Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 339-343.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Friedrich Engels

Der Krieg geht nicht vorwärts

Geschrieben am 16. Mai 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5647 vom 27. Mai 1859, Leitartikel]

<339> Unsere letzten Telegramme vom Kriegsschauplatz, die gestern mit der "Asia" ankamen, erstrecken sich bis zum 13. d.M., also auf genau drei Tage länger als die Nachrichten von der "Vanderbilt". Diese Telegramme bestehen aus kurzen und ziemlich konfusen Bulletins der sardinischen Regierung; die Österreicher geben keine Berichte über ihre Bewegungen. In diesen drei Tagen ereignete sich nichts von großer Bedeutung. Der Feldzug behauptet in bezug auf Langsamkeit weiterhin seinen Vorrang in den Annalen der modernen Kriegführung. Wir glauben uns fast in jene vorsündflutlichen Zeiten einer pomphaften und untätigen Kriegführung zurückversetzt, denen Napoleon solch ein plötzliches und entschiedenes Ende bereitet hatte. Da stehen sich zwei riesige Armeen auf einer mehr als 40 Meilen langen Linie gegenüber, von denen jede in der Lage ist, mit 100.000 bis 140.000 Mann auf dem Felde zu operieren. Die eine rückt heran, die andere rekognosziert, streckt mal an diesem, mal an jenem Punkt der feindlichen Position ihre Fühler aus und zieht sich dann zurück, während die erstere Armee auf dem Gelände, das sie besetzt hält, verharrt, so daß nunmehr eine Entfernung von acht bis zwanzig Meilen beide voneinander trennt.

Es gibt einige Tatsachen, die eine vernünftige Erklärung für diese Anomalie geben; doch es bleibt trotzdem eine Anomalie, und zwar infolge des Fehlers, den die angreifende Partei zu Beginn des Feldzuges beging. Wie wir bereits dargelegt haben, wurde der ganze Zweck und das Ziel der österreichischen Invasion in Piemont durch eine Indolenz und Unentschlossenheit der österreichischen Bewegungen vereitelt, die kaum etwas anderem als der <340> Wankelmütigkeit des Generals Gyulay zuzuschreiben sind. Die seitdem erhaltenen Berichte bestätigen diese Ansicht vollauf. Die Österreicher geben keine Erklärungen für das merkwürdige Verhalten ihrer Armee - ein klarer Beweis, daß die volle Verantwortung dafür ihren Oberbefehlshaber trifft. Tatsächlich begannen die österreichischen Bulletins bereits eine Woche nach Beginn des Feldzuges vom schlechten Wetter und vom überschwemmten Zustand des Landes zu sprechen, um damit zu begründen, daß ihr General gezwungen war, seine Truppen aus den fieberschwangeren Reissümpfen des Po zurückzuziehen. Und nun schreibt uns unser gut informierter Londoner Korrespondent, daß der österreichische Kaiser Gyulay seines Oberbefehls enthoben und, in Nachahmung des Beispiels von Louis-Napoleon, gemeinsam mit General Heß das Kommando übernehmen wird.

