Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 323-327.

Karl Marx

Österreich, Preußen und Deutschland im Krieg

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5647 vom 27. Mai 1859]

<323> Wien, 10. Mai 1859

Die Ungeduld und die Enttäuschung der Wiener über das Schneckentempo, in dem der Krieg, der in scheinbar so forscher Weise begonnen wurde, vorangeht, veranlaßte die Regierung, an alle Mauern der Hauptstadt folgendes Plakat anschlagen zu lassen:

"Die Möglichkeit, daß der Gegner alle Nachrichten, die in den inländischen Blättern über die Bewegungen der k.k. Armee mitgeteilt werden, binnen einigen Stunden erfahren und zu seinem Vorteil ausbeuten kann, legt hierorts die Verpflichtung auf, bei den diesfälligen Mitteilungen mit der größten Vorsicht zu Werke zu gehen. Die letzten Nachrichten lauten derart, daß die operierende k.k. Armee eine Aufstellung zwischen dem Po und der Sesia innehat, aus welcher jede Offensivbewegung ermöglicht wird. Sie ist im Besitz aller Übergänge der Sesia, und obwohl das anhaltende Hochwasser des Po entscheidende Bewegungen auf das rechte Ufer dieses Flusses noch immer verhindert, werden die Terrainabschnitte zwischen Pontecurone und Voghera dennoch mit bedeutenden Teilen der Armee fortwährend festgehalten; zugleich wurde die Eisenbahnbrücke bei Valenza von uns gesprengt."

Die Regierung betrachtet die Bewegungen in den kleineren italienischen Staaten natürlich mit einigem Unbehagen. Das Kriegsministerium veröffentlichte folgende Aufstellung über Streitkräfte dieser Staaten:

Toskana. Vier Regimenter Linieninfanterie, jedes Regiment besteht aus zwei Bataillonen, jedes Bataillon aus sechs Kompanien - 6.833 Mann; ein Bataillon Schützen, sechs Kompanien - 780 Mann; ein Bataillon Insularschützen - 780 Mann; Bataillone freiwilliger Jäger - 2.115 Mann; ein Bataillon Veteranen - 320 Mann; eine Strafabteilung - 150 Mann; zwei Eskadronen Dragoner - 360 Pferde; ein Regiment Artillerie - acht Batterien mit je sechs Geschützen; ein Bataillon Küstenartillerie - 2.218 Mann; ein <324> Regiment Gendarmen - 1.800 Mann. Das ergibt mit den entsprechenden Stäben, Genietruppen, Marineeinheiten usw. 15.769 Mann.

Parma. Gardes du corps, Hellebardiere, Guiden - 179 Mann; zwei Linienbataillone, ein Jägerbataillon - 3.254 Mann; eine Kompanie Artillerie - 84 Mann; Genietruppen - 14 Mann; Gendarmen, vier Kompanien - 417 Mann; mit den Stäben, Kommandos, Schulen, Arbeiterkompanien - 4.294 Mann.

Modena. Vier Linienregimenter zu nur je einem Bataillon - 4.880 Mann; eine Kompanie Jäger - 120 Mann; drei Kompanien Dragoner - 300 Mann; eine Feldbatterie mit sechs Geschützen - 150 Mann; eine Küstenbatterie mit zwölf Geschützen - 250 Mann; eine Arbeiterkompanie - 130 Mann; eine Kompanie Pioniere - 200 Mann,. außerdem etliche Veteranen, Hellebardiere usw., zusammen 7.594 Mann.

San Marino. Die kleine Republik bringt 800 Mann auf.

Rom. Zwei Schweizer Infanterieregimenter (ein drittes Regiment wird jetzt gebildet) - 1.862 Mann; zwei italienische Regimenter von gleicher Stärke; zwei Sedentärbataillone (eine merkwürdige Art Soldaten) - 1.260 Mann; ein Regiment Dragoner 670 Mann und Pferde; ein Regiment Artillerie mit sieben Batterien und vier Geschützen - 802 Mann; Gendarmen - 4.323 Mann; mit Stäben, Genietruppen usw. 15.255 Mann.

