Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 210-214.

1. Korrektur
Erstellt am 04.08.1998

Friedrich Engels

Die Erfolgsaussichten des bevorstehenden Krieges

Geschrieben Ende Februar 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5586 vom 17. März 1859, Leitartikel]

<210> Die eifrigsten Freunde des Friedens in Europa beginnen die letzte schwache Hoffnung auf die Erhaltung des Friedens aufzugeben, und statt die Möglichkeit einer friedlichen Regelung zu erörtern, diskutieren sie jetzt darüber, welche Aussichten auf Erfolg die künftigen kriegführenden Parteien haben. Es sei uns daher gestattet, unsere Betrachtungen über die militärische Bedeutung des Po-Tales und über die Chancen, die es für die Manöver der sich gegenüberstehen den französisch-sardinischen und österreichischen Armeen bietet, fortzusetzen.

Wir haben bereits die starke Position der Österreicher am Mincio und an der Etsch beschrieben. Wenden wir uns jetzt der anderen Seite zu. Der Po, der hauptsächlich von Westen nach Osten verläuft, macht eine beachtliche Biegung und fließt in einer Länge von ungefähr sechzehn Meilen von Nordwest nach Südost, wonach er seine östliche Richtung wieder aufnimmt. Diese Biegung befindet sich auf dem Gebiet Sardiniens, ungefähr 25 Meilen von der österreichischen Grenze entfernt. Am nördlichen Flußbogen des Po mündet die Sesia, die von den Alpen nach Süden fließt, und am südlichen der Tanaro, der von den Apenninen nach Norden fließt. In diese beiden Flüsse münden kurz vor ihrer Vereinigung mit dem Hauptstrom wiederum zahlreiche kleinere Flüsse, so daß das westlich von ihnen gelegene Land auf der Karte das Schauspiel eines ausgedehnten Systems von Flußlinien bietet, die alle vom Amphitheater der Berge, die Piemont auf drei Seiten umgehen, zu einem gemeinsamen Zentrum streben, was den Radien gleicht, die von der Peripherie eines Kreises zu seinem Mittelpunkt gezogen werden. Das ist die starke Verteidigungsposition von Piemont und wurde als solche von Napoleon genau erkannt, jedoch sowohl von ihm als auch von der sardinischen Regierung, die auf die französische Herrschaft folgte, vernachlässigt; erst <211> nach den Niederlagen von 1849 wurde sie zur Verteidigung ausgebaut. Aber auch dann wurden die Verteidigungswerke so langsam und spärlich errichtet, daß sie gegenwärtig unvollständig sind und Befestigungen, die eine gemauerte Eskarpe und Kontereskarpe haben müßten, jetzt als einfache Feldschanzen errichtet werden, um im Frühjahr zur Verteidigung bereit zu sein.

Am Po, etwa vier Meilen oberhalb der Mündung der Sesia, liegt die Stadt Casale, die befestigt war und wird, um eine Stütze für den nördlichen oder linken Flügel der Position zu bilden. Am Zusammenfluß des Tanaro und der Bormida, acht Meilen oberhalb der Mündung des ersteren in den Po, liegt Alessandria, die stärkste Festung von Piemont, die jetzt zum Mittelpunkt eines großen verschanzten Lagers gemacht wird, das den südlichen oder rechten Flügel der Position sichert. Die Entfernung zwischen den beiden Städten beträgt sechzehn Meilen, und der Po fließt vor der sie verbindenden Straße in einer Entfernung von etwa fünf bis sechs Meilen. Der linke Flügel einer Armee, die sich in dieser Stellung befindet, wird erstens von der Sesia und zweitens von Casale und dem Po gedeckt, Der rechte Flügel wird von Alessandria und den Flüssen Orba, Bormida, Belbo und Tanaro, die alle dicht bei Alessandria ineinander münden, gedeckt. Die Front wird durch die Biegung des Po gedeckt.

Wenn Sardinien seine Armee in Stärke von 80.000 bis 90.000 Mann in dieser Stellung konzentriert, wird es ungefähr 50.000 Mann für aktive Operationen zur Verfügung haben, die auch bereit sind, jeder Armee in die Flanken zu fallen, die versuchen sollte, die Position über Novi und Acqui im Süden oder über Vercelli im Norden zu umgehen. Turin kann daher durch diese Position als gut gedeckt angesehen werden, besonders, da diese Hauptstadt eine Zitadelle hat, die eine regelrechte Belagerung erfordert, bevor sie genommen werden kann, und keine Armee, die eine derartige Position umgeht, könnte eine Belagerung durchführen, ohne zuerst die piemontesische Armee aus ihrem verschanzten Lager vertrieben zu haben. Die Position von Casale und Alessandria hat jedoch einen schwachen Punkt: sie besitzt keine Tiefe und ihr Rücken ist völlig ungedeckt. Die Österreicher haben zwischen Mincio und Etsch ein Quadrat, das von vier Festungen, an jeder Ecke eine, gedeckt wird. Die Piemontesen haben an Po und Bormida eine Linie mit zwei Festungen, an jeder Flanke eine, und eine gut zu verteidigende Front, aber ihr Rücken ist völlig offen. Zwar würde es gewagt und verhältnismäßig zwecklos sein, Alessandria im Süden zu umgehen, doch Casale kann im Norden umgangen werden, wenn nicht über Vercelli, so zumindest über Sesto Calende, Novara, Biella, Santhia und Crescentino; und wenn eine überlegene Armee den Po oberhalb von Casale überquert und die Piemontesen von hinten <212> angreift, sind diese sofort gezwungen, die Vorteile einer stark verschanzten Position aufzugeben und auf offenem Felde zu kämpfen. Es würde das Gegenstück zu Marengo sein, nur auf der anderen Seite der Bormida.

