Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 312-315.

Friedrich Engels

Die Kriegsaussichten

Geschrieben am 28. April 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5634 vom 12. Mai 1859, Leitartikel]

<312> Wir haben es nicht für nötig gehalten, auf verschiedene oberflächliche Kritiken einzugehen, die in den letzten zwei Monaten immer dann auftauchten, wenn wir es unternommen hatten, die Ressourcen und die strategischen Bedingungen für den Ausbruch des großen und blutigen Krieges, in den Europa jetzt verwickelt ist, zu erörtern. Wir finden jedoch in den vielen Einzelheiten, die heute die Seiten unserer Zeitung füllen und die ein eindrucksvolles Bild von den ersten Szenen dieses schrecklichen und ergreifenden Dramas vermitteln, eine so vollständige und so ins einzelne gehende Bestätigung unserer Auffassungen, die ganz gewiß die Öffentlichkeit interessieren wird, so daß wir mit Recht die Aufmerksamkeit darauf lenken können.

Es ist zwei volle Monate her, da bezeichneten wir die Offensive als die richtige Methode für Österreich, um sich zu verteidigen. Wir behaupteten, daß die Österreicher, die ihre italienische Armee vollkommen aktionsbereit in der Nähe der Verteidigungsposition der Piemontesen konzentriert hatten, einen großen Fehler begehen würden, wenn sie diese augenblickliche Überlegenheit über ihre noch räumlich getrennten Gegner nicht dazu ausnutzen, sofort in sardinisches Gebiet einzudringen, um zuerst die sardinische Armee zu schlagen und dann gegen die Franzosen zu marschieren, die die Alpen in mehreren Kolonnen passieren müssen und so Gefahr laufen, einzeln geschlagen zu werden. Diese unsere Schlußfolgerung löste ein gut Teil entgegengesetzte Meinungsäußerungen von einigen mehr oder weniger bedeutenden und mehr oder weniger strategisch bewanderten Kritikern aus; andererseits fanden wir unsere Einschätzung von jedem Militärfachmann bestätigt, der <313> über diese Frage geschrieben hat; und schließlich erweist es sich, daß die österreichischen Generale genauso urteilen. So viel zu diesem Punkt.

Wie sind nun, da der Krieg bereits begonnen hat, die jeweiligen Kräfte der Parteien und ihre Aussichten auf Erfolg einzuschätzen? Die Österreicher haben in Italien fünf Armeekorps, das 2., 3., 5., 7. und 8., die aus mindestens 26 Infanterieregimentern, jedes mit fünf Bataillonen (wovon eines ein Grenadierbataillon ist), und 26 leichten Bataillonen bestehen - im ganzen also 156 Bataillone oder 192.000 Mann. Ihre Streitkraft beträgt mit Kavallerie, Artillerie, Genie- und Garnisonstruppen bei allerniedrigster Schätzung 216.000 Mann. Wir wissen nicht, wie weit diese Zahl durch die Entsendung von neuen Grenzregimentern und Reservisten nach Italien überschritten wurde. Daß sie überschritten worden ist, kann kaum bezweifelt werden - doch wir wollen die niedrigste Veranschlagung von 216.000 Mann zugrunde legen. Von diesen genügen 56.000 Mann vollkommen, um alle Festungen, Forts und verschanzten Lager zu halten, die die Österreicher in der Lombardei zu halten wünschen, doch wir nehmen die größtmögliche Anzahl und sagen 66.000 Mann. Somit bleiben noch 150.000 Mann für die Invasion in Piemont. Die Telegramme geben die Stärke der österreichischen Invasionsarmee mit 120.000 an, aber auf diese Meldungen kann man sich natürlich nicht fest verlassen. Um jedoch sicher zu gehen, wollen wir annehmen, daß die Österreicher nicht mehr als 120.000 Mann für die Feldarmee zur Verfügung haben. Wie wird die Aufstellung der französischen und piemontesischen Streitkräfte erfolgen, um dieser kompakten Armee entgegentreten zu können?

Die piemontesische Armee ist zwischen Alessandria und Casale in einer Position konzentriert, die wir vor einigen Wochen beschrieben haben. Sie besteht aus fünf Infanteriedivisionen und einer Kavalleriedivision oder 45.000 Mann Linieninfanterie einschließlich Reserven, 6.000 Schützen und ungefähr 9.000 Mann Kavallerie und Artillerie - insgesamt 60.000 Mann, das Äußerste, was Piemont aufs Schlachtfeld werfen kann. Die restlichen 15.000 Mann werden für die Garnisonen benötigt. Die italienischen Freiwilligen sind noch nicht fähig, einem Feind auf offenem Felde entgegenzutreten. Wie wir bereits feststellten, kann die Position der Piemontesen aus strategischen Gründen nicht gut im Süden umgangen werden, jedoch im Norden ist eine Umgehung möglich; hier wird sie allerdings von der Sesia gedeckt, die etwa vier Meilen östlich von Casale in den Po mündet und die die Sardinier, wenn wir den telegraphischen Depeschen glauben schenken sollen, zu halten beabsichtigen.