Neapel und Sizilien. Vier Schweizer Regimenter, zwei neapolitanische Garde-Grenadierregimenter, sechs Grenadierregimenter, dreizehn Infanterieregimenter, ein Karabinierregiment, mit den Depotkompanien insgesamt 57.096 Mann; zwölf Jägerbataillone mit 14.976 und mit den Depotkompanien 16.740; neun Kavallerieregimenter, zwei Regimenter schwere Dragoner, drei Regimenter Dragoner, ein Karabinierregiment, zwei Lanzierregimenter, ein reitendes Jägerregiment - 8.415 Mann und Pferde; zwei Regimenter Artillerie, jedes aus zwei Feld- und einem Festungsbataillon bestehend, oder sechzehn Feldbatterien mit 128 Geschützen und 12 Festungskompanien - zusammen einschließlich Train 52.000 Mann. Die Hellebardiere, Genietruppen, Guiden, gardes du corps usw. hinzugezählt, erhält man eine Gesamtstärke von 130.307 Mann.

Die neapolitanische Flotte besteht aus zwei Linienschlachtschiffen mit 80 und 84 Kanonen, fünfzig Segelfregatten, zwölf Dampffregatten mit je 10 Kanonen, zwei Segelkorvetten, vier Dampfkorvetten, zwei Segelkorvetten, elf kleineren Dampfschiffen, zehn Mörserbooten und achtzehn Kanonenbooten.