Nachdem wir die zwei Operationsbasen im Po-Bassin beschrieben haben, die Basis der Österreicher in einem früheren Artikel, die der Franzosen und Piemontesen in den obigen Bemerkungen, wollen wir nun erörtern, welcher Gebrauch von ihnen gemacht werden kann. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß der ganze nordöstliche Teil der zur Schweiz gehörenden Alpenkette, von Genf bis etwa eine Meile vor dem Stelviopaß, vorerst neutrales Gebiet ist, bis die eine oder andere der kriegführenden Parteien es für passend hält, die Neutralität zu verletzen. Da die Schweizer heutzutage eine ziemlich starke Streitmacht für Verteidigungszwecke besitzen, ist es nicht wahrscheinlich, daß dies gleich zu Beginn des Krieges geschehen würde. Wir werden daher die Schweiz vorerst als wirklich neutral und für jede Partei unzugänglich betrachten. In diesem Fall haben die Franzosen vier Wege, um nach Piemont zu gelangen. Die Armee von Lyon wird durch Savoyen und über den Mont Cenis gehen müssen. Ein kleineres Korps kann über Briançon und den Mont Genèvre vorrücken. Beide werden, aus den Bergen kommend, sich bei Turin vereinen. Die Armee, die in der Provence konzentriert ist, kann zu einem Teil von Toulon über Nizza und Col di Tenda marschieren, der andere Teil kann in Toulon eingeschifft und mit Dampfern in viel kürzerer Zeit nach Genua befördert werden. Beide Teile haben ihren Konzentrationspunkt in Alessandria. Es führen noch einige Straßen zu den gleichen Konzentrationspunkten, aber sie sind entweder für das Passieren großer Truppeneinheiten ungeeignet oder nicht so vorteilhaft wie die genannten.

Die Disposition der französischen Italienarmee - wir können sie jetzt wohl so zu bezeichnen wagen - ist schon in Übereinstimmung mit dieser Lage der Dinge getroffen worden. Die zwei Hauptkonzentrationspunkte sind Lyon und Toulon, zwischen den beiden ein kleineres Korps im Rhônetal, das bereit steht, über Briançon vorzurücken. Um rasch eine starke französische Armee im Po-Tal hinter Alessandria und Casale zu konzentrieren, ist es in der Tat notwendig, alle obengenannten Routen zu benutzen; das stärkste Korps kommt über Lyon und den Mont Cenis, das schwächste über Briançon und den Mont Genèvre, und der größtmögliche Teil der Armee der Provence wird auf dem Wasserwege nach Genua befördert; denn während ein Korps, das von der Var über den Col di Tenda marschiert, bis Alessandria mehr als zehn Tage benötigt, kann es auf dem Wasserwege von Toulon aus Genua in 24 Stunden und von dort Alessandria in drei Gewalt- oder vier Normalmärschen erreichen.

<213> Aber angenommen, wie es naheliegt, daß Österreich den Krieg erklärt, sobald ein französisches Bataillon nach Piemont kommt, welchen Weg kann seine Italienarmee einschlagen? Sie kann in der Lombardei bleiben und Gewehr bei Fuß die Konzentration von 200.000 Franzosen und 50.000 Piemontesen abwarten und sich dann auf ihre Operationsbasis am Mincio zurückziehen und dabei die ganze Lombardei aufgeben. Eine solche Verfahrensweise würde die österreichischen Truppen entmutigen und ihre Gegner durch einen unerwartet leicht errungenen Erfolg ermuntern. Sie kann auch die Attacke der Franzosen und Piemontesen in der freien Ebene der Lombardei abwarten. In diesem Fall würde sie von der Übermacht geschlagen werden, da sie nur 120.000 Mann der doppelten Anzahl gegenüberstellen kann und außerdem durch den italienischen Aufstand gehemmt wäre, der im ganzen Lande ausbrechen würde. Sie könnte sicherlich ihre Festungen erreichen, doch diese glänzende Operationsbasis wäre auf eine unfruchtbare Defensive reduziert, nachdem die Offensivkraft der Feldarmee verlorengegangen ist. Das große Vorhaben, wofür dieses System der Festungen geschaffen wurde, nämlich einer schwächeren Armee als Basis für einen erfolgreichen und geschützten Angriff gegen eine stärkere zu dienen, wäre gänzlich zunichte gemacht, falls nicht Unterstützung aus dem Inneren Österreichs käme. In der Zwischenzeit könnten Peschiera und Legnago fallen, und die Kommunikationen durch das venetianische Territorium würden sicherlich verlorengehen. Jedes der hier erwogenen Verfahren wäre unvorteilhaft und in der Tat unzulässig, wenn es nicht durch eine zwingende Notwendigkeit diktiert wird. Doch es bleibt noch eine andere Möglichkeit.

