Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 316-319.

Karl Marx

Die Finanzpanik

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5634 vom 12. Mai 1859]

<316> London, 29. April 1859

Gestern war Abrechnungstag für ausländische Staatspapiere und Aktien. Damit erreichte die Panik an der Börse, die am 23. April begonnen hatte, eine Art Höhepunkt. Seit dem letzten Montag erklärten nicht weniger als 28 Mitglieder der Börse ihre Zahlungsunfähigkeit, davon 18 am 28. d.M. Die Summen, um die es sich dabei handelt - in einem Falle um 100.000 Pfd.St. -, übersteigen bei weitem den üblichen Durchschnitt solcher "Exekutionen". Die gleichzeitige Erhöhung der Diskontrate durch die Bankdirektoren von 21/2 Prozent, wie sie am 9. Dezember 1858 festgesetzt worden war, auf 31/2 Prozent - eine Erhöhung, die durch den Abfluß von Goldbarren infolge des Ankaufs von Silber zum Versand nach Indien notwendig geworden war - trug auch etwas dazu bei, die Unruhe zu steigern. Dreiprozentige Konsols, die am 2. April mit 961/4 notiert wurden, waren am 28. April auf 89 und einige Stunden lang sogar auf 881/4 gesunken. Russische 41/2prozentige Staatspapiere, die am 2. April mit 100 notiert wurden, fielen am 28. auf 87. Im gleichen Zeitraum sanken die sardinischen Staatspapiere von 81 auf 65, während die türkische sechsprozentige Anleihe einen Fall von 931/2 auf 57 erlitt und einige Stunden später wieder auf 61 anstieg. Österreichische fünfprozentige Staatspapiere wurden sogar nur mit 49 notiert. Die Hauptursachen, welche diese enorme Entwertung von in- und ausländischen Anleihen hervorbrachten, die von einem ähnlichen Fallen der Eisenbahnaktien, besonders der italienischen Eisenbahnen, begleitet wurde, waren die Nachrichten über die Invasion Sardiniens durch die Österreicher, über den Einmarsch einer französischen Armee in Piemont und über die zwischen Frankreich Rußland und Dänemark abgeschlossenen Offensiv- und Defensivverträge. Zwar übermittelte der Telegraph im Laufe des Tages ein Dementi des <317> "Constitutionnel" über den Offensiv- und Defensivvertrag zwischen Frankreich und Rußland. Aber obwohl die Börse zweifellos recht leichtgläubig und optimistisch ist, diesmal wagte sie es, die Glaubwürdigkeit offiziöser französischer Erklärungen zu bezweifeln. Sie konnte es noch nicht vergessen, daß der "Moniteur" vor kaum einer Woche sich erdreistet hatte zu dementieren, daß Frankreich sich bewaffne oder vorhabe, sich zu bewaffnen. Außerdem, während es den Vertrag dementierte, gestand das französische Orakel, daß zwischen dem östlichen und dem westlichen Autokraten ein "Übereinkommen" erzielt worden wäre, wodurch das Dementi im besten Fall zur Sophisterei wurde. Zur gleichen Zeit, als die britischen Börsenspekulanten Bankrott machten, zerschlug sich die russische Anleihe von 12 Millionen Pfd.St., deren sich die Lombard Street bemächtigt hätte, wenn der plötzliche Entschluß Österreichs nicht dazwischen gekommen wäre. Herr Simpson, der für die Londoner "Times" die Finanzartikel schreibt, macht folgende eigenartige Bemerkungen über das Zerplatzen dieser Anleihenseifenblase:

