Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 380-383.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Friedrich Engels

Die österreichische Niederlage

Geschrieben um den 9. Juni 1859.
Aus dem Englischen.

["New-York Daily Tribune" Nr. 5669 vom 22. Juni 1859, Leitartikel]

<380> Durch die "Persis", die gestern abend eintraf, erhielten wir eine Reihe hochinteressanter Dokumente über die Schlacht von Magenta, die unsere Leser an anderer Stelle finden. Ihr Inhalt kann sehr kurz zusammengefaßt werden: Die Schlacht von Magenta war eine entscheidende Niederlage für die Österreicher und ein klarer Sieg für die Franzosen; die Alliierten sind unter allgemeinen Freudenbezeigungen in Mailand einmarschiert; die Österreicher befinden sich in vollem Rückzug, und Benedeks Korps wurde von Baraguay d'Hilliers (über dessen Rücktrittsabsichten nichts mehr zu hören war) bei Marignano völlig geschlagen und verlor 1.200 Gefangene; die Alliierten sind jetzt voller Zuversicht und die Österreicher entmutigt und verzweifelt.

Unsere Londoner Zeitungskollegen betrachten allgemein die Schlacht als eine Überrumpelung der Österreicher; und das war auch unsere Meinung, bis wir von den neuesten Dokumenten Kenntnis erhielten. Nun scheint uns, daß Gyulay nicht so sehr überrumpelt als bei einem verhängnisvollen Fehler ertappt wurde; wir werden diese Ansicht im folgenden begründen. Als die Österreicher ihre Position ungefähr dreißig Meilen vor Mailand einnahmen, verstand sich von selbst, daß sie nicht alle möglichen Zugänge zu dieser Hauptstadt decken konnten. Drei Wege standen den Alliierten offen: einmal direkt durch das österreichische Zentrum über Valenza, Garlasco und Bereguardo, oder auf der österreichischen Linken über Voghera, Stradella und über den Po zwischen Pavia und Piacenza, und endlich zur österreichischen Rechten über Vercelli, Novara und Boffalora. Wenn die Österreicher jedoch Mailand verteidigen wollten, so konnten sie nur eine dieser drei Routen verteidigen, indem sie sie durch ihre Armee versperren; auf jeder einzelnen ein Korps aufzustellen, würde ihre Kräfte zersplittern und sie einer sicheren Niederlage <381> aussetzen. Aber es ist eine anerkannte Regel der modernen Kriegführung, daß eine Straße durch eine Seitenstellung ebensogut, wenn nicht besser, verteidigt werden kann als durch eine bloße Frontstellung. Eine Armee von 150.000 bis 200.000 Mann, die auf einem kleinen Terrainabschnitt konzentriert und in jeder Richtung zu handeln bereit ist, kann vom Feinde nicht ungestraft vernachlässigt werden, außer er besitzt eine äußerst überlegene Streitkraft. Als zum Beispiel Napoleon 1813 auf die Elbe zu marschierte, und die Alliierten, obgleich zahlenmäßig viel schwächer, ihre Gründe hatten, eine Schlacht zu suchen, nahmen sie bei Lützen Aufstellung, einige Meilen südlich von der Straße, die von Erfurt nach Leipzig führt. Napoleons Armee war zum Teil schon vorbeimarschiert, als die Alliierten den Franzosen ihre Nähe kundgaben. Daraufhin wurde der Marsch der ganzen Armee gestoppt, die avancierte Kolonne zurückberufen, und es fand eine Schlacht statt, die den Franzosen, obgleich diese mit 60.000 Mann überlegen waren, kaum den Besitz des Schlachtfelds ließ. Am nächsten Tag marschierten beide feindlichen Armeen auf Parallellinien nach der Elbe zu, und der Rückzug der Alliierten wurde nicht einmal belästigt. Wenn sich die Stärke der Streitkräfte mehr das Gleichgewicht gehalten hätte, so würde die Seitenstellung der Alliierten Napoleons Marsch wenigstens ebenso erfolgreich aufgehalten haben, wie eine frontale Besetzung des direkten Weges nach Leipzig. General Gyulay war genau in einer solchen Stellung. Mit einer Streitkraft, die auf mehr als 150.000 Mann zu erhöhen ganz allein von ihm abhing, stand er zwischen Mortara und Pavia, so die direkte Straße von Valenza nach Mailand sperrend. Er konnte an jedem Flügel umgangen werden, aber das lag ganz in der Natur seiner Position, und wenn diese Position irgend etwas wert war, hätte er für diesen Fall ein wirksames Gegenmittel finden müssen, ausgehend von den Möglichkeiten, die ihm diese Position gegen solche Umgehungen bot. Wir wollen hier die österreichische Linke völlig außer Betracht lassen und uns auf den Flügel beschränken, der tatsächlich umgangen wurde. Am 30. und 31. Mai und am 1. Juni konzentrierte Louis-Napoleon die Masse seiner Truppen bei Vercelli. Am 31. hatte er dort 4 piemontesische Divisionen (56 Bataillone), Niels Korps (26 Bataillone), Canroberts Korps (39 Bataillone) und die Garde (26 Bataillone). Zusätzlich zog er noch Mac-Mahons Korps herbei (26 Bataillone), also zusammen die gewaltige Streitmacht von 173 Bataillonen Infanterie außer der Kavallerie und Artillerie. Gyulay hatte sechs österreichische Armeekorps; sie waren geschwächt durch Detachierungen zur Besetzung verschiedener Plätze, gegen Garibaldi, nach Voghera usw., hatten aber immer noch durchschnittlich je 5 Brigaden, das ergibt 30 Brigaden oder 150 Bataillone.