Die Österreicher können mindestens 120.000 Mann ins Feld werfen. Wenn sie den richtigen Augenblick wählen, stehen sie nur 90.000 Piemontesen gegenüber, von denen lediglich 50.000 am Kampf teilnehmen können. Die Franzosen kommen auf vier Wegen an, die alle nach Alessandria führen. Die Winkel zwischen diesen vier Routen, also zwischen den Linien Mont Cenis - Alessandria und Genua - Alessandria, ergeben zusammen etwa 140°; somit kommt ein Zusammenwirken der verschiedenen französischen Korps vor ihrer Konzentration überhaupt nicht in Frage. Wenn nun die Österreicher einen günstigen Zeitpunkt wählen - wir haben 1848 und 1849 gesehen, daß sie es können - und auf die piemontesische Operationsbasis marschieren, diese entweder von vorn angreifen oder im Norden umgehen, wagen wir bei allem Respekt vor der Tapferkeit der piemontesischen Armee zu behaupten, daß die Sardinier nur eine geringe Chance gegenüber der Überzahl der Österreicher haben würden. Sobald die Piemontesen aus dem Feld geschlagen und auf eine passive Verteidigung ihrer Festungen beschränkt wären, könnten die Österreicher jedes <214> französische Korps einzeln, so wie es von den Alpen oder Apenninen kommt, mit überlegener Stärke angreifen. Selbst wenn sie zum Rückzug gezwungen werden, wäre dieser gesichert, solange die Neutralität der Schweiz ihre nördliche Flanke deckt, und die Armee würde bei ihrer Ankunft in Mantua noch zu einer aktiven offensiven Verteidigung ihrer Operationsbasis imstande sein.

Eine andere Chance für die Österreicher wäre, bei Tortona Position zu beziehen und die französische Kolonne zu erwarten, die auf ihrem Marsch von Genua nach Alessandria dort den Österreichern ihre Flanke darbieten muß. Dies würde jedoch nur eine lahme Offensive sein, denn die Franzosen könnten ruhig in Genua bleiben, bis die anderen Kolonnen in Alessandria konzentriert wären; in diesem Falle wären die Österreicher nicht nur völlig überlistet, sondern liefen sogar Gefahr, von Mincio und Etsch abgeschnitten zu werden.

Nehmen wir an, die Österreicher wären geschlagen und müßten sich auf ihre Operationsbasis zurückziehen; die Franzosen würden dann, sobald sie über Mailand hinaus vordringen, Gefahr laufen, umgangen zu werden. Die Stelviostraße führt von Tirol durch das Tal der Adda geradewegs nach Mailand. Die Tonalestraße durch das Tal des Oglio und die Judikarienstraße durch das Tal des Chiese führen beide in das Herz der Lombardei und in den Rücken jeder Armee, die den Mincio vom Westen her angreift. Über Tirol umgeht Österreich ganz Lombardo-Venetien, und wenn die nötigen Vorbereitungen getroffen sind, kann es seinem Feind in der Ebene der Lombardei jederzeit ein Marengo bereiten. Solange die Schweiz neutral bleibt, kann andererseits gegen Österreich, während es Piemont angreift, eine derartige Kriegslist nicht angewendet werden.

Beim gegenwärtigen Stand der Dinge in Italien wäre also die Offensive für Österreich das geeignetste. Direkt in eine Armee hineinmarschieren, während diese sich noch konzentriert, ist eines der großartigsten von jenen großen Manövern der modernen Kriegskunst, die Napoleon so vortrefflich auszuführen verstand. Niemand hat dies besser zu spüren bekommen als gerade die Österreicher; dafür zeugen Montenotte, Millesimo, Mondovi und Dego, Abensberg und Eggmühl. Daß die Österreicher von Napoleon gelernt haben, bewiesen sie großartig bei Sommacampagna und Custozza und vor allem bei Novara. Das gleiche Manöver scheint daher auch gegenwärtig das vorteilhafteste für die österreichische Kriegführung zu sein. Obgleich es große Wachsamkeit und das Abpassen des richtigen Zeitpunktes erfordert, würden sich die Österreicher unermeßliche Erfolgsaussichten entgehen lassen, wenn sie sich auf eine bloße Verteidigung ihrer Territorien beschränken.