Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 333-338.

Karl Marx

Hochbedeutendes aus Wien

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5655 vom 6. Juni 1859]

<333> Wien, 14. Mai 1859

Der preußische General Willisen (Bruder des anderen preußischen Generals gleichen Namens, der sich einigen Ruhm durch seine Werke über Militärwissenschaft erwarb und ihn durch seine Führung des schleswig-holsteinischen Krieges wieder verlor) ist hier angekommen, angeblich aus Berlin geschickt, um den schwachsinnigen König von Preußen und seine Königin <Friedrich Wilhelm IV. und Elisabeth> auf ihrer Heimreise von Italien zu empfangen. Sein wirklicher Auftrag soll auf zwei Punkte beschränkt sein - erstens, Österreich zu warnen, seine Intrigen im Frankfurter Bundestag fortzusetzen, da Preußen nicht gewillt ist, sich vom Wiener Kabinett unter dem Deckmantel des auf dem Papier stehenden Deutschen Bundes diktieren zu lassen; zweitens, die so verabreichte Pille durch die bestimmte Versicherung zu versüßen, daß Preußen jetzt definitiv zur "bewaffneten Vermittlung" entschlossen ist. Dieser zweideutige Ausdruck wird folgendermaßen interpretiert: Preußen wird, nachdem es sein Haus in Ordnung gebracht und sich bis an die Zähne bewaffnet hat, einige neue Friedensvorschläge an Bonaparte richten und nach deren Ablehnung sein Schwert in die Waagschale werfen. Gleichzeitig mit dieser wichtigen Mitteilung hat die österreichische Regierung über Bern die Nachricht erhalten, daß der russisch-französische Vertrag, abgesehen von seinen noch unbekannten geheimen Abmachungen, Frankreich dazu verpflichtet, den Krieg auf die seinem vorgeblichen Ziel, der Befreiung Italiens, entsprechenden Grenzen zu beschränken, während Rußland sich verpflichtet, bei dem ersten tatsächlichen Eingreifen des Deutschen Bundes in den Kampf eine Armee von mindestens 300.000 Mann über seine Grenzen zu schicken.

Es herrscht hier große Unzufriedenheit über General Gyulays altmodische Strategie, und es werden Gerüchte über seine Entlassung verbreitet. General <334> Heß wird als sein Nachfolger genannt. Aber bisher scheint kein solcher Schritt beabsichtigt, da Oberst Kuhn, der hervorragendste Offizier des österreichischen Stabes, entsandt wurde, um General Gyulays schwankende Entschlüsse zu stützen. Gyulay selbst ist Magyare. Er wurde in Pest am 1. September 1798 geboren. Mit 16 Jahren trat er als Unterleutnant in ein von seinem Vater befehligtes Infanterieregiment ein; er wurde dann den Husaren zugeteilt, im September 1827 zum Major der Kaiser-Ulanen ernannt, bald danach zum Oberst des 19. Infanterieregiments und avancierte 1837 zur Würde eines Generalmajors und Brigadegenerals in St. Pölten. 1845 befehligte er das 33. Infanterieregiment in Wien; 1846, nachdem er die Würde eines Feldmarschall-Leutnants erlangt hatte, wurde er in der Eigenschaft eines Divisionskommandeurs und Obersten Militärkommandanten nach Triest geschickt. 1848 fand er Gelegenheit, auf diesem Platze gute Dienste zu leisten. Nachdem er selbst, auf eigene Verantwortung, das Kommando über die Marine übernommen hatte, entließ er die verdächtigen italienischen Offiziere und Matrosen, brachte die Kriegsschiffe in den verschiedenen Stationen an der dalmatinischen Küste in Sicherheit und rettete einige Kriegsschiffe, die schon auf der Fahrt nach Venedig waren. Er ordnete die notwendigen Verteidigungsmaßnahmen in Triest, Pola, Pirano und anderen wichtigen Punkten der Küste an, sicherte die vom Aufruhr bedrohten Grenzen und bereitete die Offensive vor, die von Feldzeugmeister Graf Nugent am 17. April 1848 nach dem Eintreffen der Verstärkungen aus den inländischen Provinzen begonnen wurde. Eine von Gyulay organisierte Ruderflottille unterstützte die Küstenoperationen der Armee. Am 23. Mai erschien die piemontesische Flotte vor Triest, wurde aber durch die von ihm getroffenen Vorbereitungen in Schach gehalten; ihr Versuch, die entfernter gelegene Batterie von St. Barcola zu überrumpeln, wurde gleichfalls vereitelt. Die piemontesische Flotte alarmierte Triest zum letzten Male am 8. Juni, da sie aber Gyulay für alle Fälle vorbereitet fand, zog sie sich am 4. Juli aus dem Gesichtskreis der Stadt und nach der Schlacht von Custozza aus dem Adriatischen Meer zurück. Als Belohnung für diese Dienste erhielt Gyulay vom Kaiser verschiedene Orden und vom Triester Magistrat die Ehrenbürgerschaft. Nachdem er Anfang Juni 1849 mit der Leitung des österreichischen Kriegsministeriums betraut wurde, soll er große Energie und Aktivität entfaltet haben. Bei der Einnahme von Raab befand er sich im Gefolge des Kaisers. Von Wien, wohin er in sein Amt zurückgekehrt war, eilte er auf Grund der Nachrichten über die Niederlage bei Acs sofort nach Komorn, um dort die notwendigen Maßnahmen zu treffen. Später wurde er auf eine Inspektionsreise durch das ganze Kaiserreich gesandt und präsentierte Franz <335> Joseph seinen Bericht. Nachdem er im Juli 1850 das Kriegsministerium abgegeben und das Kommando des fünften Korps in Mailand übernommen hatte, wurde er zum Feldzeugmeister ernannt und erhielt den Orden vom Goldenen Vlies. Nach dem Rücktritt Radetzkys erhielt er das Kommando über die zweite Armee, die er jetzt gegen Piemont geführt hat. Er ist einer der österreichischen Generale, die, meist Slawonier oder Magyaren von Geburt, sich durch das Auspeitschen von Frauen und andere scheußliche Brutalitäten mit Schande bedeckt haben.