"Einer der Punkte, der beim augenblicklichen Stand der Dinge eine besondere Bemerkung verdient, ist, daß das Publikum der vorgesehenen Anleihe an Rußland entronnen ist. Obwohl die Pläne dieser Macht seit der vorzeitigen Beendigung des Krimkrieges immer sehr durchsichtig gewesen sind, war Rußland infolge des Einflusses unseres 'Verbündeten' und des nachfolgenden Treffens der Kaiser in Stuttgart sicher, daß keinerlei Warnungen, außer völlig unwiderlegbaren Beweisen, ausreichen würden, um zu verhindern, daß es jede gewünschte Summe erhält, wenn sich ein angesehenes Haus bereit fände, die Transaktionen vorzunehmen. Demzufolge wurde von allen interessierten Parteien die gehobenste Stimmung und die größte Zuversicht zum Ausdruck gebracht, als vor ein oder zwei Monaten der Plan herauskam, 12 Millionen Pfd.St. auf zulegen. 'Die englischen Kapitalisten müßten sieh entscheiden!' 'Es würde ihnen nur ein ganz geringer Anteil zur Verfügung stehen!' 'In Berlin und anderswo wären die Leute bereit, die Anteile zu einem Preis zu kaufen, der ein oder zwei Prozent über dem liege, der auf dem Londoner Markt zu erwarten sei.' Unter diesen Umständen bestand wenig Hoffnung, daß ein zur Vorsicht mahnendes Wort Gehör finden würde. Allerdings zeigten weder die Herren Baring noch Rothschild, die gewöhnlich so begierig sind, in diesen Dingen miteinander zu konkurrieren, irgendwelche Bereitwilligkeit, sich damit zu befassen. Es gab auch Berichte über eine geheimnisvolle Konzentration von 100.000 Mann russischer Truppen in Georgien. Es wurde ebenfalls erzählt, der russische Botschafter in Wien <Balabin> habe offen erklärt, daß Kaiser Napoleon ganz recht habe, eine Revision der Verträge von 1815 zu fordern; und schließlich konnte man annehmen, daß die kürzlichen Pläne, den Pariser Vertrag in bezug auf die Donaufürstentümer zu annullieren, die Mittelmeerreise des Großfürsten Konstantin und die hinterhältigen Schritte, mit denen der Friedensmission Lord Cowleys entgegengewirkt <318> wurde, gewisse Bedenken hervorrufen würden. Doch nichts kann einen optimistischen Engländer beeinflussen, der Geld anlegen will und sein Auge auf etwas geworfen hat, das er als eine Anleihe ansieht, die ihm 5 Prozent bringt, und dessen Verachtung für die Unglückspropheten grenzenlos ist. Deshalb blieben die Hoffnungen der Vertragspartner ungemindert, und tatsächlich fanden noch ein oder zwei Tage vor der Verkündung des österreichischen Ultimatums die letzten Beratungen statt, um alles vorzubereiten, diesen Vorschlag jeden Moment herausbringen zu können. Man rechnete damit, daß die ganze Angelegenheit sich als ein großer Erfolg erweisen würde, sobald die nächsten beruhigenden Versicherungen des französischen 'Moniteur' eintreffen, die die bereits gebrachten unterstützen, daß Frankreich nicht gerüstet habe und nicht zu rüsten beabsichtige. Der 'verbrecherische' Schritt Österreichs jedoch, das nicht wartete, bis seine Gegner alles, was sie brauchten, erreicht hatten, verdarb den ganzen Plan, und die 12 Millionen Pfd.St. werden nun wohl zu Hause bleiben müssen."

In Paris ließen die Panik des Geldmarktes und die sich daraus ergebenden Zahlungseinstellungen natürlich die Londoner Aufregungen im Rennen weit hinter sich, doch hatte Louis-Napoleon, der sich selbst gerade eine neue Anleibe von 500 Millionen frs. durch seine Lakaien im Corps législatif hatte bewilligen lassen, den Zeitungen streng verboten, von diesen verdrießlichen Zwischenfällen irgendwie Notiz zu nehmen. Dennoch können wir zu einer richtigen Einschätzung des augenblicklichen Standes der Dinge kommen, wenn wir die folgende Tabelle untersuchen, die ich den offiziellen Notierungen entnommen habe.

24. März

7. April

28. April

frs.

cts.

frs.

cts.

frs.

cts.

Dreiprozentige

69

20

67

95

62

00

Aktien der Bank von Frankreich

2.865

00

2.840

00

2500

000

Crédit mobilier

805

00

707

50

530-542

00

Orléans

1.368

00

1.257

50

1.150

00

Nord

910

00

915

00

835

00

Ost

682

00

627

50

550

00

Mittelmeer

850

00

830

00

752

00

Süd

523

00

503

75

412

50

West

600

00

537

50

485

00

Genf

540

00

520

00

445

00

Österreich

560

00

536

25

406

25

Viktor Emanuel

400

00

390

00

315

00

Lombardo-Venetien

527

50

512

50

420

00

Die Stimmung der englischen Geldleute ist augenblicklich erhitzt von einem maßlosen Ärger über die britische Regierung, die sie anklagen, sich im <319> diplomatischen Europa lächerlich gemacht und, was noch viel mehr bedeutet, die kommerzielle Welt durch ihre hartnäckige Blindheit und ihr Unverständnis irregeführt zu haben. In der Tat ließ sich Lord Derby während der ganzen Dauer der zum Schein geführten Verhandlungen zum Spielball Frankreichs und Rußlands machen. Doch nicht genug der bisherigen ununterbrochenen Fehlgriffe, beim Eintreffen der Nachrichten von dem österreichischen Ultimatum fiel er wieder in die gleiche Falle, indem er bei dem Bankett im Mansion House diesen Schritt als "verbrecherisch" brandmarkte und noch immer nichts von dem russisch-französischen Vertrag merkte. Sein letztes Vermittlungsangebot, das Österreich nicht ablehnen konnte, war lediglich ein Wahltrick, dessen Resultat nichts anderes sein konnte, als Napoleon weitere achtundvierzig Stunden für die Konzentration seiner Truppen zu geben und die unumgänglichen Operationen der Österreicher zu lähmen. So sieht der diplomatische Scharfsinn jener stolzen Aristokratie aus, die sich anmaßt, gegen die volkstümliche Reformbill aufzutreten, weil durch diese möglicherweise die Erledigung der ausländischen Angelegenheiten den tüchtigen Händen der erblichen Politiker entwunden werden könnte. Lassen Sie mich zum Abschluß bemerken, daß die Aufstände in Toskana und den Herzogtümern genau das waren, was Österreich brauchte, um einen Vorwand zu haben, diese Gebiete besetzen zu können.