Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 308-311.

Karl Marx/Friedrich Engels

Symptome des herannahenden Krieges -
Deutschland rüstet

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5631 vom 9. Mai 1859]

<308> London, 22. April 1859

Wenn die Studenten der deutschen Universitäten um 11 Uhr abends von den akademischen Obrigkeiten aus ihren verschiedenen Bierhäusern hinausgeworfen worden sind, treffen sich die einzelnen Verbindungen der Studentenkorps, wenn es das Wetter erlaubt, gewöhnlich auf dem Marktplatz. Dort beginnen die Mitglieder einer jeden Verbindung oder "Couleur" ein Spiel der "Sticheleien" mit Studenten einer anderen Couleur, dessen Ziel es ist, eines jener häufigen und nicht sehr gefährlichen Duelle herbeizuführen, die zu den Hauptmerkmalen des studentischen Lebens gehören. Bei diesen vorbereitenden Kontroversen auf dem Marktplatz besteht die große Kunst darin, seine Hiebe im Wortgefecht so geschickt auszuteilen, daß darin keine direkte oder formale Beleidigung enthalten ist, der Gegner aber doch aufs höchste gereizt wird, schließlich seine Geduld verliert und jene konventionelle, formale Beleidigung ausspricht, durch die man gezwungen wird, ihn zu fordern.

Dieses Vorspiel wurde jetzt einige Monate lang von Österreich und Frankreich praktiziert. Frankreich begann damit am 1. Januar dieses Jahres und Österreich blieb die Antwort nicht schuldig. Von Wort zu Wort, von Geste zu Geste kamen die Gegner einer Forderung näher; jedoch die diplomatische Etikette verlangt, daß ein solches Spiel bis zu Ende gespielt wird. Also gab es Vorschläge und Gegenvorschläge, Konzessionen, Bedingungen, Einschränkungen und Winkelzüge ohne Ende.

Die diplomatische Stichelei nahm zuletzt folgende Form an: Am 18. April erklärte Lord Derby im Oberhaus, daß England noch einen letzten Versuch unternehme, nach dessen Scheitern es seine Vermittlungsbemühungen einstellen würde. Schon drei Tage später, am 21 April, erklärte der "Moniteur", daß England den vier anderen Großmächten folgende Vorschläge gemacht <309> habe: 1. Vor dem Kongreß soll eine allgemeine und gleichzeitige Abrüstung erfolgen. 2. Die Abrüstung soll durch eine militärische oder zivile Kommission, unabhängig vom Kongreß, geregelt werden. (Diese Kommission soll sich aus sechs Mitgliedern zusammensetzen, davon ein Vertreter Sardinienes.) 3. Sobald die Kommission ihre Tätigkeit aufgenommen hat, soll der Kongreß zusammentreten und mit der Diskussion der politischen Fragen beginnen. 4. Die Vertreter der italienischen Staaten sollen vom Kongreß sofort nach seinem Zusammentritt eingeladen werden, ihre Sitze neben den Vertretern der Großmächte einzunehmen, genau wie auf dem Kongreß von 1821. Zur gleichen Zeit verkündete der "Moniteur", daß Frankreich, Rußland und Preußen ihre Zustimmung zu den Vorschlägen Englands gegeben haben, und ein Telegramm aus Turin erfreute die verschiedenen Börsen Europas mit der willkommenen Nachricht, daß Piemont von Louis-Napoleon veranlaßt worden wäre, dasselbe zu tun. Soweit sahen die Dinge ungewöhnlich friedlich aus, und es schien Hoffnung zu bestehen, daß alle Hindernisse für den Kongreß beseitigt werden. In Wirklichkeit war der Plan jedoch recht durchsichtig. Frankreich war noch nicht "in der Lage", den Kampf aufzunehmen. Österreich jedoch war es. Um keinen Zweifel an seinen wirklichen Absichten zu lassen, gab Louis-Napoleon durch seine offiziöse Presse bekannt, daß diese Abrüstung nur für Österreich und Piemont in Betracht komme, da Frankreich nicht abrüsten könne, weil es nicht gerüstet habe; zugleich faßte er in seiner offiziellen Zeitung, dem "Moniteur", seine Artikel so ab, daß er keinerlei Versprechen gab, Frankreich in das "Prinzip der Abrüstung" einzubeziehen. Sein nächster Schritt sollte offensichtlich sein, die offiziöse Behauptung, daß Frankreich nicht gerüstet habe, zu einer offiziellen zu machen, wodurch die Frage mit Erfolg auf das unabgrenzbare Gebiet militärischer Einzelheiten gelenkt worden wäre, auf dem es leicht ist, eine solche Kontroverse durch Behauptungen, Gegenbehauptungen, Beweisforderungen, Dementis, offizielle Erwiderungen und andere ähnliche Kniffe beinahe endlos fortzuführen. Inzwischen wäre es Louis-Napoleon möglich, in aller Ruhe seine Vorbereitungen zu vollenden, von denen er gemäß seinem neuen Prinzip sagen könnte, daß sie keine Aufrüstung darstellen, denn er fordert nicht Soldaten (die kann er jederzeit einberufen), sondern Material und neue Formationen. Er hat selbst erklärt, daß seine Kriegsvorbereitungen nicht vor dem kommenden 1. Juni abgeschlossen sein werden. Tatsächlich ist es so, daß er seine Vorbereitungen am 15. Mai beenden und seine beurlaubten Soldaten an diesem Tage einberufen müßte, damit sie mit Hilfe der Eisenbahnen bis zum 1. Juni bei ihren Truppenteilen angelangt sind. Man kann jedoch mit gutem Grund annehmen, daß infolge der kolossalen Unordnung, Vergeudung, Bestechung und Veruntreuung, die <310> nach dem vom Hof gegebenen guten Beispiel in der französischen Militärverwaltung herrschen, die Bereitstellung des notwendigen Materials nicht einmal zu dem ursprünglich festgesetzten Zeitpunkt völlig abgeschlossen sein wird. Wie es auch sei, soviel ist sicher, jede Woche der Verzögerung bedeutet ebensoviel Gewinn für Louis-Napoleon wie Verlust für Österreich, das infolge eines solchen diplomatischen Zwischenspiels nicht nur die durch seinen Rüstungsvorsprung erlangten militärischen Vorteile aufgeben, sondern auch von den gewaltigen Ausgaben erdrückt würde, die zur Aufrechterhaltung seiner gegenwärtigen Kriegsbereitschaft erforderlich wären.