Zwei Bataillone von Wiener Freiwilligen sind bereits zum Kriegsschauplatz abmarschiert, und ein drittes Bataillon folgt ihnen heute. Diese Freiwilligen, die zum autochthonen Vorstadtadel gehören, wurden in die Uniformen der Legionäre von 1848 gekleidet und waren zuerst die Helden des Tages. Bälle, Konzerte und Theaterveranstaltungen gab es für sie im Überfluß, und sogar der österreichische Walzer-Orpheus, Herr Strauß, komponierte ihnen zu Ehren einen neuen Marsch vor seiner recht unpatriotischen Abreise nach Petersburg. Es kann jedoch nicht geleugnet werden, daß neuerdings die Popularität dieser neugebackenen Krieger erschreckend gesunken ist. Diese primitiven Grobiane aus den Vorstädten trieben es etwas zu frei mit Bier und Zigarren und gegenüber dem schönen Geschlecht und überschritten bisweilen erheblich die Grenzen selbst des Wiener "Humors". Was sie sind, sagen sie selbst in ihrem Lieblingslied:

Ich bin ein ächter Wiener,
Führ ein lustiges Leben,
Und da hat mich mein Vater
Zu den Deutschmeistern geben;
Deutschmeister ist ein
Gar lustiges Regiment,
Hält in der einen Hand den Säbel,
in der andern das Ziment.
<die Verse in der "N.-Y. D. T." deutsch und englisch>

(Ziment, muß ich hinzufügen, ist ein Trinkgefäß für Bier, das eine ganz ungeheure Menge Flüssigkeit faßt.)

Eine der Heldentaten dieser "freien und fröhlichen" Männer nahm eine recht ernsthafte Wendung und wurde von der Presse mit Recht getadelt. Die Kasernen unserer Freunde liegen am Salzgries, einem Platz, der, ebenso wie die zu ihm führenden Straßen, hauptsächlich von Israeliten bewohnt wird. Die Juden aus Galizien, die in Wien Geschäfte abzuwickeln haben, pflegen sich auch in diese ziemlich schmutzigen Regionen zu begeben. Als nun unsere <336> heroischen Kerle eines Abends vom "Sperl", wo man sie öffentlich gefeiert und ihnen zu ihrem etwaigen Heldenmut gratuliert hatte, in ihre Kasernen zurückkehrten, gaben sie in ihrer ziemlich erregten Gemütsverfassung einen Vorgeschmack von ihren zukünftigen Taten, indem sie unvermittelt über die unglücklichen Israeliten herfielen. Sie schlugen einigen die Fenster ein, trampelten andere nieder, schnitten vielen die Bärte ab und warfen sogar ein unglückliches Opfer in eine Teertonne. Ruhig vorbeigehende Leute wurden mit der Frage "Bist du ein Jude?" angesprochen, und wenn die Antwort bejahend ausfiel, unter lauten Ausrufen wie "Macht nichts, der Jud wird geprügelt!" <dieser Ausruf in der "N.-Y. D. T." deutsch und englisch> unbarmherzig geschlagen. Auf die überspitzte Sentimentalität dieser Wiener Kerle kann man aus folgender Tatsache schließen: Ein Schuhmacherlehrling von fünfzehn Jahren, dem die Aufnahme ins Freiwilligenkorps vom Rekrutenwerber verweigert wurde, erhängte sich aus Verzweiflung.

