Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 394-397.
1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998
["Das Volk" Nr. 8 vom 25. Juni 1859]
<394> Die Früchte eines Sieges werden gepflückt in der Verfolgung des Feindes. Je aktiver die Verfolgung, desto entscheidender der Sieg. Gefangene, Artillerie, Bagage, Fahnen erobert man nicht so sehr in der Schlacht selbst als in der Verfolgung nach der Schlacht. Andrerseits mißt sich die Intensivität eines Siegs an der Energie der Verfolgung. Von diesem Standpunkte aus, was sagen von der "grande victoire" <dem "großen Sieg"> bei Magenta? Den Tag nachher finden wir die französischen Befreier "ausruhend und reorganisierend". Nicht der leiseste Versuch zur Verfolgung. Durch den Marsch nach Magenta hatte die alliierte Armee tatsächlich alle ihre Streitkräfte konzentriert. Die Österreicher, umgekehrt, hatten einen Teil ihrer Truppen bei Abbiategrasso, einen Teil auf der Straße nach Mailand, einen andern Teil bei Binasco, endlich einen Teil bei Belgiojoso - ein Haufen von Kolonnen, so zerstreut, in so zusammenhangloser Weise sich fortschleppend, als gälte es eine Einladung an den Feind, über sie herzufallen, durch eine Anstrengung sie nach allen Richtungen zu versprengen, und ihn dann in aller Ruhe ganze Brigaden und Regimenter, die von ihrer Rückzugslinie abgeschnitten worden wären, gefangennehmen zu lassen. Napoleon, der echte Napoleon, würde in solchem Fall gewußt haben, wie die 15 oder 16 Brigaden zu verwenden, die, laut des offiziellen französischen Berichts, den Tag zuvor keinen Anteil an der Schlacht genommen. Was tat der Brummagem-Napoleon <nachgemachte Napoleon>, der Napoleon des Herrn Vogt, des Cirque olympique, der St. James Street und des Astley-Amphitheaters? Er dinierte auf dem Schlachtfeld.
Die direkte Straße nach Mailand stand ihm offen. Der Bühneneffekt war gesichert. Das genügte ihm natürlich. Der 5., 6. und 7. Juni, drei volle Tage, werden den Österreichern geschenkt, damit sie sich aus ihren gefährlichen Positionen herauswinden. Sie marschierten nach dem Po herunter und zogen sich entlang des nördlichen Ufers dieses Flusses auf Cremona zu, auf drei <395> Parallelstraßen vorrückend. Auf dem nördlichsten Punkt dieser Straßen deckte General Benedek mit drei Divisionen den Rückzug, da er der Marschlinie des Feindes sich zunächst bewegte. Von Abbiategrasso, wo er am 6. stand, marschierte er über Binasco nach Melegnano. In letzterer Stadt ließ er zwei Brigaden zurück zur Haltung der Position, bis Bagage und Train der Zentralkolonne hinreichenden Vorsprung gewonnen. Am 8. Juni erhielt Marschall Baraguay d'Hilliers den Befehl, diese zwei Brigaden herauszuwerfen, und um ganz sicher zu gehen, wird noch das Korps Mac-Mahons unter sein Kommando gestellt. Zehn Brigaden gegen zwei! Nahe beim Lambro ward Mac-Mahons Korps detachiert, um den Rückzug der Österreicher abzuschneiden, während Baraguays 3 Divisionen Melegnano angriffen; zwei Brigaden griffen die Stadt in der Fronte an, zwei umgingen sie auf der Rechten, zwei auf der Linken. Nur eine österreichische Brigade, die Rodens, stand in Melegnano und General Boérs Brigade stand auf der andern, der östlichen Seite des Lambro-Flusses. Die Franzosen attackierten mit großer Heftigkeit, und ihre sechsfach überlegene Zahl zwang General Roden, nach hartnäckigem Widerstand die Stadt zu räumen und sich zurückzuziehen unter dem Schutz von Boérs Brigade. Letztere hatte nämlich zu diesem Zweck eine Position im Rücken eingenommen. Nachdem sie ihren Zweck erreicht, zog sie sich ebenfalls in voller Ordnung zurück. Boér fiel bei dieser Gelegenheit. Der Verlust der einen hauptsächlich engagierten österreichischen Brigade war unstreitig bedeutend, aber die von den dezembrisierenden Crapauds <Kröten> angegebenen Zahlen (ungefähr 2.400) sind rein phantastisch, da die Gesamtstärke der Brigade vor der Aktion sich nicht über 5.000 belief. Der französische Sieg war wieder fruchtlos, Keine Trophäen, keine einzige Kanone!
