Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 353-357.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Eine preußische Meinung zum Krieg

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5659 vom 10. Juni 1859]

<353> Berlin 24. Mai 1859

Der Krieg, den der französische Autokrat angestiftet hat, bleibt zweifellos nicht nur nicht "lokalisiert", worunter im Sinne des politischen Jargons zu verstehen ist, daß die kriegerischen Operationen nicht über die Grenzen der italienischen Halbinsel hinausgetragen werden sollen; der Krieg wird im Gegenteil nicht einmal auf den Rahmen eines üblichen Krieges beschränkt bleiben, der zwischen selbstherrlichen Regierungen ausgefochten und durch den Kampf ausgebildeter Armeen entschieden wird. In seinem weiteren Verlauf wird er sich in eine allgemeine revolutionäre Feuersbrunst des kontinentalen Europas verwandeln, aus der nicht viele der jetzigen Herrscher ihre Kronen und ihre Dynastien werden retten können. Deutschland kann zum Zentrum des Umschwungs werden, weil es in demselben Augenblick, in dem Rußland soweit ist, sein Schwert in die Waagschale zu werfen, zum Zentrum der militärischen Operationen werden muß. Es bedarf nicht vieler Überlegungen, um zu der Schlußfolgerung zu gelangen, daß eine ernsthafte Niederlage auf dem Schlachtfeld zu revolutionären Ausbrüchen in Frankreich oder Österreich führen wird, aber Berlin ist vielleicht der einzige Ort, der die notwendigen Angaben liefert für die Bestimmung der Ausmaße der schweren Prüfungen, welche Deutschland in naher Zukunft zu bestehen hat. Fast mit bloßem Auge kann man Tag um Tag das Anwachsen der Bedingungen beobachten, die nach Erreichung eines gewissen Reifegrades eine so gewaltige Krise hervorrufen werden, wie sie sich die Philister aller Stände noch kaum vorzustellen vermögen. Ich kann die Symptome des kommenden Sturms in wenigen Worten zusammenfassen: Die eifersüchtige Rivalität der deutschen Fürsten, die sie in der ersten Phase des Krieges zur Inaktivität verurteilt; <354> das soziale Elend und die Unzufriedenheit, die wie ein Lauffeuer von der Weichsel bis zum Rhein um sich greift und in der zweiten Phase des Krieges zu der ausländischen Aggression innere Unruhen hinzufügen wird; und schließlich die Erhebung der Deutschland einverleibten slawischen Völkerschaften, wodurch dann der Krieg nach außen und die revolutionäre Erschütterung mit einem Kampf der Nationalitäten innerhalb des Landes zusammenfallen werden.