<314> Es wäre vollkommen lächerlich, in dieser Position mit 60.000 Mann eine entscheidende Schlacht anzunehmen, wenn der Gegner in doppelter Stärke angreift. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird an diesem Fluß nur ein solcher Widerstand geleistet werden, der die Österreicher zwingt, ihre volle Stärke zu zeigen, und dann werden sich die Sardinier hinter Casale und den Po zurückziehen, wobei sie die direkte Straße nach Turin offen lassen. Das könnte am 29. oder 30. April geschehen sein, falls die englische Diplomatie nicht eine neue Verzögerung der militärischen Operationen verursacht hat. Am darauffolgenden Tage würden die Österreicher versuchen, den Po zu überqueren und, wenn ihnen das glücken sollte, die Sardinier über die Ebene nach Alessandria zu treiben. Dort könnten die Österreicher sie zunächst belassen; wenn erforderlich, wäre die österreichische Kolonne in der Lage, südlich des Po von Piacenza aus zu debouchieren, die Eisenbahnlinie zwischen Genua und Alessandria zu zerstören und jedes französische Korps anzugreifen, das vom ersteren zum letzteren Ort marschiert.

Doch was werden die Franzosen unserer Meinung nach in dieser Zeit unternehmen? Nun, sie bewegen sich in aller Eile auf den zukünftigen Kriegsschauplatz, das Tal des oberen Po, zu. Als die Nachricht von dem österreichischen Ultimatum Paris erreichte, umfaßten die für die Alpenarmee bestimmten Kräfte kaum mehr als vier Infanteriedivisionen bei Lyon und drei weitere, die sich entweder im Süden Frankreichs und auf Korsika oder im Stadium der Konzentration befanden. Eine weitere Division war von Afrika unterwegs. Diese acht Divisionen sollten vier Korps bilden. Als erste Reserve stand die Division der Linientruppen von Paris und als zweite Reserve die Garde zur Verfügung. Das würde im ganzen zwölf Linien- und zwei Gardedivisionen ergeben, was sieben Armeekorps entspricht. Die zwölf Liniendivisionen würden vor dem Eintreffen ihrer Beurlaubten jede etwa 10.000 Mann zählen, zusammen also 120.000 oder mit Kavallerie und Artillerie 135.000, und die Garde 30.000, was insgesamt 165.000 Mann ergibt. Mit den zurückbeorderten Beurlaubten wäre diese Armee insgesamt 200.000 Mann stark. Soweit gut. Es ist eine vorzügliche Armee, stark genug, um ein Land zu erobern, das zweimal so groß wie Italien ist. Doch wo konnte sie am oder um den 1. Mai sein, zu der Zeit wo man sie in den Ebenen von Piemont benötigte? Nun, das Korps von Mac-Mahon wurde etwa am 23. oder 24. April nach Genua geschickt; da es zuvor nicht konzentriert worden war, wird es Genua nicht vor dem 30. April verlassen können. Das Korps von Baraguay d'Hilliers ist in der Provence und sollte - einigen Berichten zufolge - über Nizza und den Col di Tenda vorrücken; nach anderen Berichten sollte es sich einschiffen und an der Mittelmeerküste landen. Das Korps von Canrobert sollte <315> über den Mont Cenis und Mont Genèvre nach Piemont gehen, und alle anderen Truppen sollten jeweils nach ihrem Eintreffen auf den gleichen Wegen folgen.

Nun ist sicher, daß keinerlei französische Truppen vor dem 26. April sardinisches Territorium betraten, daß drei Divisionen der Pariser Armee noch am 24. in Paris waren, von denen nur eine an diesem Tage mit der Eisenbahn nach Lyon aufbrach, und daß die Garde nicht vor dem 27. marschbereit war. Somit stehen also, vorausgesetzt, daß alle anderen oben aufgezählten Truppen an der Grenze konzentriert und marschbereit sind, acht Infanteriedivisionen oder 80.000 Mann zur Verfügung. Von diesen gehen 20.000 nach Genua; 20.000 unter Baraguay gehen, wenn überhaupt nach Piemont, über den Col di Tenda; die restlichen 40.000 unter Canrobert und Niel gehen über den Mont Cenis und Mont Genèvre. Das wird alles sein, was Louis-Napoleon bis zu der Zeit einsetzen kann, in der sein Beistand am dringendsten benötigt wird - d.h. die Zeit, wo die Österreicher vor Turin sein können. All dies befindet sich, nebenbei bemerkt, in völliger Übereinstimmung mit den Hinweisen, die wir vor Wochen zu dieser Frage gaben. Selbst mit Hilfe aller Eisenbahnen der Welt ist Louis-Napoleon nicht imstande, seine restlichen vier Divisionen der Pariser Armee so rechtzeitig heranzubringen, daß sie an den ersten Gefechten teilnehmen können, es sei denn, er gestattet den Österreichern, mit den Piemontesen volle zwei Wochen nach Belieben umzuspringen. Sogar dann, wenn er acht Divisionen über die zwei Gebirgspässe brächte, und der Feind an deren Vereinigungspunkt nur ebenso stark ist, bleibt ihm recht wenig Aussicht auf Erfolg. Doch ein Mann in seiner Position kann es aus politischen Gründen nicht zulassen, daß Piemont vierzehn Tage lang vom Feind überrannt wird, und darum wird er eine Schlacht annehmen müssen, sobald die Österreicher sie anbieten; und in dieser Schlacht muß er unter unvorteilhaften Umständen kämpfen. Je schneller die Franzosen über die Alpen kommen, um so besser ist es für die Österreicher.