Am 6. war unterdessen Pavia geräumt von den Österreichern, dann, aus unbekannten Gründen, wieder besetzt worden am 8., um wieder geräumt zu werden am 9., während Piacenza am 10., erst sechs Tage nach der Schlacht bei Magenta, verlassen wurde. Die Österreicher retirierten in bequemen Märschen, den Po verfolgend, bis sie am Chiese anlangten. Hier wandten sie sich nordwärts und marschierten nach Lonato, Castiglione und Castelgoffredo, wo sie eine Defensivposition einnahmen, in der sie einen neuen Angriff der "Befreier" abzuwarten scheinen.
Während dieses Marsches der Österreicher, erst südwärts von Magenta nach Belgiojoso, dann östlich nach Piadena zu und dann wieder nördlich nach Castiglione - Beschreibung eines völligen Halbzirkels -, marschierten die <396> Befreier auf dem Durchmesser dieses Halbzirkels in grader Linie und hatten folglich nur ein Dritteil der Entfernung zu durchmessen. Dennoch erreichten sie nie die Österreicher, außer bei Melegnano und einmal nahe bei Castenedolo, wo Garibaldi ein unbedeutendes Scharmützel lieferte. Solche Indolenz in der Verfolgung ist unerhört in der Kriegsgeschichte. Sie ist charakteristisch für den Quasimodo, der seinen Onkel (sein Onkel nach dem Grundsatz des Code Napoleon: "La recherche de la paternité est interdite" <"Die Nachforschung nach der Vaterschaft ist untersagt">) travestiert, selbst in seinen Erfolgen travestiert.
Zur selben Zeit, wo die Hauptmasse der Österreicher in ihre Positionen hinter dem Chiese einrückte, zwischen dem 18. und 20. Juni, erreichte die Avantgarde der Alliierten die Front des Chiese. Sie brauchen einen oder mehrere Tage, um ihre Hauptmasse heranzubringen. Nehmen daher die Österreicher wirklich die Schlacht an, so kann ein zweites allgemeines Engagement am 24. oder 26. Juni erwartet werden. Die Befreier können nicht lange im Angesicht der Österreicher zaudern, wenn sie den Elan des Sieges unter ihren Truppen wachhalten und dem Feinde nicht Gelegenheit gehen wollen, sie in kleineren Treffen zu schlagen. Die Position der Österreicher ist sehr günstig. Von der südlichen Extremität des Gardasees, bei Lonato, läuft ein Plateau gegen den Mincio, dessen Umriß, nach der lombardischen Ebene zu, gebildet wird durch die Linie Lonato-Castiglione-San Cassiano-Cavriana-Volta, eine vorzügliche Position dies, um einen Feind abzuwarten. Das Plateau erhebt sich allmählich nach dem See zu und bietet verschiedene gute Positionen in einer Reihenfolge, worin jede nachfolgende ihre Vorgängerin an Stärke und Konzentration übertrifft, so daß die Eroberung der Spitze des Plateaus keinen Sieg liefert, sondern nur den ersten Akt einer Schlacht abschließt. Der rechte Flügel ist gedeckt durch den See, der linke ist bedeutend rückwärts eingebogen, so daß er beinahe zehn Meilen der Minciolinie unbeschützt läßt. Statt im Nachteil zu sein, bildet dies die günstigste Seite der Position, weil am Mincio der Marschboden beginnt, der zwischen den vier Festungen Verona, Peschiera, Mantua und Legnago eingeschlossen ist und worin ein Feind ohne außerordentliche numerische Überlegenheit sich nicht hineinwagen