Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 284-286.

Karl Marx

Eine historische Parallele

Geschrieben um den 18. März 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5598 vom 31. März 1859, Leitartikel]

<284> Als Louis-Napoleon, dem weniger glücklichen Marino Faliero von Venedig nacheifernd, durch Eidbruch und Verrat, durch mitternächtliche Verschwörung und die Verhaftung der unbestechlichen Mitglieder der Nationalversammlung aus ihren Betten heraus, unterstützt von einem überwältigenden Truppenaufgebot in den Straßen von Paris, sich des Thrones bemächtigte, da frohlockten die regierenden Fürsten und der Adel Europas, die großen Grundbesitzer, Fabrikanten, Rentiers und Börsenspekulanten fast ausnahmslos über seinen Erfolg als ihren eigenen. "Die Gewalttaten gehen auf seine Rechnung", so lachten sie sich allgemein ins Fäustchen, "aber die Früchte kommen uns zugute. Louis-Napoleon herrscht in den Tuilerien, während wir noch sicherer und despotischer auf unseren Ländereien, in unseren Fabriken, an der Börse und in unseren Kontoren herrschen. Nieder mit allem Sozialismus! Vive l'Empereur! <Es lebe der Kaiser!>"

Neben der militärischen Gewalt ließ der vom Glück begünstigte Usurpator all seine Künste spielen, um die Reichen und Mächtigen, die Geschäftstüchtigen und Spekulanten unter seiner Fahne zu sammeln. "Das Kaiserreich ist der Friede", verkündete er, und die Millionäre erhoben ihn beinahe zum Gott. "Unser sehr lieber Sohn in Jesu Christo", nannte ihn der Papst <Pius IX.> liebevoll, und der römisch-katholische Klerus huldigte ihm (pro tempore) mit allen Zeichen des Vertrauens und der Ergebenheit. Die Aktien stiegen, Banken des Crédit mobilier schossen wie Pilze aus der Erde und florierten; mit einem Federstrich wurden durch neue Eisenbahnen, neuen Sklavenhandel und neue Spekulationen aller Art Millionengewinne gemacht. Die britische Aristokratie kehrte der Vergangenheit den Rücken, zog den Hut und entbot dem neuen Bonaparte ihren Gruß. Dieser stattete Königin Victoria einen Familienbesuch ab und wurde von der Londoner City gefeiert. Die eng- <285> lische Börse trank der französischen zu, die Apostel der Börsenspekulation beglückwünschten sich und schüttelten sich die Hände, und man war davon überzeugt, daß das Goldene Kalb endlich doch zum allmächtigen Gott erhoben war und daß sein Aaron der neue französische Autokrat sei.

Sieben Jahre sind ins Land gegangen, und alles ist verändert Napoleon III. hat das Wort ausgesprochen, das nicht mehr ungesagt noch vergessen gemacht werden kann. Gleichgültig, ob er so blind in sein Verderben stürzt wie es sein Vorgänger in Spanien und Rußland tat, oder ob er durch das aufgebrachte, allgemeine Murren der Fürstlichkeiten und Bourgeoisien Europas dazu gezwungen wird, sich zeitweilig ihrem Willen zu beugen - der Zauber ist endgültig gebrochen. Sie wußten schon lange, daß er ein Halunke ist, aber sie haben ihn für einen nützlichen, fügsamen, gehorsamen, dankbaren Halunken gehalten; doch jetzt sehen sie ihren Fehler ein und bereuen ihn. Die ganze Zeit über hat er sie ausgenutzt, während sie ihn auszunutzen glaubten. Er liebt sie genauso wie er sein Essen oder seinen Wein liebt. Bisher haben sie ihm schon in gewisser Weise gedient, und nun müssen sie ihm auch in anderer Weise dienen oder seine Rache herausfordern. Wenn künftighin "das Kaiserreich der Friede ist", so ist es ein Friede am Mincio oder an der Donau - ein Friede, in dem seine Adler im Triumph am Po und an der Etsch, wenn nicht gar am Rhein und auch an der Elbe prunken; es ist ein Friede mit der eisernen Krone auf dem kaiserlichen Haupt, mit Italien als einer französischen Satrapie und mit Großbritannien, Preußen und Österreich als bloßen Satelliten, die um das Zentralgestirn Frankreich, das Reich Karls des Großen, kreisen und von ihm ihr Licht empfangen,