In vollem Bewußtsein dieser Lage hat Österreich nicht nur den englischen Vorschlag abgelehnt, einen Kongreß unter den gleichen Bedingungen wie in Laibach abzuhalten, sondern auch das erste Signal zum Kriege ertönen lassen. Im Namen Österreichs hat General Gyulay dem Hof in Turin ein Ultimatum überreicht, in dem auf Abrüstung und Entlassung der Freiwilligen bestanden wird, wobei Piemont für eine Entscheidung nur drei Tage Bedenkzeit gegeben wurden, nach deren Ablauf der Krieg erklärt werden würde. Gleichzeitig sind zwei weitere Divisionen der österreichischen Armee in Stärke von 30.000 Mann an den Ticino beordert worden. In diplomatischer Hinsicht gelang es also Napoleon, Österreich an die Wand zu drücken, indem er es gezwungen hat, das sakramentale Wort - die Kriegserklärung - zuerst auszusprechen. Allerdings, wenn Österreich jetzt nicht durch drohende Noten aus London und St. Petersburg bewogen wird, seine Schritte zurückzunehmen, kann es passieren, daß der diplomatische Sieg Bonapartes ihm den Thron kostet.

Inzwischen hat das Kriegsfieber auch andere Staaten erfaßt. Die kleineren deutschen Mächte, die sich zu Recht durch die Vorbereitungen Louis-Napoleons bedroht fühlen, haben nationale Gefühle zum Ausdruck gebracht, wie man sie in Deutschland seit 1813 und 1814 nicht wieder vernommen hat. Sie handeln diesen Gefühlen entsprechend. Bayern und die angrenzenden Staaten organisieren neue Formationen, rufen Reserven und Landwehr <Landwehr: in der "N.-Y. D. T." deutsch> ein. Das siebente und achte Korps der deutschen Bundesarmee (von diesen Staaten gestellt), die offiziell eine Stärke von 66.000 Soldaten für den Felddienst und 33.000 Mann Reserve haben sollen, werden höchstwahrscheinlich mit 100.000 aktiven und 40.000 Reservesoldaten in den Krieg eintreten. Hannover und die anderen norddeutschen Staaten, die das zehnte Korps stellen, rüsten im gleichen Maße und befestigen gleichzeitig ihre Küsten gegen Angriffe von der See her. Preußen, dessen Kriegsausrüstung durch die Vorbereitungen, <311> die während der Mobilisierung von 1850 und danach getroffen worden waren, auf einen höheren Leistungsstand gebracht wurde als je zuvor, bereitet sich seit einiger Zeit in aller Ruhe auf eine Mobilisierung seiner Armee vor, bewaffnet seine Infanterie in zunehmendem Maße mit dem Zündnadelgewehr, versorgt gegenwärtig die gesamte Fußartillerie mit Zwölfpfündern und bringt gleichzeitig seine Festungen am Rhein in Kriegsbereitschaft. Es hat drei corps d'armée den Befehl erteilt, sich in Kriegsbereitschaft zu halten. Preußens Tätigkeit in der Bundesmilitärkommission in Frankfurt ist ebenfalls ein klarer Beweis dafür, daß es sich der Gefahr sehr wohl bewußt ist, die ihm von der Politik Louis-Napoleon droht. Und wenn seine Regierung sich noch immer zögernd verhält, die öffentliche Meinung ist völlig auf dem Posten. Louis-Napoleon wird ohne Zweifel feststellen müssen, daß Deutschland einmütig und entschlossen wie noch nie Frankreich gegenübersteht, und das zu einem Zeitpunkt, da es zwischen den Deutschen und den Franzosen weniger Feindschaft gibt als jemals zuvor.