Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 215-219.

1. Korrektur
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Die neue britische Reformbill

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5586 vom 17. März 1859]

<215> London, 1. März 1859

Am Abend des 28. Februar weihte Herr Disraeli das Unterhaus in die Geheimnisse der Reformbill der Regierung ein. Diese Bill kann man auf Grund der Herabsetzung des Wahlzensus in den Landgemeinden von 50 Pfd.St. auf 10 Pfd.St. kurz als Bill des Herrn Locke King bezeichnen, gemäßigt durch die Entziehung des Wahlrechts für die in den Städten wohnenden 40-Shilling-Freeholders, soweit es ihre Stimmabgabe in den Landgemeinden betrifft, und ausgeschmückt durch einen verwickelten Mischmasch von willkürlichen Wahlrechtstiteln, die einerseits ganz und gar nichtig sind und andererseits lediglich die bestehenden Klassenmonopole stärken würden. So wichtige Fragen wie die Einbeziehung der Mehrheit des Volkes in den Kreis der Wahlberechtigten, die Ausgleichung der Wahlbezirke und der Schutz der Stimmabgabe durch geheime Abstimmung sind überhaupt nicht berührt worden. Wie zutreffend meire Charakterisierung der Bill ist, kann aus der folgenden Zusammenfassung ihrer wesentlichen Details entnommen werden: Das auf der Höhe der Pacht beruhende Wahlrecht wird für die ländlichen und städtischen Wahlbezirke auf eine einheitliche Norm reduziert, d.h., mit anderen Worten, die Chandos-Klausel der Reformbill von 1832, die in den ländlichen Wahlbezirken nur Pächtern das Wahlrecht gab, die mindestens 50 Pfd.St. Pacht zahlten, soll abgeschafft werden. Das auf der Höhe der Pacht beruhende Wahlrecht wird auf alle Arten von Grundbesitz ausgedehnt, gleichgültig ob zu dem Besitz ein Haus gehört oder nicht. Die Einführung des 10-Pfd.-St.-Zensus für das Wahlrecht in den ländlichen Wahlbezirken würde nach Herrn Newmarchs Berechnung die Zahl der Wähler in den Landgemeinden um 103.000 erhöhen, während Herr Disraeli <216> schätzt, daß die Wählerschaft in den Landgemeinden um 200.000 Stimmen zunehmen wird. Andererseits bliebe das 40-Shilling-Freehold-Wahlrecht nominell auf seiner bisherigen Grundlage bestehen, jedoch die 40-Shilling Freeholders, die in Städten wohnen und bisher ihr Wahlrecht auf Grund ihres Eigentums in den Landgemeinden ausgeübt haben, würden dieses Privileg verlieren und gezwungen sein, in den städtischen Wahlbezirken, in denen sie wohnen, ihre Stimme abzugeben. Auf diese Weise würden etwa 100.000 Stimmen von den ländlichen auf die städtischen Wahlbezirke übergehen, während etwa 40.000 oder noch mehr solcher Wähler, die nicht in den Landgemeinden ansässig sind, ihres Wahlrechts überhaupt verlustig gingen. Das ist der Kern des neuen Plans. Er würde der Wählerschaft der Landgemeinden mit der einen Hand entziehen, was er mit der anderen hinzufügt, und dafür Sorge tragen, daß jeglicher Einfluß der Städte beseitigt wird, den diese seit der Reformbill von 1832 durch den Kauf von 40-Shilling-Freehold auf die Wahlen in den Landgemeinden ausgeübt haben. Herr Disraeli hat sich, als er die Bill einbrachte, in einer langen Rede zu zeigen bemüht, daß in den letzten fünfzehn Jahren von den Städtern derart viele 40-Shilling-Freeholds geschaffen worden sind, daß die Zahl der Wähler in den ländlichen Wahlbezirken, die

"nicht in der Landgemeinde wohnen, jetzt die Zahl derer überschreitet, die auf Grund der Pachtklausel wählen", so daß am Wahltag "einige große Städte ihre Scharen mit der Eisenbahn aufs Land ergießen und durch gewisse in der Stadt getroffene Übereinkommen die Personen überstimmen, die in den Landgemeinden wohnen".