<382> Kein General würde wagen, eine solche Armee, die sich ihrer Kraft bewußt ist, in seiner Flanke oder in seinem Rücken zu lassen. Außerdem war diese Armee so aufgestellt, daß ihre Rechte nicht anders umgangen werden konnte, als durch einen Flankenmarsch innerhalb ihres Operationskreises, und ein solcher Flankenmarsch ist ein sehr gefährliches Manöver. Eine Armee in Marschordnung braucht immer eine geraume Zeit, um in richtige Schlachtordnung überzugehen. Sie ist niemals völlig auf eine Schlacht vorbereitet. Das ist selbst bei einem Frontangriff der Fall, bei dem die Marschordnung so weit wie möglich für den Kampf eingerichtet wird; es ist noch weit mehr der Fall, wenn die Marschkolonnen in der Flanke angegriffen werden.

Es ist daher eine feststehende Regel der Strategie, einen Flankenmarsch im Wirkungsbereich des Feindes zu vermeiden. Louis-Napoleon, der sich auf seine Massen verließ, verletzte diese Regel vorsätzlich. Er marschierte auf Novara und den Ticino, ohne die Österreicher, die sich offensichtlich in seiner Flanke befanden, zu beachten. Hier war für Gyulay der Moment des Handelns gekommen. Es war seine Aufgabe, seine Truppen in der Nacht des 3. Juni auf Vigevano und Mortara zu konzentrieren, ein Korps an der unteren Agogna zur Beobachtung von Valenza zurückzulassen und am 4. mit jedem verfügbaren Mann den vorrückenden Alliierten in die Flanke zu fallen. Das Resultat eines solchen Angriffs, unternommen mit ungefähr 120 Bataillonen auf die langgestreckten, unterbrochenen Kolonnen der Alliierten, war kaum zweifelhaft. Wenn ein Teil der Alliierten den Ticino überschritten haben sollte, desto besser. Dieser Angriff hätte sie zurückgerufen, doch wären sie kaum rechtzeitig genug da gewesen, um entscheidend in den Kampf einzugreifen. Und selbst wenn der Angriff erfolglos geblieben wäre, so wäre der Rückzug der Österreicher nach Pavia und Piacenza ebenso sicher gewesen, wie jetzt nach der Schlacht von Magenta. Es gibt Gründe für die Annahme, daß dies wirklich der ursprüngliche Plan Gyulays war. Doch als er am 2. Juni sah, wie die Franzosen ihre Massen zu seiner Rechten auf der direkten Straße nach Mailand sammelten, scheint ihn seine Entschlossenheit verlassen zu haben. Die Franzosen könnten, wenn er es zuließ, ebenso schnell wie er in Mailand sein - es gab kaum einen Mann, um die direkte Straße zu blockieren; der Einmarsch auch nur einer kleinen Einheit Franzosen in Mailand würde jedoch die ganze Lombardei in Flammen setzen. Diese Überlegungen wurden höchstwahrscheinlich in seinem Kriegsrat hin und her erwogen und endlich entschieden, daß ein Marsch auf die Flanke der Franzosen vollkommen genüge, um Mailand zu decken. Als aber der Fall wirklich eintrat und die Franzosen ebenso nahe an Mailand waren wie die Österreicher, verlor Gyulay den Kopf und zog sich schließlich hinter den Ticino zurück. Das besiegelte <383> seine Niederlage. Während die Franzosen in gerader Linie nach Magenta marschierten, machte er einen großen Umweg, marschierte erst den Ticino entlang hinunter, überschritt ihn bei Bereguardo und Pavia, und marschierte dann wieder längs des Flusses herauf nach Boffalora und Magenta - damit zu spät den Versuch unternehmend, den direkten Weg nach Mailand zu versperren. Die Folge davon war, daß seine Truppen in schwachen Detachements eintrafen und nicht in solchen Massen herangebracht werden konnten, wie erforderlich waren, um dem Kern der alliierten Streitkräfte erfolgreich zu widerstehen. Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Österreicher gut kämpften, und wir beabsichtigen, auf die Frage der Strategie und Taktik im Kampf bei anderer Gelegenheit zurückzukommen. Aber es ist zwecklos, wenn sie in ihren Bulletins versuchen, die Tatsache zu beschönigen, daß sie geschlagen wurden und daß die Schlacht das Schicksal Mailands entschieden hat und ihre Auswirkungen auf das Schicksal des Feldzuges haben muß. Inzwischen konzentrieren die Österreicher drei weitere Armeekorps an der Etsch, wodurch sie eine beträchtliche zahlenmäßige Überlegenheit erlangen werden. Das Kommando wurde Gyulay abgenommen und General Heß übergeben, der als bester Stratege Europas gilt, doch soll er so sehr Invalide sein, daß er nicht in der Lage ist, sich längere Zeit einer Aufgabe zu widmen.

Unsere Leser werden bemerken, daß die maßgeblichen französischen und englischen Quellen den Berichten über Ausschreitungen der Österreicher in der Lomellina entgegentreten. Wir lenken ebenfalls die Aufmerksamkeit auf diese Tatsache, nicht nur um allen Parteien Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern auch, weil unser eigener Unglauben an diese Berichte ausgelegt wurde als ein Ausdruck der Sympathie mit der Sache Franz Josephs - eines Potentaten, dessen Sturz wir nicht um einen Tag verzögert sehen möchten. Wenn er und Napoleon zusammen und jeder durch die Hand des anderen untergehen würden, wäre die Vollkommenheit der historischen Gerechtigkeit erreicht.