kann. Da die Linie des Mincio an ihrem südlichen Ende durch Mantua kommandiert wird und der Boden jenseits des Mincio den Wirkungskreisen von Mantua und Verona angehört, würde jeder Versuch, die Österreicher auf dem Plateau unberücksichtigt zu lassen und an ihnen vorbei auf den Mincio loszumarschieren, rasch zum Stillstand gezwungen werden. Die vorrückende Armee würde ihre Kommunikationslinien vernichtet sehen, ohne <397> die der Österreicher gefährden zu können. Zudem würde sie jenseits des Mincio (da von Belagerung unter diesen Umständen nicht die Rede sein könnte) nichts zu attackieren finden und aus Mangel eines Objekts des Angriffs wieder umkehren müssen. Die eigentliche Gefahr einer solchen Bewegung wäre jedoch, daß sie unter den Augen der Österreicher auf dem Plateau zu bewerkstelligen ist. Letztere hätten nur ihre ganze Linie in Bewegung zu setzen und über die Kolonne des Feindes herzufallen, von Volta auf Goito, von Cavriana auf Cuidizzolo und Ceresara, von Castiglione auf Castelgoffredo und Montechiaro. Eine solche Schlacht würde von den Befreiern unter furchtbarer Ungunst der Verhältnisse gekämpft werden und könnte enden in ein zweites Austerlitz, nur mit verkehrten Rollen.
Magenta-Gyulay ist abgesetzt An seine Stelle tritt als Kommandant der zweiten Armee Schlick, während Wimpffen an der Spitze der ersten Armee bleibt. Beide Armeen, konzentriert bei Lonato und Castiglione, bilden zusammen die österreichisch-italienische Armee unter dem Nominalkommando von Franz Joseph und mit Heß als Chef des Generalstabes. Schlick, so weit seine Antezedentien im ungarischen Kriege gehen, scheint ein tüchtiger Durchschnittsgeneral, Heß ist unstreitig der größte lebende Strategiker. Die Gefahr liegt in der persönlichen Dazwischenkunft des berüchtigten Franz Joseph. Er hat sich, wie Alexander I. beim Einfall Napoleons in Rußland, mit einer gemischten Bande alter, philisterhafter, besserwissender Schnurrbärte umgeben, wovon einige vielleicht direkt von Rußland bezahlt sind. Von dem Plateau herab würde die französische Armee, sollte sie die Österreicher stehen lassen und direkt auf den Mincio losmarschieren, in klar imposanter Deutlichkeit, Regiment für Regiment angeschaut werden. Der sinnliche Eindruck, den Feind auf näherem Weg zur Rückzugslinie zeigend, könnte einen Kopf wie den von Franz Joseph leicht bewildern <verwirren; vom engl. bewilder>. Das Dazwischenreden grämelnder epaulettierter Besserwisser könnte seine Nervenschwäche beschönigen und ihn zur Aufgabe der trefflich gewählten Position und zum Rückzug zwischen den Festungen entscheiden. Mit dummen Jungen an der Spitze eines Reichs hängt alles von ihrem Nerventhermometer ab. Die bestüberlegten Pläne sind das Spiel von subjektiven Eindrücken, Zufällen, Grillen. Mit einem Franz Joseph im Hauptquartier der Österreicher gibt es kaum eine andere Garantie für den Sieg als den Quasimodo im feindlichen Lager. Aber der hat wenigstens in St. James Street bei den professionellen Spielern seine Nerven abgehärtet und ist zwar kein Mann von Eisen, wie seine Bewunderer wollen, wohl aber einer von Guttapercha.