Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 172-176.

1. Korrektur
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx/Friedrich Engels

Die Geldpanik in Europa

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5548 vom 1. Februar 1859]

<172> Paris, 13. Januar 1859

Die Panik an den europäischen Börsen hat noch nicht nachgelassen, und nach sehr vorsichtiger Schätzung sind die staatlichen Wertpapiere um etwa 300.000.000 Dollar gefallen. Während die französischen, sardinischen und österreichischen Staatspapiere um 5 Prozent gesunken sind, fielen die Eisenbahnaktien der gleichen Länder um 15 bis 35 Prozent, die lombardisch-venetianischen dagegen um fast 50 Prozent. London ausgenommen rechnet jetzt jede europäische Börse mit Krieg. Ich habe keine Ursache, meine früher geäußerten Ansichten zu diesem Thema zu ändern. Ich bin überzeugt, daß Louis-Napoleon nicht beabsichtigt, wirklich Krieg zu führen, daß er nicht mehr anstrebt als einen diplomatischen Sieg über Österreich, verbunden mit einem guten Fang für sich und seinen Anhang von Abenteurern an der Pariser Börse. Der laute Ton der bonapartistischen Presse und jener käuflichen Sammlerin des Klatsches, der " Indépendance Belge", die Prahlerei, mit der militärische Vorbereitungen angekündigt werden, beweisen zur Genüge, daß das ins Auge gefaßte Ziel nicht Kampf, sondern Einschüchterung ist. Es wird jetzt sogar vom Korrespondenten der Londoner "Times" zugegeben, daß man den vollkommen verschuldeten Speichelleckern am Hofe wieder gestattet hat - und dies in einem ungeheuerlicheren Ausmaße als je zuvor - die "respektablen" Spekulanten und die kleinen Aktienbesitzer in ganz Frankreich zu rupfen, indem sie in einem noch nicht dagewesenen Maße auf Baisse spekulierten. Man sagt, daß allein Graf de Morny bei diesem Spiel bis zum 5. Januar nicht weniger als 2.000.000 Francs gewonnen hat, und der Gesamtbetrag des aus den Taschen der Bourgeoisie in die der bonapartisti- <173> schen Abenteurer verpflanzten Geldes muß sich auf ein Vielfaches dieser Summe belaufen.

Es gibt drei Beweggründe, die Louis-Napoleon drängen, sich um italienische Sympathien zu bemühen und Österreich gegenüber eine drohende Haltung einzunehmen. Da ist zuerst Rußland, das ihn seit dem Pariser Frieden ständig wie eine Marionette benutzt hat. Der zweite Grund ist wenig bekannt, da Napoleon und sein Hof ihr Bestes tun, ihn vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen, obwohl seine Existenz eine erwiesene Tatsache ist. Seit dem Attentatsversuch Orsinis, sowohl vor als auch nach dessen Hinrichtung, hat der französische Kaiser Botschaften von der höchsten Venta der italienischen Karbonari erhalten. Dieser Geheimgesellschaft hatte er 1831 als Mitglied angehört. Er wurde daran erinnert, welche Eide er beim Eintritt in diese Verbindung geschworen, wie er sie gebrochen hat und wie die Gesetze der Gesellschaft einen Verräter wie ihn bestrafen. Als Orsini noch im Gefängnis saß, wurde Louis-Napoleon gewarnt, daß diese Attentate auf sein Leben bis zum Erfolg wiederholt würden, wenn er ihn hinrichten ließe. Nach der Hinrichtung Orsinis wurde Louis-Napoleon ein von der Venta über ihn verhängtes offizielles Todesurteil zugestellt. Das abergläubische Gerücht des erfolgreichen Abenteurers wurde durch dieses Urteil eines geheimen Tribunals schrecklich berührt. Seine Nerven, durch zwanzig Jahre nächtliches Training am Spieltisch nicht eisern, sondern zäh und hart wie Leder geworden, waren der ständigen Vision des Damoklesschwerts nicht gewachsen. Diese geheimnisvolle Intervention einer Macht, welche fürwahr unsichtbar, ihm aber durch seine Erfahrungen aus früheren Jahren und auch späterhin durch die Pistole Pianoris und die Bomben Orsinis bekannt, war besonders geeignet, den Verstand eines Mannes durcheinanderzubringen, für den es außer der gewöhnlichen, dem eigenen Nutzen dienenden Tagespolitik keine Kausalität in der Geschichte gab, sondern nur ein geheimnisvolles Wirken irgendeines fatalistischen Einflusses, das jeder vernunftgemäßen Untersuchung spottet und oft einen ausgesprochenen Scharlatan zu höchster Macht erhebt. Diese ständige Furcht vor Ermordung hat erheblich zu der Serie handgreiflicher grober Schnitzer beigetragen, welche die letzten zwölf Monate seiner Herrschaft kennzeichnen. Um seinem Schicksal zu entrinnen - denn er glaubt an die Allmacht der italienischen Attentäter ebenso fest wie an die Worte der Zigeunerinnen beim Rennen zu Epsom -, mußte der unsichtbaren Macht ein Unterpfand gegeben werden. So wurden die Briefe Orsinis in gefälschter Fassung veröffentlicht, um sie als ein heiliges Vermächtnis für Louis Napoleon, die Hoffnungen der Italiener zu verwirklichen, hinstellen zu können. Doch die Karbonari waren nicht so leicht zufriedenzustellen; sie haben <174> den Verurteilten immer wieder daran erinnert, daß er noch dem Todesurteil untersteht und daß er etwas tun muß, um begnadigt zu werden.

