Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 280-283.

Karl Marx

Die Kriegsaussichten in Preußen

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5598 vom 31. März 1859]

<280> Berlin, 15. März 1859

Hier wird der Krieg als unvermeidbar betrachtet, aber die Rolle Preußens bei der bevorstehenden Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Österreich ist Gegenstand allgemeiner Diskussion; weder die Regierung noch die Öffentlichkeit scheinen zu einer festen Meinung gelangt zu sein. Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß die einzigen kriegerischen Petitionen, die nach Berlin geschickt werden, nicht aus Preußen selbst, sondern aus Köln, der Hauptstadt der Rheinprovinz, kommen. Man sollte jedoch diesen Petitionen nicht allzuviel Bedeutung beimessen, da sie offensichtlich das Werk der katholischen Partei sind, die sich in Deutschland ebenso wie in Frankreich und Belgien natürlicherweise mit Österreich eins fühlt. In einer Beziehung allerdings ist ganz Deutschland von einer außergewöhnlichen Einheitlichkeit des Gefühls durchdrungen. Niemand erhebt seine Stimme zugunsten von Louis-Napoleon, niemand empfindet Sympathie für den "Befreier", im Gegenteil, eine wahre Sturzflut von Haß und Verachtung ergießt sich täglich gegen ihn. Die katholische Partei betrachtet ihn als einen Rebellen gegen den Papst und verflucht natürlich das ruchlose Schwert, das gegen eine Macht gerichtet werden soll, die durch ihr Konkordat mit Rom einen großen Teil Europas von neuem dem Päpstlichen Stuhl unterworfen hat. Die feudale Partei, die vorgibt, den französischen Usurpator zu verabscheuen, verabscheut in Wirklichkeit die französische Nation und bildet sich ein, daß die schrecklichen Neuerungen, die aus dem Lande Voltaires und Jean-Jacques Rousseaus eingeführt wurden, durch einen ordentlichen Krieg hinweggefegt werden könnten. Die kommerzielle und industrielle Bourgeoisie, die Louis Bonaparte als den großen <281> "Retter der Ordnung, des Eigentums, der Religion und der Familie" zu preisen pflegte, bringt nun Anklage über Anklage gegen den ruchlosen Friedensbrecher vor, der, anstatt sich damit zu begnügen, die überschäumenden Kräfte Frankreichs niederzuhalten und die sozialistischen Desperados durch heilsame Beschäftigung in Lambessa und Cayenne zum Schweigen zu bringen, auf die ausgefallene Idee gekommen ist, die Aktien zum Sinken zu bringen, dadurch den regelmäßigen Geschäftsgang zu stören und die revolutionären Leidenschaften erneut zu wecken. Die große Masse des Volkes schließlich ist außerordentlich froh, daß es ihr nach Jahren erzwungenen Schweigens gestattet ist, ihrem Haß gegen den Mann Ausdruck zu verleihen, dem sie die Hauptschuld an den Fehlschlägen der Revolution von 1848/49 zuschreibt. Grimmige Erinnerungen an die napoleonischen Kriege und der heimliche Argwohn, daß ein Krieg gegen Österreich einen versteckten Schritt gegen Deutschland darstellt, genügen völlig, um die Philippika gegen Bonaparte, die so vielen verschiedenen Motiven entspringt, mit dem Anschein eines gemeinsamen Nationalgefühls zu umgeben. Die dummen Lügen im "Moniteur", die frivolen Pamphlete, die von den literarischen Condottieri des Kaisers verfaßt wurden, und die offensichtlichen Anzeichen von Wankelmut, von Besorgnis und sogar von Furcht seitens des Fuchses, der gezwungen ist, den Löwen zu spielen, haben ihr übriges dazu getan, um den allgemeinen Haß in allgemeine Verachtung zu verwandeln.

Es wäre jedoch der größte Fehler, anzunehmen, daß ganz Deutschland auf der Seite Österreichs steht, weil ganz Deutschland gegen Bonaparte aufgebracht ist. Als erstes brauche ich Ihnen wohl nur den eingefleischten und unvermeidlichen Antagonismus zwischen der österreichischen und der preußischen Regierung ins Gedächtnis zu rufen - ein Antagonismus, der gewiß nicht durch die Erinnerungen an den Warschauer Kongreß, an die unblutige Schlacht von Bronzell, an den bewaffneten Spaziergang Österreichs nach Hamburg und Schleswig-Holstein oder vielleicht an den Russisch-Türkischen Krieg gemildert wird. Sie kennen die vorsichtige, lauwarme Tendenz in den letzten Manifestationen der preußischen Regierung. Sie bringen zum Ausdruck, daß Preußen als europäische Macht in der Tat keine Veranlassung sieht, sich für die eine oder andere Partei zu entscheiden, und als deutsche Macht behält sie sich das Recht vor, zu untersuchen, inwieweit die österreichischen Ansprüche in Italien mit den wahren deutschen Interessen im Einklang stehen. Preußen ging sogar noch weiter. Es erklärte, daß Österreichs Separatverträge mit Parma, Modena, Toskana und Neapel und folglich die erörterte Aufhebung dieser Verträge von einem europäischen Gesichtspunkt aus betrachtet werden müßten, also gar nicht im Bereich des Deutschen <282> Bundes lägen. Es ergriff in der Donaufrage offen gegen Österreich Partei, es hat seinen Bevollmächtigten <Bismark> beim Deutschen Bundestag in Frankfurt abberufen, weil er offenbar zu entschieden für die Interessen Österreichs eintrat. Schließlich ist Preußen, um dem Argwohn zu begegnen, daß es unpatriotisch handle, in die Fußtapfen der deutschen Kleinstaaten getreten und hat den Export von Pferden verboten. Um diesem Verbot den antifranzösischen Stachel zu nehmen, wurde es jedoch auf den ganzen Zollverein ausgedehnt, so daß es ebenso gegen Österreich wie gegen Frankreich gerichtet ist. Preußen ist immer noch die gleiche Macht, die den Separatfrieden von Basel abschloß und die 1805 Haugwitz mit zwei verschiedenen Depeschen ins Lager Napoleons schickte; die eine sollte übergeben werden, wenn die Schlacht bei Austerlitz für Napoleon ungünstig verliefe, die andere enthielt servile Glückwünsche für den fremden Eindringling. Abgesehen von der traditionellen Familienpolitik, auf der das Haus der Hohenzollern beharrt, wird es von Rußland eingeschüchtert, von dem es weiß, daß es mit Bonaparte geheime Beziehungen unterhält und ihn auch zu seiner verhängnisvollen Erklärung am Neujahrstag getrieben hat. Wenn ein Blatt wie die "Neue Preußische Zeitung" für den König von Piemont gegen Franz Joseph eintritt, bedarf es keiner großen Sehergabe, um zu erraten, aus welcher Richtung der Wind weht. Um alle Zweifel zu beseitigen, hat Herr von Manteuffel ein anonymes Pamphlet veröffentlicht, in dem er eine russisch-französische gegen eine österreichisch-englische Allianz empfiehlt.

