeblichen Anstrengungen, San Martino und Solferino zu nehmen, wäre das piemontesische und französische Zentrum durch einen endgültigen und schlagkräftigen Vormarsch der ganzen österreichischen Linie gebrochen worden, und die Österreicher, anstatt sich zum Mincio zurückzuziehen, hätten den Tag an den Ufern des Chiese beendet. Sie wurden nicht von den Franzosen geschlagen, sondern von dem anmaßenden Schwachsinn ihres eigenen <409> Kaisers. Überwältigt durch die zahlenmäßige Überlegenheit des Gegners und die Erbärmlichkeit ihrer eigenen Führung, zogen sie sich doch ungebrochen zurück, gaben nichts auf als das Schlachtfeld und zeigten sich einer Panik weniger fähig, als das bisher bei allen anderen Armeen der Fall war.