Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 376-379.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Friedrich Engels

Die Kriegsereignisse


["Da Volk" Nr. 6 vom 11. Juni 1859]

<376> Der fragmentarische und widerspruchsvolle Charakter der vom Kriegsschauplatz erhaltenen Telegramme erlaubt nur einige Randglossen über den Rückzug der Österreicher über den Ticino und ihre Niederlage bei Magenta. Eingeschüchtert, wie es scheint, durch General Niels Besetzung von Novara, zogen sich die Österreicher während des 3. und 4. Juni über den Ticino zurück. Am 4. Juni um 4 Uhr morgens fielen Franzosen und Piemontesen, die den Ticino bei Turbigo und Boffalora auf dem rechten Flügel der Österreicher überschritten hatten, mit überlegenen Massen auf den unmittelbar gegenüberstehenden Feind und warfen ihn nach ungemein blutigem und hartnäckigem Widerstand aus seiner Position. Die Details, die der Telegrammist der alliierten Armee, Louis Bonaparte, über die Aktion veröffentlicht hat, zeugen von der Einbildungskraft dieses "Geheimgenerals", der seinen Widerwillen gegen die "armes de precision " <"Präzisionswaffen" (gezogene Gewehre)> immer noch nicht überwinden kann und daher mit Train und Bagage in ängstlicher Entfernung vom Schlachtfeld hinter der Armee nachreist, jedoch in "voller körperlicher Gesundheit".

Die Zudringlichkeit, womit dies Gesundheitsbulletin der Welt an den Kopf geworfen wird, hat ihre guten Gründe. Zur Zeit der Verhandlungen der französischen Pairskammer über Louis Bonapartes Boulogner Expedition wurde nämlich durch eidliche Zeugenaussage erhärtet, daß der Held im Moment der Gefahr seinem gepreßten Herzen in einer Weise Luft gemacht hatte, die alles, nur kein Symptom "voller körperlicher Gesundheit" war.

Die Österreicher hatten sich an der Agogna konzentriert in der Stellung eines Tigers auf dem Sprung. Ihre Niederlage hat Gyulay verschuldet durch Aufgabe dieser Stellung. Nachdem sie die Lomellina besetzt und Position <377> ungefähr 30 Meilen vor Mailand eingenommen hatten, verstand sich von selbst, daß alle möglichen Zugänge zu dieser Hauptstadt nicht gedeckt werden konnten. Drei Wege standen den Alliierten offen: einer durch das österreichische Zentrum über Valenza, Garlasco und Bereguardo; einer auf der österreichischen Linken über Voghera, Stradella und den Po zwischen Pavia und Piacenza; endlich die Straße zur österreichischen Rechten über Vercelli, Novara und Boffalora. Wollten die Österreicher Mailand direkt verteidigen, so konnten sie nur eine dieser Straßen durch ihre Armee versperren. Die Aufstellung eines Korps auf jeder derselben würde ihre Kräfte zersplittert und ihre Niederlage versichert haben. Aber es ist eine Regel moderner Kriegführung, daß eine Straße durch eine Seitenstellung ebensogut, wenn nicht besser, verteidigt wird als durch eine Stellung in der Fronte. Eine Armee von 130.000 bis 200.000 Mann, konzentriert auf einem kleinen Terrainabschnitt, bereit, in jeder Richtung zu handeln, wird von dem Feinde nur ungestraft vernachlässigt, wenn er über eine numerisch außerordentlich überlegene Streitkraft verfügt. Als Napoleon 1813 auf die Elbe zu marschierte, hatten die Alliierten, obgleich numerisch viel schwächer, Gründe, ihn zur Schlacht zu provozieren. Sie stellten sich daher bei Lützen auf, einige Meilen südlich von der Straße, die von Erfurt nach Leipzig führt. Napoleons Armee war zum Teil schon vorbeimarschiert, als die Alliierten den Franzosen ihre Nähe kundgaben. Infolge davon wurde die gesamte französische Armee zum Halt gebracht, ihre avancierten Kolonnen wurden zurückberufen, und es fand eine Schlacht statt, die den Franzosen, obgleich in einer numerischen Überlegenheit von etwa 60.000 Mann, kaum den Besitz des Schlachtfelds ließ. Den nächsten Tag marschierten beide Armeen auf Parallellinien nach der Elbe zu, ohne daß der Rückzug der Alliierten belästigt worden wäre. Mit minder disproportionierten Streitkräften würde die Seitenstellung der Alliierten Napoleons Marsch wenigstens ebenso erfolgreich aufgehalten haben, als eine direkte Frontaufstellung nach dem Weg von Leipzig.