Betrachten wir zunächst einmal die soziale Basis, auf der die deutschen Fürsten stehen, wenn die Macht der Umstände sie schließlich zwingen wird, sich für eine gemeinsame Handlungsweise zu entscheiden. Es ist Ihnen bekannt, daß die Periode von 1849 bis 1859 eine Epoche darstellt, die in der ökonomischen Entwicklung Deutschlands beispiellos ist. Während dieser Zeit hat es sich gewissermaßen aus einem landwirtschaftlichen in ein industrielles Land verwandelt. Nehmen Sie als Beispiel eine einzige Stadt, Berlin: 1848 zählte sie kaum 50.000 männliche und weibliche Fabrikarbeiter, während bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ihre Zahl auf insgesamt 180.000 angewachsen ist. Nehmen Sie einen einzigen Zweig der Industrie: Vor 1848 bildete der Wollexport nach England, Frankreich und anderen Ländern eine der wichtigsten deutschen Ressourcen, während gegenwärtig die in Deutschland erzeugte Wolle kaum den Bedarf der einheimischen Fabriken deckt. Gleichzeitig mit der Entwicklung von Fabriken, Eisenbahnen, Dampfschiffahrt und der Erschließung von Bodenschätzen ist plötzlich ein Kreditsystem emporgeschossen, das nicht nur dem allgemeinen Fortschritt von Industrie und Handel entspricht, sondern durch die aus Frankreich importierten Treibhausmanipulationen des Crédit mobilier über seine zulässigen Grenzen hinaus hochgetrieben wurde. Die Bauernschaft und das Kleinbürgertum, bis vor kurzem noch die gewaltige Mehrheit der Nation, hatten sich vor der Revolution von 1848 einfach an die alte asiatische Methode gehalten, das Hartgeld zu horten; jetzt haben sie es aber durch zinstragende Papiere aller Sorten, Farben und Werte ersetzt. Die Hamburger Krise von 1857 hatte dieses Gebäude einer neuartigen Prosperität leicht erschüttert, aber nicht ernsthaft beschädigt; aber nun beim allerersten Kanonendonner an Po und Ticino geriet es ins Wanken. Zweifellos sind Sie schon unterrichtet über die Auswirkung der österreichischen Handelskrise auf das übrige Deutschland und über die Bankrotte, die sich in rascher Folge in Leipzig, Berlin, München, Augsburg, Magdeburg, Kassel, Frankfurt und anderen kommerziellen Zentren Deutschlands zugetragen haben. Diese Zusammenbrüche sind jedoch nur der Ausdruck vorübergehender Katastrophen in den höheren kommerziellen Sphären. Um eine Vorstellung von der wirk- <355> lichen Lage zu vermitteln, halte ich es für zweckmäßig, Ihre Aufmerksamkeit auf einen eben veröffentlichten Zirkularerlaß der preußischen Regierung zu lenken, in dem sie unter Hinweis auf die bedrohlichen Folgen der Entlassung ganzer industrieller Armeen in Schlesien, Berlin, Sachsen und Rheinpreußen erklärt, daß sie den Petitionen der Handelskammern von Berlin, Breslau, Stettin, Danzig und Magdeburg, die ihr das zweifelhafte Experiment empfehlen, mehr unkonvertierbares Papiergeld auszugeben, nicht Gehör schenken kann, und daß sie noch entschiedener ablehnt, die Arbeiter nur deshalb mit öffentlichen Arbeiten zu beschäftigen, damit sie Arbeit und Lohn erhalten. Die letztere Forderung klingt gewiß sonderbar in einem Augenblick, in dem die Regierung aus Mangel an Geldmitteln gezwungen war, die schon im Gange befindlichen öffentlichen Arbeiten plötzlich einzustellen. Allein die Tatsache, daß die preußische Regierung bereits zu Anfang des Krieges gezwungen ist, eine solche Proklamation zu erlassen, spricht Bände. Fügt man dieser plötzlichen Störung des industriellen Lebens eine allgemeine Auflage neuer Steuern in ganz Deutschland, eine allgemeine Erhöhung der Preise von lebensnotwendigen Waren und eine allgemeine Desorganisierung aller Geschäftsunternehmungen durch die Einberufung der Reserven und der Landwehr <Landwehr: in der "N.-Y. D. T." deutsch> hinzu, können Sie sich eine ungefähre Vorstellung von den Ausmaßen machen, die das soziale Elend in einigen Monaten erreichen wird. Die Zeiten sind jedoch vorbei, wo die Masse des deutschen Volkes irdische Mißgeschicke als unabwendbare Heimsuchungen des Himmels anzusehen pflegte. Man hört bereits eine leise, aber vernehmbare Stimme im Volk die Worte murmeln: "Verantwortung! Wäre die Revolution von 1848 nicht durch Betrug und Gewalt niedergeschlagen worden, stünden sich Frankreich und Deutschland nicht wieder in Waffen gegenüber. Hätten die brutalen Unterdrücker der deutschen Revolution nicht ihre gekrönten Häupter vor einem Bonaparte und einem Alexander gebeugt, würde es heute keinen Krieg geben." Das ist das leise Grollen der Stimme des Volkes, die schließlich mit Donnerschlägen sprechen wird.