Aber die wesentliche Frage dabei ist nicht so sehr, welche Absichten die Regierung verfolgt, sondern auf welcher Seite die Sympathien des Volkes sind. Nun muß ich Ihnen sagen, daß außer der katholischen Partei, der feudalen Partei und einigen stupiden Überresten der teutonischen Polterer von 1813 bis 1815 das deutsche Volk im allgemeinen und die Bevölkerung Norddeutschlands im besonderen sich in einem großen Dilemma befinden. Während sie entschieden für Italien gegen Österreich Partei ergreifen, können sie nicht umhin, gegen Bonaparte für Österreich Partei zu ergreifen. Natürlich, wenn wir uns an die Augsburger "Allgemeine Zeitung" hielten, könnte man zu der Ansicht gelangen, daß Österreich das Idol jedes deutschen Herzens sei. Die von dieser Zeitung in die Welt gesetzte Theorie ist, kurz gesagt, folgende: Jede Rasse in Europa, mit Ausnahme der Deutschen, steht vor dem Zusammenbruch. Frankreich ist am Absterben; Italien muß sich außerordentlich begnadet vorkommen, weil es in eine deutsche Kaserne verwandelt wird; die slawischen Rassen ermangeln der ethischen Qualitäten, um sich selbst <283> regieren zu können, und England ist durch den Handel korrumpiert. So bleibt nur das solide Deutschland übrig - und Österreich ist der europäische Repräsentant Deutschlands. Mit der einen Hand hält es Italien, mit der anderen die Slawen und Magyaren unter dem veredelnden Einfluß der deutschen Sittlichkeit <Sittlichkeit: in der "N.-Y. D. T." deutsch> (es ist unmöglich, dieses Wort zu übersetzen). Österreich schützt das Vaterland gegen die russische Invasion, indem es Galizien, Ungarn, die dalmatinische Küste und Mähren besetzt hält und die Donaufürstentümer zu okkupieren beabsichtigt, und verteidigt Deutschland, dieses Herz der menschlichen Zivilisation, gegen das besudelnde Gift der französischen Demoralisation, Frivolität und Ehrsucht, indem es Italien in seiner Gewalt hält. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß diese Theorie außerhalb der Grenzen Österreichs von niemandem begrüßt wurde mit Ausnahme von einigen bayrischen Krautjunkern < Krautjunkern: in der "N.-Y. D. T." deutsch>, deren Anspruch, die deutsche Zivilisation zu repräsentieren, ebenso wohlfundiert ist, wie jener der alten Böotier , die Repräsentanten des griechischen Genius zu sein. Aber es gab und gibt auch gegenwärtig eine andere, prosaischere Ansicht über die Angelegenheit, die aus der gleichen Quelle stammt. Es wird gesagt, daß der Rhein am Po verteidigt werden muß und daß die österreichischen Positionen an Po, Etsch und Mincio die natürlichen militärischen Grenzen Deutschlands gegen eine französische Invasion bilden. Als diese Doktrin 1848 von General Radowitz in der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt vorgebracht wurde, setzte sie sich durch und bewegte die Versammlung dazu, sich auf die Seite Österreichs gegen Italien zu stellen, aber die Entscheidung jenes sogenannten revolutionären Parlaments, das sich erlauben konnte, einen österreichischen Erzherzog mit der Exekutivgewalt auszustatten, ist schon seit langem verurteilt worden. Die Deutschen beginnen zu begreifen, daß sie durch ein quid pro quo irregeführt wurden, daß die zur Verteidigung Österreichs benötigten militärischen Positionen keineswegs zur Verteidigung Deutschlands gebraucht werden, und daß die Franzosen mit dem gleichen und sogar noch größerem Recht den Rhein als ihre natürliche militärische Grenze beanspruchen können wie die Deutschen den Po, den Mincio und die Etsch.