Die Geld- und Finanzschwierigkeiten werden in allen Sphären, von den höchsten bis zu den niedrigsten, sichtbar. Erstens, wie Sie bereits der europäischen Presse entnommen haben werden, hat der Kaiser selbst die Kronjuwelen verpfändet. Zweitens, was für ein Organ der Wiener Presse man auch zur Hand nimmt, stets erscheint an auffallender Stelle eine Spalte mit dem Titel "Patriotische Spenden". Diese patriotischen Opfer, die entweder für Kriegszwecke im allgemeinen oder für die Bildung von Freiwilligenkorps im besonderen gebracht werden, variieren erheblich in ihrer Größe, einige betragen nur 2 Gulden 2 Kreuzer, andere erreichen die respektable Höhe von 10.000 bis 12.000 Gulden. Neben den Geldschenkungen werden hier und da Geschenke mehr mittelalterlicher Art aufgeführt wie ein Paar Revolver von einem Waffenhändler, Papier für Patronen von einem Papierfabrikanten, Stoff für Uniformen von einem Kleiderhändler usw. Zwischen den Geschenken von Einzelpersonen figurieren mehr oder weniger verdächtige Sammlungen von Provinzgemeinden, die unter dem offiziellen Druck ihrer kleinen Amtspersonen und Bürgermeister <Bürgermeister: in der "N.-Y. D. T." deutsch und englisch> zustande kommen. Ein gemeinsamer Zug zeichnet jedoch alle größeren Beiträge aus, daß sie nämlich nicht in Geldform, sondern in Form von Staatsobligationen und Kupons staatlicher Fonds entrichtet werden, so daß dem Staat buchstäblich mit "seiner eigenen Münze" gezahlt wird. Das untrüglichste Zeichen der Geldschwierigkeiten, das Ihnen auf Schritt und Tritt begegnet, ist das völlige Verschwinden der kleinen Münzen für die Bargeldtransaktionen des täglichen Lebens. In dem Moment, <337> als die Einstellung der Barzahlungen durch die Bank gemeinsam mit den sie begleitenden Finanzmaßnahmen angekündigt wurde, verschwand das kleine Metallgeld, sowohl Kupfer als auch Silber, wie von einem Zauberstab berührt. Man nahm zu der gleichen primitiven Methode des Zerstückelns großer Banknoten in aliquote Teile Zuflucht, die den ausländischen Besucher Wiens im Jahre 1848 so sehr befremdet hatte: Jeder Besitzer einer Ein-Gulden-Banknote zerschneidet diese in so viele Teile, wie er braucht, um seine kleinen Einkäufe tätigen zu können. Die Regierung hat versucht, diesen Zerstückelungsprozeß in Wien und in den Provinzen durch eine Proklamation aufzuhalten, in der sie der Öffentlichkeit ankündigte, daß vom Steuereinnehmer und von der Bank keine Fragmente von Banknoten mehr in Zahlung genommen werden. Hinsichtlich der Bank scheint diese Ankündigung ungesetzlich zu sein, da noch immer ein Gesetz aus dem Jahr 1848 existiert, welches die Bank verpflichtet, solche Bruchteile von Geldscheinen anzunehmen, und es gibt sogar ein ganzes System bei der Bank, um sie zu berechnen. Es ist offiziell erklärt worden, daß 28.000.000 Gulden Kleingeld im Umlauf waren, eine Summe, die, wie hinzugefügt wird, den wirklichen Bedarf um das Doppelte überstieg. Daher sind die Behörden "entschlossen, der törichten Spekulation entgegenzutreten, die gegenwärtig das Kleingeld knapp macht". Mit der Feststellung, daß Kleingeld im Überfluß vorhanden sei, ist allerdings dem offensichtlichen Mangel an dieser notwendigen Sache nicht abgeholfen.