Ähnlich war Gyulays Stellung. Mit einer Streitkraft von ungefähr 150.000 Mann stand er zwischen Mortara und Pavia, so die direkte Straße von Valenza nach Mailand sperrend. Er konnte auf beiden Flügeln umgangen werden, aber seine Position bot ihm die Gegenmittel gegen solche Umgehung. Die Masse der alliierten Armee wurde am 30., 31. Mai und 1. Juni konzentriert bei Vercelli. Sie bestand aus 4 piemontesischen Divisionen (36 Bataillonen), Niels Korps (26 Bataillonen), Canroberts Korps (39 Bataillonen), der Garde (26 Bataillonen) und Mac-Mahons Korps (26 Bataill.), zusammen 173 Bataillonen Infanterie außer der Kavallerie und Artillerie. Gyulay seinerseits hatte 6 Armeekorps, geschwächt durch <378> Detachierungen gegen Garibaldi, nach Voghera, zur Besetzung verschiedener Plätze usw., aber immer noch 150 Bataillons musternd. Seine Armee stand so, daß sie zur Rechten nur umgangen werden konnte durch einen Flankenmarsch innerhalb ihres Operationskreises. Nun ist es bekannt, daß eine Armee stets Zeit braucht, um aus der Marschordnung in Schlachtordnung überzugehen, selbst bei einem Frontangriff, obgleich in diesem Falle die Marschordnung so viel als möglich für den Kampf eingerichtet ist. Ungleich gefährlicher wird die Störung, wenn Kolonnen in Marschordnung in der Flanke angegriffen werden. Es ist daher stehende Regel, einen Flankenmarsch im Wirkungsbereich des Feinde zu vermeiden. Die alliierte Armee verletzte die Regel. Sie marschierte auf Novara und den Ticino, scheinbar ohne Rücksicht auf die Österreicher in ihrer Flanke. Dies war der Moment der Handlung für Gyulay. Er hatte seine Truppen in der Nacht vom 3. Juni auf Vigevano und Mortara zu konzentrieren, nach Zurücklassung eines Korps an der unteren Agogna zur Beobachtung von Valenza, und am 4. Juni mit jedem disponiblen Mann den avancierenden Alliierten in die Flanke zu fallen. Das Resultat eines solchen Angriffs, unternommen mit ungefähr 120 Bataillonen auf die langgestreckte und vielfach unterbrochene Marschkolonne der Alliierten, war kaum zweifelhaft. Hatte ein Teil der Alliierten den Ticino schon überschritten, desto besser für Gyulay; sein Angriff würde sie zurückgerufen, ihnen aber kaum die Zeit gegönnt haben, entscheidend mitzuwirken. Selbst im schlimmsten Falle eines nicht erfolgreichen Angriffs blieb der Rückzug der Österreicher auf Pavia und Piacenza so sicher als z.B. nach der Schlacht bei Magenta. Die ganze Aufstellung Gyulays zeigt, daß dies in der Tat der ursprüngliche Plan der Österreicher war. Sein Kriegsrat hatte nach reiflicher Erwägung beschlossen, daß den Franzosen die direkte Straße nach Mailand offen bleiben und Mailand nur durch einen Marsch auf die Flanke des Feindes gedeckt werden solle. Als aber der entscheidende Augenblick kam und Gyulay die französischen Massen auf seiner Rechten sich nach Mailand wälzen sah, verlor der Vollblut-Magyar den Kopf, schwankte und retirierte schließlich hinter den Ticino. Und damit bereitete er sich die Niederlage. Während die Franzosen auf grader Linie nach Magenta (zwischen Novara und Mailand) marschierten, machte er einen großen Umweg, erst den Ticino entlang hinuntermarschierend und ihn überschreitend bei Bereguardo und Pavia, und dann wieder heraufmarschierend längs des Flusses nach Boffalora und Magenta, um den direkten Weg nach Mailand zu versperren. Die Folge war, daß seine Truppen in schwachen Detachements eintrafen und nicht in solchen Massen aufgehäuft werden konnten, um den Kern der alliierten Armee zu brechen.

<379> Unter der Voraussetzung, daß die alliierte Armee im Besitz des Schlachtfeldes, d.h. der direkten Straße nach Mailand geblieben ist, müssen sich die Österreicher hinter den Po, hinter die Adda oder ihre großen Festungen zurückziehen, um sich zu reorganisieren. Obgleich dann die Schlacht bei Magenta das Schicksal Mailands, würde sie noch keineswegs den Feldzug entscheiden. Die Österreicher haben drei ganze Armeekorps, die in diesem Augenblick am Adige konzentriert werden und ihnen die Machtbilanz schließlich sichern müßten, wenn die groben Schnitzer des "Geheimgenerals" nicht, wie diesmal wieder, durch die Unentschlossenheit Gyulays korrigiert werden.