Soweit wir es jetzt beurteilen können, scheint der Feldzug folgendermaßen verlaufen zu sein: Zuerst wurde der österreichische rechte Flügel gegen Novara und Vercelli vorgeschoben, verbunden mit Demonstrationen am Lago Maggiore. Das Zentrum und wohl auch der linke Flügel, die über Vigevano und Pavia in parallelen Linien marschierten, blieben ziemlich weit zurück. Die Kolonne von Pavia erreichte mit ihrem Hauptteil Lomello erst am 2. Mai. Die vorgeschobene Stellung des rechten Flügels hatte anscheinend zum Ziel, erstens die Aufmerksamkeit der Verbündeten durch einen angedrohten Angriff auf die Dora und auf Turin abzulenken und zweitens die Ressourcen des oberen Teils der Lomellina zum Nutzen der österreichischen Armee zu requirieren. Erst am 3. Mai entwickelte sich der Angriff des Hauptteils der österreichischen Armee gegen die Linie von Casale und Valenza. Am 4. Mai wurden Demonstrationen gegen Frassineto (gegenüber der Mündung der Sesia in den Po) und Valenza unternommen, während der rechte Flügel näher an das Zentrum herangezogen wurde; gleichzeitig wurde eine Brücke über den Po zwischen Cambio und Sale geschlagen und am südlichen Ufer des Flusses ein Brückenkopf errichtet. Einigen Berichten zufolge stellte hier das achte österreichische Armeekorps, das von Piacenza aus am südlichen Ufer des Po entlang marschiert sein soll, die Verbindung mit dem Hauptteil her und überquerte den Fluß nach einer kurzen Exkursion nach Tortona und Voghera und der Zerstörung der Eisenbahnbrücke über die Scrivia. Anderen Berichten und einigen unserer letzten Telegramme zufolge befindet sich jedoch noch eine österreichische Streitkraft auf der Straße zwischen Piacenza und Stradella. Es ist schwer zu sagen, ob die gemeldete Exkursion nach Voghera als Scheinangriff gegen Novi und die Kommunikationen zwischen Genua und Alessandria beabsichtigt war; jedenfalls verführte sie die meisten der erfahrenen Redakteure von Turin, Paris und London dazu, eine ent- <341> scheidende Schlacht auf dem alten Schlachtfeld von Novi oder in der Nähe von Marengo zu prophezeien; diese Prophezeiung wurde sofort durch den Rückzug der Österreicher auf die nördliche Seite des Po und den Abbruch ihrer Brücken zunichte gemacht. Nach den ersten Maitagen hatten sehr schwere Regenfälle eingesetzt. Der Po stieg damals bei Pavia um zehn bis zwölf Fuß und die Nebenflüsse dementsprechend. Die Überschwemmungen der Reisfelder im Po-Tal - gewöhnlich kein Hindernis für eine marschierende Armee, da die Straßen von den Deichen über dem Hochwasserstand gebildet werden - wurden nun eine ernste Angelegenheit; das ganze Land und viele Straßen wurden überflutet. Außerdem marschierten die Österreicher nicht; sie blieben in diesem Sumpf und mußten entweder auf den Straßen oder den nassen Feldern kampieren. Nachdem sie einige Tage inmitten dieser Überschwemmung ausgeharrt hatten, waren sie gezwungen, sich auf höhergelegeneren und trockeneren Boden zurückzuziehen. Sie müssen jedenfalls schwere Verluste durch Krankheit, besonders Cholera und Fieber, erlitten haben. Es folgte nun eine Konzentrationsbewegung auf die Gegend um Mortara und Novara, ein Rückzug nicht vor dem Feind (denn der blieb ganz ruhig in seinen Linien), sondern vor den Elementen. Seitdem haben die Österreicher Befestigungen an der Linie der Sesia errichtet und rekognoszierende und fouragierende Truppen bis dicht an die Dora-Linie geschickt, die die äußerste Linke der alliierten Position bildet.

Bei all diesen Operationen können wir kein einziges Merkmal guter Feldherrnkunst entdecken. In der Tat, nachdem der erste günstige Moment für einen Angriff auf die alliierte Position einmal verpaßt war, wurde der ganze Vormarsch nach der Lomellina vollkommen zwecklos und verlor seine Bedeutung. Das Vorschieben des österreichischen rechten Flügels war ein entschiedener Fehler. Es durfte keine Zeit mit Täuschungsmanövern vergeudet werden. Der einzig richtige Operationsplan war, geradewegs auf den Feind loszumarschieren, ihn anzugreifen und zu schlagen, bevor er seine Kräfte völlig konzentrieren konnte. Wenn es stimmt, daß Benedeks achtes Korps das südliche Ufer des Po entlangmarschierte, so war dies ein weiterer Fehler; es wurde von dem Hauptteil der Armee durch einen großen Fluß getrennt, und wenn der Regen ein oder zwei Tage früher eingesetzt hätte, dann wäre der Brückenschlag bei Cambio unmöglich gewesen, und die Österreicher hätten sich selbst in jener abgetrennten Position befunden, in der sie den Feind zu finden hofften. Die ganze Überquerung des Po wurde ihnen anscheinend von der Notwendigkeit aufgezwungen, Benedek herüberzubringen. Warum war er nicht von Anfang an auf dem nördlichen Ufer? Durch das Brückenschlagen über den Po und die damit verbundenen Operationen waren <342> sie gezwungen, sich einige Tage länger in den pestilenzialischen Sümpfen aufzuhalten, als es sonst nötig gewesen wäre. Schließlich scheint der ganze Feldzug schlecht geführt worden zu sein. In all diesen österreichischen Bewegungen gibt es keine Entschlossenheit. Demonstrationen werden nach allen Richtungen unternommen, doch wir sehen nirgends eine Bewegung zu einem wirklichen Angriff. So tasten sie sich auf ihrem Weg die ganze Linie des Feindes entlang, bis schließlich die Überschwemmung eine unüberwindliche Barriere in der Breite von einigen Meilen zwischen den streitenden Heeren aufrichtet. Aus Mangel an besserer Beschäftigung und um wenigstens tätig zu erscheinen, rekognoszieren sie nunmehr in Richtung auf die Dora; doch all diese Erkundungen wurden von kleinen fliegenden Kolonnen ausgeführt, die nicht schlagkräftig handeln können und umkehren müssen, sobald sie auf irgendeine vorgeschobene Stellung stoßen.