Schließlich ist auch die Lage Louis-Napoleons in Frankreich selbst in letzter Zeit immer schwieriger geworden. Die große Frage, woher das Geld kommen soll, steht ihm mit jedem Tag drohender vor Augen. Es besteht keine Aussicht auf eine Anleihe, denn die Staatsschuld ist so schnell angewachsen, daß davon keine Rede sein kann. Crédit mobilier und Crédit foncier, das Erheben von Millionen unter dem Vorwand, dieses Geld für Ent- und Bewässerung, Aufforstung und Deichbauten zu verwenden, all dies war schon einmal da und konnte nicht wiederholt werden. Die Schwierigkeit der Lage erfordert aber mehr Geld. Seine eigene Verschwendung und vor allem die täglich wachsenden Bedürfnisse der gierigen Bande von Soldaten, Beamten und Abenteurern, deren Treue er täglich neu erkaufen muß, machen die Geldfrage für ihn zu einer Frage von Leben oder Tod, und vom rein pekuniären Standpunkt scheint in höchster Not ein Krieg mit der Aussicht auf Zwangsanleihen, auf Beute und auf Kriegskontributionen aus eroberten Gebieten der einzige Ausweg zu sein, der ihm verblieben ist. Es ist jedoch nicht nur die finanzielle Frage; es ist die allgemeine Unsicherheit seiner Stellung in Frankreich; es ist das Bewußtsein, daß er, obwohl Kaiser durch die Gnade der Armee, gewisse Grenzen im Kampf gegen die öffentliche Meinung - sowohl der Bourgeoisie als auch der Arbeiterklasse - nicht überschreiten darf; daß er, weil er Kaiser durch die Gnade der Armee ist, ihrem Willen gehorchen muß. Durch all dies war ihm und der übrigen Welt längst klar geworden, daß sein letzter Trumpf in äußerster Gefahr ein Krieg ist, und zwar ein Krieg zur Wiedereroberung des linken Rheinufers. Es ist nicht unbedingt notwendig, daß ein solcher Krieg am Rhein selbst beginnen muß. Im Gegenteil, das genannte Gebiet kann in Italien erobert werden, bzw. seine Eroberung kann in Italien beginnen, ebenso wie die erste Eroberung dieser Provinzen durch General Bonapartes Siege in der Lombardei ermöglicht wurde.

Solch ein Krieg ist unvermeidlich Louis-Napoleons letzte Karte. Er setzt alles darauf und weiß als erfahrener Spieler sehr wohl, wie schlecht die Chancen für ihn stehen. Er weiß, so still und geheimnisvoll er auch zu erscheinen versucht, daß es der ganzen Welt bekannt ist und vom ersten Tage seiner Machtergreifung an bekannt war, was seine letzte Karte ist. Er weiß, daß er mit seinem sphinxhaften Auftreten niemand mehr über diesen Punkt täuschen kann. Er weiß, daß keine europäische Macht eine solche Ausdehnung des französischen Territoriums dulden würde und daß die Freundschaft Rußlands beinahe ebenso zuverlässig ist wie sein eigener Eid. Für einen Mann wie <175> ihn, der der Devise Ludwigs XV. "Après moi le déluge" <"Nach mir die Sindflut"> eine solche Entfaltung gegeben hat und der weiß, wie diese Sündflut aussehen wird, ist jede Stunde ein positiver und unschätzbarer Gewinn, weil es ihm dadurch möglich wird, die Spieler, die ihn umgeben, zu hemmen, hinzuhalten und zu betrügen.