Auf die Darstellung dieses Landedelmannes gab Herr Bright folgende schlagende Antwort:

"Ihr Zweck ist es, die ländlichen Wahlbezirke exklusiver zu machen. Sie scheinen nichts mehr zu fürchten als eine gute Wählerschaft, besonders in den Landgemeinden. Es ist eine sehr bemerkenswerte Tatsache, daß in einem großen Teile Englands seit beträchtlicher Zeit die Wählerschaft in den ländlichen Wahlbezirken nicht zugenommen hat, sondern in vielen von ihnen geringer geworden ist. Herr Newmarch hat gezeigt, daß es elf ländliche Wahlbezirke gibt, in denen im Zeitraum von fünfzehn Jahren, von 1837 bis 1852, die Wählerschaft sich um nicht weniger als 2.000 Wähler verringert hat; insgesamt wuchs die Wählerschaft der ländlichen Wahlbezirke von England und Wales in diesen fünfzehn Jahren nur um 36.000, wovon mehr als 17.000 auf Lancashire, Cheshire und den West Riding von Yorkshire entfallen. Im übrigen England sind die Schwierigkeiten, freies Grundeigentum zu kaufen, und der Umfang, in dem sich die Pachtländereien vergrößern, derart, daß die Wählerschaft von fast allen ländlichen Wahlbezirken die gleiche geblieben ist oder sich schlechterdings verringert hat."

<217> Wenn wir nun von den ländlichen zu den städtischen Wahlbezirken übergehen, kommen wir zu den neuen willkürlichen Wahlrechtstiteln, die zum Teil von Lord John Russells verunglückten Entwürfen von 1852 und 1854 abstammen und zum Teil von dem Genius herrühren, der die verwickelten Verworrenheiten der unglückseligen Indienbill von Lord Ellenborough ausgeheckt hat. Da gibt es zuerst einige sogenannte Wahlberechtigungen durch den Bildungsstand, die, wie Herr Disraeli ironisch bemerkte, unabhängig von wissenschaftlichen Kenntnissen vorwegnehmen, daß in die Bildung der Klassen, die sie betreffen, "ein beträchtliches Kapital investiert ist" und diese deshalb zur allgemeinen Kategorie der Wahlberechtigten auf Grund des Vermögens gezählt werden können. Das Stimmrecht soll demzufolge den akademischen Absolventen, der Geistlichkeit der anglikanischen Kirche, den Geistlichen aller anderen Glaubensgemeinschaften, den Rechtsanwälten, Advokaten und Notaren, den Anwälten und Prokuratoren, den Ärzten, den Lehrern mit Lehrbefähigungs-Zertifikat, mit einem Wort, den Angehörigen der verschiedenen freien Berufe oder, wie es die Franzosen zur Zeit des Herrn Guizot zu nennen pflegten, den "Kapazitäten" verliehen werden. Da der größere Teil dieser "Kapazitäten" schon als 10-Pfd.-St.-Leaseholders Wahlrecht besitzt, ist anzunehmen, daß sich dadurch die Zahl der Wahlberechtigten nicht merklich erhöhen würde, wohl aber der klerikale Einfluß. Andere neue Wahlberechtigungen sind vorgesehen für 1. Mieter oder Besitzer jedes Hauses, ob möbliert oder unmöbliert, das eine Miete von 8 sh. wöchentlich oder 20 Pfd.St, jährlich bringt; 2. Personen, die durch Anlage persönlichen Vermögens in Staatspapieren oder Annuitäten, Aktien der Ostindischen Kompanie oder Bankaktien ein jährliches Einkommen von 20 Pfd.St. erzielen bzw. eine Pension oder ein Gnadengehalt von 20 Pfd.St. jährlich für geleistete Dienste in irgendeiner Abteilung der Armee, der Marine oder der Zivilverwaltung erhalten und dort keine Tätigkeit mehr ausüben; 3. Inhaber eines Guthabens in Höhe von 60 Pfd.St. bei einer Sparkasse.

Auf den ersten Blick ist ersichtlich, daß alle diese neuen Wahlberechtigungen, während sie einige neue Gruppen der Mittelklasse zulassen, zu dem ausdrücklichen Zweck ersonnen sind, die Arbeiterklasse auszuschließen und sie in dem jetzigen Zustand des politischen "Parias" zu halten, wie Herr Disraeli indiskreterweise die Nichtwahlberechtigten bezeichnete. Es kann als ein neuer Zug der im Unterhaus erhobenen Opposition angesehen werden, daß alle Gegner des Ministeriums, von Herrn John Bright bis zu Lord John Russell, auf diesen Punkt als die am meisten zu tadelnde Bestimmung der neuen Reformbill besonderen Nachdruck legten. Herr Disraeli selbst stellte fest,

<218> "als 1831 die Reformbill eingebracht wurde, war das allgemein anerkannte Ziel, dadurch den Mittelklassen von England eine rechtmäßige Position in der Legislative zu geben".