Natürlich wird in den königlichen Palästen mit den Zähnen geknirscht, aber nicht weniger in den Häusern der Bankiers und der Handelsfürsten. Denn das Jahr 1859 begann unter günstigen Anzeichen, die eine Restauration der goldenen Tage von 1836 und 1856 erwarten ließen. Die langanhaltende Stagnation der Industrie hatte die Vorräte an Metallen, Waren und Fabrikaten erschöpft. Die zahlreichen Bankrotte hatten die Atmosphäre des Handels merklich gereinigt. Schiffe bekamen wieder einen Marktwert, Lagerhäuser sollten wieder gebaut und gefüllt werden. Aktien stiegen, und die Millionäre waren in ausgezeichneter Stimmung, kurz, nie hatte es glänzendere Handelsaussichten, nie einen so heiteren, glückverkündenden Himmel gegeben.

Und all das wird durch ein Wort verändert, und dieses Wort wird gesprochen vom Helden des coup d'état - dem Erkorenen des Dezembers - dem Retter der Gesellschaft. Es wird mutwillig, unverfroren, mit klarem Vorbedacht gegenüber Herrn Hübner, dem österreichischen Gesandten, geäußert und deutet unverkennbar auf das beschlossene Vorhaben hin, mit Franz Joseph <286> Streit zu suchen oder ihn durch Einschüchterung verhängnisvoller zu demütigen, als es drei verlorene Schlachten vermöchten. Obwohl offenbar dazu bestimmt, eine unmittelbare Wirkung an der Börse im Interesse spekulativer Börsengeschäfte auszulösen, verriet es den festen Vorsatz, die Landkarte Europas neu zu gestalten. Österreich müsse sich aus all jenen nominell unabhängigen italienischen Staaten zurückziehen, die es jetzt, kraft der Verträge mit ihren gefügigen Herrschern, praktisch besetzt hält, oder Frankreich und Sardinien würden Mailand besetzen und Mantua mit solch einer Armee bedrohen, wie sie General Bonaparte niemals in Italien befehligt hatte. Der Papst müsse die Mißbräuche der klerikalen Herrschaft in seinen Staaten beseitigen - Mißbräuche, die bisher von französischen Waffen verteidigt wurden - oder es den kleinen Despoten von Toskana, Parma, Modena usw. in ihrem überstürzten Wettrennen, Schutz in Wien zu finden, gleichtun. Die Rothschilds stöhnen über den Verlust ihrer elf Millionen Dollar, den sie durch die infolge der Drohung gegenüber Hübner eingetretene Entwertung von Aktien erlitten, und sind absolut untröstlich. Die Fabrikanten und Händler erkennen voller Trauer, daß die erhoffte Ernte von 1859 wahrscheinlich einer "Todesernte" Platz machen wird. Überall beklemmen Befürchtungen, Unzufriedenheit und Unwille die Herzen derer, auf denen der Thron des Dezembermannes noch vor wenigen Monaten so sicher ruhte.

Und das gestürzte, zerbrochene Götzenbild kann nie wieder auf sein Postament gesetzt werden. Louis-Napoleon kann vor dem Sturm, den er entfacht hat, zwar zurückweichen und wieder den Segen des Papstes und die Schmeicheleien der britischen Königin entgegennehmen, aber beides werden nur Lippenbekenntnisse sein. Jetzt erkennen auch sie, was die Völker schon lange wissen: Er ist ein gewissenloser Spieler, ein verwegener Abenteurer, der ebenso gut mit königlichen Gebeinen wie mit allen anderen bei dem Spiel würfeln würde, daß ihm Gewinn verspricht. Sie wissen, daß er, nachdem er wie Macbeth durch Menschenblut zur Krone watete, es leichter findet, auf diesem Wege fortzuschreiten, als zu Frieden und Redlichkeit zurückzukehren. Von der Stunde an, zu der er Österreich herausforderte, haben sich die Potentaten von Louis Napoleon zurückgezogen. Der junge Kaiser von Rußland mag seine Gründe dafür haben, noch immer als sein Freund zu erscheinen, aber dieser Schein trügt. Der Napoleon I. von 1813 war der Prototyp für Napoleon III von 1859. Und dieser wird sich wahrscheinlich ebenso tief in sein Verhängnis stürzen wie jener.