Gleichzeitig liegt das Spiel aber nicht in seinen Händen; es gibt Notwendigkeiten, die ihn zwingen können, seinen großen Trumpf lange vor der von ihm gewünschten Zeit auszuspielen. In Frankreich geht schon mindestens drei Monate lang eine Rüstung kolossalen Ausmaßes vor sich. Nachdem man eine beträchtliche Zahl alter Soldaten auf Urlaub entlassen hatte, wurden alle Rekruten des Jahres 1858 einberufen, und zwar 100.000 statt 60.000 wie in anderen Friedensjahren. Die in allen Arsenalen und militärischen Werkstätten entwickelte Aktivität war derartig, daß alle hohen Offiziere schon seit drei Monaten von der Vorbereitung eines ernsthaften Feldzuges überzeugt sind. Wir erfahren jetzt, daß 75 Batterien, das sind 450 Kanonen der neuen Konstruktion Louis-Napoleons (leichte Zwölfpfünder), in den staatlichen Gießereien in Auftrag gegeben wurden; daß neue verbesserte Gewehrgeschosse (erfunden von Herrn Nessler, dem offiziellen Nachfolger von Minié) eingeführt wurden; daß die Jägerbataillone von 400 auf 700 Mann und die Linienregimenter von 900 oder 1.000 auf 1.300 Mann verstärkt wurden durch 60.000 Mann aus den Depots (wo die Rekruten sich formiert hatten), daß in Toulon die Materialien für einen Feldzug angehäuft und zwei Lager, deren Plätze noch nicht bekannt sind, festgelegt wurden. Man kann die Plätze für diese zwei Lager leicht erraten. Das eine wird bei Lyon oder im Süden bei Toulon liegen und das andere bei Metz als Beobachtungsarmee gegen Preußen und den Deutschen Bund. Dies alles hat natürlich den Kriegsgeist der Armee aufs äußerste erregt, und man rechnet so bestimmt mit einem Krieg, daß die Offiziere keine Zivilkleidung mehr bestellen, da sie überzeugt sind, daß sie für geraume Zeit nur Gelegenheit haben werden, Uniform zu tragen.

Während dies in Frankreich vor sich geht, haben wir in Piemont einen König, der vor Weihnachten seinen Generalen die Mitteilung machte, sich bereit zu halten, da sie vielleicht noch vor dem Frühling Pulver zu riechen bekämen und der nun seine Kammern mit einer Rede eröffnet, so voll allgemeinen italienischen patriotischen Wortschwalls und voll Anspielungen auf Österreichs Mißherrschaft, daß er entweder zum Krieg entschlossen sein oder sich gefallen lassen muß, von der ganzen Welt für einen vollkommenen Narren erklärt zu werden. In der Lombardei, in Rom, in den Herzogtümern <176> besteht eine Erregung, die nur mit der vor dem Ausbruch von 1848 zu vergleichen ist; die Bevölkerung scheint die fremden Truppen herauszufordern und nur darauf bedacht zu sein, ihre völlige Verachtung gegen die bestehende Obrigkeit zu zeigen und ihre sichere Überzeugung zu bekunden, daß die Österreicher in ein paar Monaten Italien verlassen müssen. Auf all dies antwortet Österreich, indem es sehr ruhig seine Armee in der Lombardei verstärkt. Sie bestand aus drei Armeekorps, dem 5., 7. und 8., zusammen ungefähr 100.000 Mann. Nun ist, wie ich in meinem letzten Artikel berichtete, das 3. auf dem Wege, sich dieser Armee anzuschließen. Sechs Infanterieregimenter (30 Bataillone), vier Bataillone Tiroler Jäger, zwei Kavallerieregimenter, sechs Batterien und der ganze Stab und Geniezug des 3. Armeekorps sind auf dem Wege oder sollen schon in der Lombardei eingetroffen sein. Das erhöht die Streitmacht auf 130.000 oder 140.000 Mann, die in der Stellung zwischen Etsch und Mincio imstande sein werden, mindestens einer doppelten Anzahl Gegner zu widerstehen.

So sammelt sich überall der Zündstoff an. Ist Louis-Napoleon der Mann, dies alles unter seiner Kontrolle zu halten? Er ist es nicht; das meiste davon liegt völlig außerhalb seiner Macht. Gesetzt den Fall, es gibt einen Ausbruch in der Lombardei, in Rom oder in einem der Herzogtümer, oder General Garibaldi unternimmt einen Einfall in den unmittelbar angrenzenden Teil des Nachbargebietes und rüttelt die Bevölkerung auf - wird Piemont, wird Louis-Napoleon dem widerstehen können? Ist es möglich, der französischen Armee, nachdem ihr die Eroberung Italiens, wo sie als Befreier empfangen werden würde, fast versprochen war, nunmehr zu befehlen, mit gesenkten Waffen stillzustehen, während österreichische Truppen die heiße Glut des italienischen Aufstandes austreten? Das ist der springende Punkt. Der Lauf der Ereignisse in Italien liegt schon außerhalb der Kontrolle Louis-Napoleons, und der Lauf der Ereignisse in Frankreich kann sich auch jeden Augenblick seiner Kontrolle entziehen.