Während die Österreicher also in Wirklichkeit nichts tun, scheinen ihre Gegner mit demselben Spiel beschäftigt zu sein. Sie sind jetzt soweit konzentriert, wie sie es auf der langen Linie, die sie besetzt halten, nur sein können. Ihre Stellungen sind folgende: Die äußerste linke Linie, gebildet von der Dora und dem Po bis Casale, wird von dem französischen Korps des Generals Niel besetzt, das zwei Divisionen umfaßt. Der linke Flügel befindet sich bei Casale und besteht aus zwei piemontesischen Divisionen und 3.000 Freiwilligen unter Garibaldi. Das Zentrum bei Valenza wird von dem französischen Korps des Generals Mac-Mahon und einer piemontesischen Division gebildet - zusammen drei Divisionen. Der rechte Flügel, bei Alessandria, besteht aus dem französischen Korps Canroberts und einer piemontesischen Division - zusammen drei Divisionen. Auf der äußersten Rechten bei Novi und Arquata ist das französische Korps von Baraguay d'Hilliers und eine piemontesische Division - zusammen drei Divisionen. Die Reserve bilden zwei Divisionen der französischen Garde in Genua. Wenn wir die Division auf 10.000 Mann schätzen - das wird hoch genug sein, da die Franzosen keine Zeit hatten, ihre Beurlaubten zurückzurufen und deshalb weniger zählen, während die sardinischen Divisionen stärker sind -, kämen wir auf insgesamt 150.000 Mann; das ist ungefähr die Stärke der jetzt auf seiten der Alliierten aufgestellten Truppen. Davon könnten 110.000 bis 120.000 Mann im Kampf eingesetzt werden. Ihr bisheriges außerordentlich passives Verhalten mag teilweise von der mangelnden Vorbereitung seitens der Franzosen herrühren, die sehr wenig Artillerie und Munition bei sich führen, und teilweise auf Befehle von Louis-Napoleon zurückzuführen sein, der zweifellos beabsichtigt, selbst die ersten Lorbeeren des Feldzuges zu ernten. Dieser neue General traf am 12. in Genua ein, wo er vom Volk mit Beifall empfangen wurde. Am <343> 13. sah er den König <Voctor Emanuel II.>, der zur Unterredung aus dem Lager kam. Am gleichen Tage erließ er eine napoleonische Proklamation, deren Wortlaut wir auf einer anderen Seite bringen, und am 14. wollte er sich zur Armee begeben.

Die Regenfälle scheinen nun auch nachgelassen zu haben, und die nächste oder übernächste Post kann uns Nachrichten bestimmteren Charakters bringen. Dieser Zustand des Zögerns und der Inaktivität kann nicht mehr lange anhalten. Entweder müssen die Österreicher wieder über den Po zurück, oder es muß eine Schacht in der Lomellina geschlagen werden. Es mag sein, daß die Österreicher eine starke Verteidigungsposition gesucht und vorbereitet haben, um dort den Ansturm der alliierten Truppen aufzufangen. Falls sie eine gefunden haben, wäre dies das Klügste, was sie tun konnten; sie können nicht gut ohne jeden Kampf zurückgehen und wären in einer solchen Position gleichzeitig imstande, ihre ganze Streitkraft, die sie nunmehr zur Verfügung haben, ins Gefecht zu werfen, während die Alliierten durch die Garnisonen geschwächt würden, die sie in Casale, Alessandria und Valenza zurücklassen müßten.

In der Zwischenzeit halten beide Parteien nach Verstärkung Ausschau. Österreich hat ein Korps von 50.000 Mann unter General Wimpffen nach Triest und Umgebung geschickt, das als eine Reserve für die Italienarmee dienen soll, währenddessen Louis-Napoleon zwei weitere Armeekorps für Italien organisiert hat; außerdem schwirren Gerüchte umher, daß Prinz Napoleon ein buntscheckiges Heer führen wird, das irgendwo auf der Halbinsel landen soll, um dort für ihn ein Königreich zu erobern.