"Gut, Sir", sagte Lord John Russell, "als ich den Grundsatz der Endgültigkeit aufgab, habe ich das getan aus dem Grund, der mir der einzige zu sein schien, um bei einer so umfassenden und komplizierten Festlegung wie dieser einzugreifen, nämlich die Tatsache, daß ein großer Personenkreis ausgeschlossen war und daß diese Personen den arbeitenden Kassen dieses Landes angehörten, die sehr wohl fähig sind, das Wahlrecht auszuüben."

"Die Bill von 1832", sagte Herr Roebuck, "sollte der Mittelklasse Einfluß verschaffen. Ohne die arbeitenden Klassen wäre damals keine Reformbill zustande gekommen. Sie verhielten sich in einer Art und Weise, die ich niemals vergessen werde und die die Mittelklassen von England nicht vergessen sollten. Und ich appelliere jetzt im Namen der arbeitenden Klassen dieses Landes an die Mittelklassen."

"Ich", sagte Herr Bright, "würde die arbeitenden Klassen dieses Landes aufs äußerste verachten, ja, nicht nur verachten, sondern jede Hoffnung für sie aufgeben, wenn ich der Ansicht wäre, sie würden sich mit einem solchen Ausschluß zufriedengeben."

Der Ausschluß der Arbeiterklasse, verbunden mit der Entziehung des Wahlrechts in den ländlichen Wahlbezirken für die Stadtbewohner, die dort Freehold besitzen - das ist der Schlachtruf, unter dem die neue Reformbill und ihre Verfasser angegriffen werden, zu einer Zeit, da die Uneinigkeit im ministeriellen Lager, die durch die vorgesehene Aufhebung der Chandos-Klausel hervorgerufen wurde und durch den Austritt der Herren Walpole und Henley aus dem Kabinett bereits sichtbaren Ausdruck fand, keinesfalls dazu beiträgt, das Verteidigungsvermögen der Regierung zu stärken.

Was die anderen Klauseln der Bill anbelangt, so sind sie verhältnismäßig unbedeutend. Keine Wahlgemeinde, die bisher einen Vertreter nominierte, soll dieses Recht verlieren, aber es sollen 15 neue Parlamentssitze geschaffen werden, von denen der West Riding von Yorkshire 4, Süd-Lancashire 2 und Middlessex 2 erhalten wird, während 7 neue Abgeordnete von den folgenden Städten, die in letzter Zeit stark angewachsen sind, entsandt werden können: Hartlepool, Birkenhead, West Bromwich und Wednesbury gemeinsam, Burnley, Stalybridge, Croydon und Gravesend. Um für diese zusätzlichen Parlamentsmitglieder Platz zu schaffen, sollen 15 Wahlbezirke, deren Bevölkerungszahl weniger als 6.000 beträgt, statt durch jeweils zwei Mitglieder nur durch ein Mitglied im Unterhaus vertreten sein. Das also sind die Formen, in denen die "Ausgleichung" der Wahlbezirke durchgeführt werden soll.

Wahllokale sollen in jeder Gemeinde oder in Gruppen von Gemeinden geschaffen werden, die nicht weniger als 200 Wähler umfassen: die zusätz- <219> lichen Wahllokale sollen auf Kosten der ländlichen Wahlbezirke eingerichtet werden. Als eine Art Kompromiß mit den Befürwortern der geheimen Stimmabgabe ist vorgesehen, daß ein Wähler, der seine Stimme nickt öffentlich abgeben möchte, seine Zuflucht zu einem Stimmzettel nehmen kann. Dieser wird dem Wähler auf Anforderung zugesandt, von demselben in Gegenwart von zwei Zeugen, von denen einer ein Hausbesitzer sein muß, unterschrieben und in einem eingeschriebenen Brief an den Wahlkommissar zurückgesandt. Der Brief wird dann am Wahltag von einem besonders dazu Bevollmächtigten geöffnet. Schließlich sollen einige Verbesserungen hinsichtlich der Registrierung von Wählern in den ländlichen Wahlbezirken eingeführt werden. Es gibt keine einzige Londoner Zeitung mit Ausnahme der "Times" und des Regierungsorgans, die dieser Bill irgendeine Aussicht auf Erfolg zuspricht.