Die österreichische Regierung hat tatsächlich die Ereignisse in Toskana mehr oder weniger vorausgesehen und dürfte sie bis zu einem gewissen Grade <325> mit in Rechnung gesetzt haben; was sie jedoch mit echter Besorgnis erfüllt, ist die reservierte, schwankende und alles andere als freundliche Haltung, welche die preußische Regierung einnimmt. Die preußische Regierung rüstet, weil sie durch den Lärm der Öffentlichkeit dazu gezwungen wird, zugleich aber macht sie die Rüstung durch ihre diplomatischen Schritte sozusagen unwirksam. Es ist bekannt, daß das gegenwärtige preußische Ministerium und insbesondere der Außenminister von Schleinitz der Gothaer Partei angehört, wie man sie in Deutschland nennt; das ist eine Partei, die sich in dem Wahn gefällt, der Zusammenbruch Österreichs könne Preußen die Möglichkeit bieten, ein neues Deutschland unter der Herrschaft der Hohenzollern zu schaffen. Diese Partei lauscht mit geheuchelter Leichtgläubigkeit der bonapartistischen Diplomatie, die ihr versichert, der Krieg solle in Italien "lokalisiert" werden und die Aufstellung eines französischen Beobachtungskorps unter Pélissier in Nancy bedeute nichts weiter als eine kleine Schmeichelei für diesen "berühmten Krieger". En passant darf ich bemerken, daß die gleiche Nummer des "Moniteur", die diese tröstliche Theorie enthält, einen kaiserlichen Befehl zur Aufstellung einer Humboldt-Statue in Paris veröffentlicht, ein Manöver, welches jedenfalls zeigt, daß Bonaparte glaubt, die Gothaer Partei mit Statuen zu kaufen sei nicht schwieriger als die französischen Zuaven mit Würsten. Der österreichische Bevollmächtigte beim Deutschen Bundestag in Frankfurt <Rechberg> hat, soviel steht fest, einen Antrag gestellt, worin der Bund aufgefordert wird, zu erklären, ob nicht seine eigene Sicherheit durch Bonapartes Teilnahme am italienischen Krieg gefährdet sei; aber infolge preußischer Intrigen hat sich der Bundestag bis heute der Antwort auf die Frage enthalten. Preußen mag im Recht sein, wenn es dagegen protestiert, von einer Mehrheit der kleinen deutschen Landesväter <Landesväter: in der "N.-Y. D. T." deutsch> kommandiert zu werden; aber dann wäre es seine Pflicht, die Initiative zu ergreifen und selbst die zur Verteidigung Deutschlands unerläßlichen Maßnahmen vorzuschlagen. Bis jetzt ist es gerade den entgegengesetzten Weg gegangen. Am 29. April richtete es ein Rundschreiben an die verschiedenen Mitglieder des Bundes, das ihnen in ziemlich anmaßendem Ton Zurückhaltung und Vorsicht predigte. Als Antwort auf dieses Schreiben haben die süddeutschen Regierungen das Berliner Kabinett in sehr eindrucksvoller Sprache an die römische Formel erinnert: "Caveant consules ne quid respublica detrimenti capiat" <"Die Konsuln mögen Sorge trage, daß der Staat keinen Schaden nehme">. Sie haben erklärt, ihrer Überzeugung nach sei der Augenblick ernster Gefahr für die Sicherheit Deutschlands bereits eingetreten und die Zeit des Nichtstuns entschieden vorüber. In seinem eigenen Lande findet das <326> preußische Ministerium Verbündete der verschiedensten Art. Neben der Gothaer Partei selbst gibt es zunächst die "russische" Partei, die Neutralität predigt; sodann die sehr einflußreiche, von der "Kölnischen Zeitung" repräsentierte Partei der Bankiers, Börsenspekulanten und der Leute des Crédit mobilier, die auf Grund ihrer materiellen Interessen dem Crédit mobilier in Paris und folglich dem Bonapartismus ergeben sind; schließlich die pseudo-demokratische Partei, die so tut, als sei sie über die österreichische Brutalität so erbittert, daß sie in der Politik des Dezemberhelden Liberalismus entdecke. Ich darf mit Gewißheit behaupten, daß einige Mitglieder der letztgenannten Partei mit Napoleondors gekauft worden sind und daß der Hauptagent dieses Gesinnungsschachers in der Schweiz wohnt und nicht nur ein Deutscher, sondern sogar ein ehemaliges Mitglied der Deutschen Nationalversammlung von 1848 und ein zügelloser Radikaler ist. Sie verstehen, daß hier unter diesen Umständen auf jegliche gegen die Neutralität gerichtete Erklärung preußischer Herkunft eifrig geachtet wird und daß ein kurzes Manifest des Herrn Friedrich von Raumer, des preußischen Historikers der Kreuzüge, viel Aufsehen erregt; es trägt den Titel "Der Standpunkt Preußens" und bekämpft offen die Theorie der Gothaer Partei. Aus den folgenden Auszügen können Sie den Gehalt der Raumerschen Ergüsse beurteilen:

"Es wurde von einer gewissen Partei behauptet, Preußen müsse die vollste Selbständigkeit bewahren, sich weder von den Ereignissen noch von dem ungeduldigen Treiben derer fortreißen lassen, welche die Politik Deutschlands in falsche Bahnen drängen und zu voreiligen Maßregeln bestimmen möchten. Die Regierung müsse demgegenüber ihren Standpunkt mit unverrückbarer Festigkeit behaupten, und man hoffe, daß die Staaten Deutschlands, da die Kräfte der andern deutschen Großmacht durch den italienischen Krieg in Anspruch genommen sind, um Preußen, als den natürlichen Mittelpunkt der deutschen Politik sich scharen werden.