Ich komme nun zu dem Schauspiel, das die deutschen Fürsten vor den Augen eines ziemlich ungeduldigen Publikums aufführen. Seit Anfang Januar setzte das österreichische Kabinett alle Hilfsmittel diplomatischen Intrigenspiels in Bewegung, um die deutschen Staaten zu veranlassen, eine große Bundesarmee unter weitgehender Einbeziehung österreichischer Truppen an einem Punkt in Süddeutschland zusammenzuziehen; diese Konzentration sollte Frankreich der Gefahr eines Angriffes auf seine Ostgrenzen aussetzen. <356> Auf diese Weise sollte der Deutsche Bund in einen Angriffskrieg hineingezogen werden, wobei sich Österreich gleichzeitig die Führung dieses Krieges vorbehielt. Einer Resolution dieses Inhalts, die von Hannover am 13. Mai dem Deutschen Bundestag vorgelegt wurde, trat Herr von Usedom, der preußische Bevollmächtigte, mit einem formellen Protest seiner Regierung entgegen. Hierauf erfolgte ein allgemeiner Ausbruch patriotischer Entrüstung seitens der Fürsten Süddeutschlands. Nun wurde von Preußen das Gegenstück inszeniert. Bei der Vertagung ihres Landtages hatte sich die preußische Regierung eine kurzfristige Popularität gesichert, indem sie erklärte, sie wäre zu einer Politik der "bewaffneten Vermittlung" entschlossen. Kaum waren die Kammern auseinandergegangen, schrumpfte die "bewaffnete Vermittlung" zusammen auf die recht bescheidenen Ausmaße einer Weigerung Preußens, sich neutral zu erklären, wie Frankreich und Rußland von ihm gefordert hatten. Dieser negative Heldenmut reichte zwar aus, den Zorn des Hofes von St. Petersburg zu erregen, war aber weit davon entfernt, die Erwartungen des preußischen Volkes zu erfüllen. Die Armierung der Festungen im Westen und im Osten, verbunden mit der Einberufung der Reserven und der Landwehr, sollten dazu dienen, die dadurch hervorgerufene Erregung des Volkes zu dämpfen. Unterdessen forderte am 19. Mai Herr von Usedom im Namen seiner Regierung den Deutschen Bundestag auf, die Beobachtungsarmee des Bundes unter das direkte Kommando Preußens zu stellen und ihm die ganze Initiative der zu ergreifenden militärischen Maßnahmen zu überlassen. Jetzt war die Reihe an den kleineren deutschen Fürsten, die insgeheim von Österreich unterstützt wurden, ihre patriotischen Bestrebungen zu offenbaren. Bayern erklärte, daß die Zeit noch nicht gekommen wäre, die Armee der Wittelsbacher dem Kommando der Hohenzollern zu unterstellen. Hannover erinnerte Preußen mit einem boshaften "Tu quoque" <Auch Du"> an dessen Protest gegen die Konzentration einer Beobachtungsarmee des Bundes an einem Punkt in Süddeutschland. Sachsen seinerseits sah keinen Grund, warum sein erlauchter Herrscher nicht selbst mit dem Oberkommando betraut werden sollte, und wäre es nur, um die rivalisierenden Bestrebungen der Habsburger und der Hohenzollern zu neutralisieren. Württemberg zog fast eine französische Invasion einer preußischen Oberherrschaft vor. Auf diese Weise feierten die übelsten Erinnerungen an das Heilige Deutsche Reich eine schmähliche Auferstehung. Das Resultat dieser Zänkereien zwischen seinen kleinlichen Herrschern ist die vorläufige Mattsetzung Deutschlands. Der Ruf nach der Wiedereinsetzung der Deutschen Nationalversammlung <357> ist nur der erste schwache Protest der nicht von den revolutionären Massen, sondern von der ängstlichen, beschwichtigenden Bourgeoisie gegen diese dynastischen Hemmnisse erhoben wird.

Ich werde eine andere Gelegenheit wahrnehmen, um über die slawischen Unruhen zu sprechen, die sich in Deutschland anbahnen.