Die Behörden hätten wissen müssen, daß das Agio auf Silber mächtig gestiegen ist, daß sogar Kupfer ein Agio von 10 Prozent trägt und daß überall die Bauernschaft alles hortet, das wie Metall klingt. Die Gouverneure von Böhmen und Niederösterreich haben die Öffentlichkeit an ein Gesetz erinnert, das jede Agiotage mit Silber- und Kupfermünzen mit einer Strafe von fünfzig Gulden und mehr belegt - aber alles vergebens. Derartige Abwehrmaßnahmen verfehlen ihre Wirkung um so sicherer, wenn sie mit solchen offiziellen Ankündigungen verknüpft sind wie die Bekanntmachung im offiziellen Teil der "Wiener Zeitung", daß die Silberstücke zu sechs Kreuzern im Lombardisch-Venetianischen Königreich ab 1 .Juni aus dem legalen Umlauf gezogen werden. Die Regierung wird schließlich gezwungen sein, der Petition der Handelskammer von Niederösterreich nachzukommen und, so beschämend es auch sein mag, Banknoten mit dem beachtlichen Wert von 5, 10 und 25 Kreuzern für Einzelhandels-Transaktionen auszugeben.

Erheben wir uns von den niedrigen Regionen der Einzelhandels-Transaktionen zu jenen des Geldmarkt und des Handels im wahrsten Sinne des Wortes, dann müssen wir zuerst den Ihnen bereits bekannten Bankrott der <338> bedeutenden Firma Arnstein & Eskeles vermerken, der am 5. Mai erklärt wurde. Sie waren die führenden Wechselmakler der Hauptstadt, denen hauptsächlich die Diskontierung der Wechsel, die nicht sofort an der Bank gehandelt wurden, und die Rediskontierung der Wechsel von Fabrikanten und Kaufleuten aus den Provinzen oblag. Außer den Geldtransaktionen der Hauptstadt waren auch die der Fabrikanten von Ungarn, Böhmen und Schlesien in ihren Händen konzentriert. Die Firma rühmte sich eines 80jährigen Bestehens, und ihr Chef, Baron von Eskeles, vereinigte in seinen Händen die Ämter des Direktors der Nationalbank, des Generalkonsuls von Dänemark, des Vorsitzenden der Diskonto-Gesellschaft von Niederösterreich, des Präsidenten der Gesellschaft für Staatsbahnen, des Verwalters der Südbahn usw. Er war, mit einem Wort, neben Rothschild die höchste Finanzautorität des Reiches. Arnstein & Eskeles hatten zur Zeit des Wiener Kongresses eine bedeutende Rolle gespielt, als der Salon der Frau von Arnstein ein Zentrum für die geselligen Zusammenkünfte der politischen und literarischen Berühmtheiten der Zeit bildete. Eine der unmittelbaren Ursachen, die zu diesem Bankrott führten, bei dem es sich um eine Summe von ca. 30.000.000 Dollar handelt, war die Weigerung des Pariser Crédit mobilier, die Wechsel der Wiener Firma zu honorieren. Nach ihrem Zusammenbruch verging kein Tag, ohne daß an der Wiener Börse eine ganze Liste von Bankrotten registriert wurde; die bedeutendsten unter diesen Firmen sind: Solomon Cammando, Eidam & Co., G. Blanc, Plecher & Co., Diem & English, I. F. Gaartner, F. C. Schmidt, M. Greger & Co., die Gebrüder Pokaray, Moritz Kollinsky, Karl Zohler, A. Kirschmann u.a. Auf diese Katastrophe folgten unmittelbar damit in Verbindung stehende Bankrotte in den österreichischen Provinzen, so in Brünn, Prag, Reichenberg, Lemberg usw.; der bedeutendste davon war der Zusammenbruch der Firma Lutteroth & Co. in Triest, deren Chef preußischer Konsul und Direktor des Österreichischen Lloyd ist. Über die Grenzen des österreichischen Staates hinaus haben einige erstklassige Häuser in Breslau, Magdeburg, München, Frankfurt sowie die Leih- und Kommerzbank in Kassel falliert. Ganz allgemein erinnert die gegenwärtige Panik an die Handelspanik in Hamburg im Herbst 1857, und die Hamburger Maßnahmen zur Beruhigung der Panik werden ebenfalls von der Regierung imitiert. Die Wechselgesetzgebung soll eine Milderung erfahren, die Nationalbank wird eine Kommission zur Unterstützung der nur durch den augenblicklichen allgemeinen Mißkredit zur Zahlungseinstellung gezwungenen Firmen bilden, und den Banken von Prag und Brünn sollen zwei Millionen Papiergeld bewilligt werden.