Wir können es nicht über uns gewinnen, ohne Prüfung diesen Erklärungen beizutreten, uns diesen Weisungen zu unterwerfen. Zuvörderst ist die Behauptung von der vollsten Selbständigkeit Preußens eine Übertreibung. Es hat vielmehr mit Recht umhergesehen, gefragt, gewünscht, gewarnt, empfohlen, weil es, zwischen vier mächtigen Staaten eingeklemmt, eben keine volle Selbständigkeit und Unabhängigkeit behaupten kann, sondern deren Tun und Lassen berücksichtigen muß, ohne jedoch sich selbst und seinen wahren Beruf aufzugeben. Preußen ist in die Reihe der Großmächte eingetreten, nicht vermöge seiner Masse, sondern vermöge der Bewegung seines Geistes, seiner Entschlossenheit und Tätigkeit. Sobald dies fehlt (die Geschichte hat es bewiesen), sinkt es hinab in niedere Regionen und wird von andern vernachlässigt oder gar beherrscht.

Vier Monate lang hat die Diplomatie sich abgemüht, einem Gegner wie Napoleon III, gegenüber, aber auch gar nichts ausgerichtet, sondern völlig Bankrott gemacht. Ist es <327> nicht natürlich, nicht löblich, wenn die Deutschen (durch bittere Erfahrungen belehrt und ins richtigen Gefühle, was Ehre, Pflicht und Selbsterhaltung fordern) ungeduldig werden und Wolkenphantasmen nicht mehr für sichernde Felsen halten wollen?

Wie kann man auf einem Standpunkte unverrückbar verharren, wenn alle wesentlichen Verhältnisse sich ringsum verändert haben und entscheidende Ereignisse eingetreten sind! Da man nun von dem Standpunkte des Vermittelns gar nichts ausgerichtet hat, so darf man wohl bezweifeln, ob er von Anfang an der richtige, ob es nicht ein großer Irrtum war, sich zwischen Frankreich und Österreich so hinzustellen, als sei von Frankreich und der Türkei die Rede. Diese angebliche Unparteilichkeit, ohne entschiedenes Übergewicht nach der deutschen Seite hin, hat die Franzosen nicht gewonnen, wohl aber im übrigen Deutschland die Gemüter von Preußen abgewandt und das Vertrauen gemindert.

Wir wiederholen es: Ohne Deutschland ist Preußen auf die Dauer keine Großmacht. Der Vorschlag und Rat, Österreich in Wahrheit seinem Schicksale zu überlassen und sich um Preußen zu scharen, heißt Deutschland zugrunde richten. Nach Weise der Medea soll das gottlob endlich sich als unteilbares Ganzes fühlende Deutschland zerstückelt in den Hexenkessel geworfen werden und sich aufreden lassen, diplomatische Köche würden es erneut und verjüngt daraus hervorgehen lassen! Wir kennen nichts, was törichter, unpatriotischer, unheilbringender wäre als die offen verkündigte oder heimlich eingeschmuggelte Lehre von einem österreichischen und preußischen Deutschland. Es ist die verdammliche Lehre von einer quer durch unser deutsches Vaterland hindurchgehende, es jammervoll zerschneidenden Demarkationslinie, es ist die anmaßliche kurzsichtige Lehre des Jahres 1805, auf welches unausbleiblich 1806 folgte.

Die Interessen von ganz Deutschland sind die Interessen Preußens, und Österreich ist seit Jahrhunderten (trotz aller Mängel, Irrtümer und Unfälle) der Schutz Deutschlands gewesen gegen Slawen, Türken und Franzosen. In wenigen Wochen muß der italienische Krieg eine entscheidende Wendung nehmen; ist Deutschland in wenig Wochen gerüstet gegen Napoleon, wenn er die Franzosen mit der natürlichen Grenze des linken Rheinufers ködert und mit Bezug auf den Baseler Frieden Preußens Zustimmung fordert?

Vorsicht! hat bis jetzt nicht gefehlt, wohl aber Voraussicht; die Ereignisse haben alle Abwartenden überflügelt und das alte bewährte Sprichwort vergessen lassen: Zeit verloren, alles verloren!"

Um heute die Absendung nicht zu verzögern, werde ich bei anderer Gelegenheit über die Handelspanik und die Strömungen unter der Bevölkerung dieser fröhlichen und naiven Stadt berichten.